Umleitungen bei blockierter Strecke gibt es in der Kanalschifffahrt nicht. Störungen lehren zu warten.
Sonntag, kurz vor zehn Uhr. Solche Dinge beginnen immer ganz harmlos. Wir sind damit beschäftigt, unser Schiff, die Solveig VII, im Yachthafen von Beilngries am Main-Donau-Kanal für die Abfahrt vorzubereiten. Der Mast ist gelegt, das Stromkabel demontiert und die beiden Funkgeräte stehen auf Empfang. In wenigen Minuten wird an der nahen Schifflände das Personenschiff, die Walhalla, Richtung Berchingen ablegen. Eben fährt ein bulgarischer Frachter mit dem seltsamen Namen Rubiships VII-Largo in gleicher Richtung am Hafen vorbei. Mit diesen beiden Schiffen, so die Überlegung, werden wir ohne Verzögerung die nächste Schleuse passieren.
Gesperrte Schleuse wegen Betriebsstörung
Da meldet sich über Funk von der Revierzentrale des Main-Donau-Kanals jene uns längst vertraute synthetische Frauenstimme, welche die Wörter so seltsam betont: „An alle, hier ist die Revierzentrale. Die Schleuse Hilpoltstein bei Kilometer 98.99 ist wegen einer Betriebsstörung bis auf weiteres gesperrt.“
Wir machen uns keine Sorgen, denn die erwähnte Schleuse ist noch dreissig Kilometer und zwei Schleusen entfernt. Auch die Largo scheint unbeeindruckt, wohl vor allem deswegen, wie wir später herausfinden, weil von der fünfköpfigen Besatzung niemand Deutsch versteht. Und die Walhalla wird ohnehin in Berchingen wenden.
So fahren wir frohgemut vom Hafen in den Kanal hinaus, sehen einen guten Kilometer vor uns den bulgarischen Frachter langsam hinter einer Kurve verschwinden und hinter uns die Walhalla vom Steg von Beilngries ablegen. Nach einer halben Stunde, die beiden Berufsschiffer hatten bereits Kontakt mit der Schleuse Berchingen aufgenommen, melden wir uns dort ebenfalls und bitten darum, zusammen mit den beiden andern Schiffen in die nächste, rund 18 Meter höhere „Etage“ geschleust zu werden.
Die Stimme des verantwortlichen Schleusenmanns tönt freundlich. (Alle Schleusen werden von einer Zentrale aus ferngesteuert, so dass wir die Personen hinter den Stimmen nie zu Gesicht bekommen.) Wir werden gebeten, den andern Schiffen den Vortritt zu lassen und dann am besten seitlich an der Walhalla festzumachen. Über den Schiff-zu-Schiff Funkkanal melden wir uns bei der Walhalla und besprechen das geplante Manöver.
Alles verläuft wie erwartet. Während wir Seite an Seite zusammen mit der Walhalla aus dem 18 Meter tiefen Schlund der Sonne entgegen steigen, plaudern wir mit deren Kapitän. Er sei früher Hotelschiffe gefahren, jetzt sei er sesshaft und zufrieden mit seinem lokalen Job. Es bleibt sogar noch Zeit, im Bordrestaurant der Wallhalla zwei Glacés für die Besatzung der Solveig zu erstehen, dann öffnet sich das obere Schleusentor. In Berching dreht die Walhalla zum Steg ab. Wir fahren hinter den Bulgaren weiter zur Schleuse Bachhausen, der letzten vor der Passhöhe, welche uns in den fünfzehn Kilometer langen Scheitelkanal des Main-Donau-Kanals heben wird.
Verordnetes Warten
Wieder das gleiche Prozedere: Anmeldung an der Schleuse, strikte Anweisung an die Solveig, ja nicht vor dem Frachter einzufahren. Dann folgt die Mitteilung, er (der Schleusenwärter) könne uns nach der Schleuse nicht weiterfahren lassen, denn die nächste Schleuse Hilpoltstein sei gesperrt und die Anlegestellen vor dieser Schleuse bereits durch wartende Schiffe besetzt.
Ob wir trotzdem hinauf wollten, fragt er uns. Ja, wir wollen, antworten wir, ob es denn nicht noch jenes kleine Plätzchen am Ende der Anlege von Hilpoltstein gäbe, wo wir vor einer guten Woche übernachtet hätten, fragen wir zurück. Leider nein, ein Hotelschiff und ein Frachter würden den verfügbaren Platz schon mehr als belegen, wir müssten im Oberwasser der Schleuse Bachhausen warten. Irgendwie schafft es der Schleusenwärter, diese Botschaft auch den Bulgaren klarzumachen.
Sonntag, 18.15 Uhr. Über Funk meldet sich die synthetische Stimme mit der unveränderten Information, die Schleuse sei „bis auf weiteres gesperrt“. Der Kapitän hatte seinen vier Burschen Ausgang gegeben. Drei Stunden später kommen sie zurück. Sie seien im fünf Kilometer entfernten Berching gewesen, einem malerischen Städtchen mit noch intakter Stadtmauer. Einer der Burschen spricht Englisch. Dank ihm kann ich mich mit dem Kapitän absprechen. Wir beschliessen, heute auf jeden Fall nicht mehr weiterzufahren, auch wenn die Schleuse noch heute Abend wiedereröffnet würde. – Eine unnötige Absprache für eine illusorische Möglichkeit, wie sich herausstellen sollte.
Niemand scheint sich aufzuregen. Tatsächlich hätte es uns an einen schlimmeren Ort verschlagen können. Wir liegen im Grünen auf einer Art Hochplateau, hundert Meter vom oberen Tor der 25 Meter hohen Schleuse entfernt, und schauen weit übers Land. Kein Haus und kein Dorf in der Nähe, nur Wasservögel und Fische, welche von Zeit zu Zeit nach einem Sprung mit viel Geplätscher ins Wasser zurückfallen. In der Abendsonne sehen wir den Gänsen zu, welche mit lautem Geschrei eine Art Übungsflug für die weite Herbstreise durchführen.
Nichtstun, keine Arbeiten am Schiff
Seit Stunden hat kein Schiff Schlamm vom Kanalgrund aufgewirbelt. Das Wasser ist sauber und klar. Von der Plattform am hinteren Ende der Solveig steige ich ins Wasser und hoffe, dass mich kein gestrenger Schleusenwärter in der Videoüberwachung sieht. Schwimmen im Bereich der Schleuse wäre strengstens verboten. Aber die Regeln scheinen ausser Kraft zu sein.
Montag, 7.15 Uhr. Nachts ist eine Gewitterfront übers Land gezogen und hat Regen und eine Abkühlung gebracht. Trotzdem schliefen wir wie in Abrahams Schoss. Ich schalte das Funkgerät ein. Die Botschaft hat sich nicht verändert. Danach nehme ich über Funk persönlichen Kontakt auf. Es dauere schon noch bis zum späten Nachmittag, sagt man mir. Kein Problem, wir könnten das Schiff ruhig verlassen.
Wir informieren die Bulgaren. Sie kämen von Constanta und hätten Bioweizen für Nürnberg geladen, berichten sie, und ergänzen etwas verlegen, sie hätten vor der Reise während zwei Wochen am Schiff gearbeitet, daher gäbe es nun nichts mehr von jenen Dingen zu tun, welche sonst während Wartezeiten erledigt werden. Sie hätten einen guten Kapitän, der sie nicht schinde, sagt mir der Englischdolmetscher mit einem Augenzwinkern. Nach einer mehrwöchigen Reise über weit mehr als zweitausend Kilometer sitzen sie nun keine vierzig Kilometer vor dem Ziel fest.
Die Belegschaft der Solveig hält eine Lagebesprechung: Haben wir genügend Wasser, genug zum Essen und Trinken? Wie lange halten die Batterien durch, welche unseren Kühlschrank speisen, abends Licht spenden, die Batterien von Computer und Handies aufladen? – Alles im grünen Bereich, nur das Brot könnte knapp werden.
Zusammen mit unserer mehr als 13-jährigen Hündin Zora wandern wir die fünf Kilometer nach Berching, kaufen Brot, trinken Kaffee und essen Kuchen auf der Hauptstrasse und kommen uns wie das Landvolk beim Stadtbesuch vor. Kurz nach Mittag sind wir zurück und geniessen die Stille und das erzwungene Nichtstun. Der Kapitän der Solveig hält sich an das Vorbild des Bulgaren: Es werden keine Arbeiten am Schiff verordnet.
Dienstag, 6 Uhr. Der Wecker erklingt rechtzeitig für das Abhören der „Revier-Nachrichten“. Der Text ist unverändert („bis auf weiteres“). Ich nehme Funkkontakt auf. Gegen Mittag könnte es soweit sein, die Elektriker würden nun alles wieder zusammenbauen (offenbar war etwas an der Steuerung defekt), dann gäbe es noch einen Probelauf. Ich könne ruhig den Hundespaziergang antreten. Zur Sicherheit deponiere ich meine Handy-Nummer.
Dienstag, 10 Uhr. Zurück vom Spaziergang haben wir uns eben einen Kaffee gekocht, da hören wir über Funk: „Das Sportboot im Oberwasser der Schleuse Bachhausen, bitte melden.“ Wir könnten nun die fünfzehn Kilometer zur Schleuse Hilpoltstein fahren, es hätte Platz für uns gegeben. Wir lassen uns Zeit, trinken den Kaffee zu Ende und informieren wieder die Bulgaren; sie müssten hier noch warten, für ihr hundert Meter langes Schiff gäbe es noch keinen Platz.
Wunder nach fünfzig Stunden
Natürlich fragen wir uns, wieso nun plötzlich Platz sei, ob wohl das Hotelschiff schon runtergeschleust worden sei. Die Antwort auf die Frage kommt uns auf halbem Weg entgegen: Die Viking Magni (Heimathafen Basel) fährt rückwärts die Strecke von Hipoltstein bis zum Wendebecken bei der Schleuse Bachhausen. Beim Kreuzen sehen wir die Schiffsmannschaft wie verrückt am Arbeiten: Kabinen werden geputzt, Betten neu bezogen, Tische gedeckt. Offenbar haben die geplagten Manager entschieden, die Passagiere per Bus zu einem andern Schiff zu bringen und die Viking Magni für einen andern Einsatz auf die Donau zu schicken.
Dienstag, 12 Uhr. Wir liegen nun im Oberwasser der defekten Schleuse, zusammen mit dem deutschen Frachtschiff Aschaff und einer weiteren Motoryacht, der Majoni, welche von einem französischen Ehepaar gesteuert wird, beide über siebzig, wie wir. Sie seien hier seit Sonntag Vormittag. Wenn die Schleuse bis 14 Uhr nicht in Betrieb komme, müssten sie Richtung Donau zurück und ihr Schiff irgendwo in einem Hafen lassen, denn am Mittwoch müssten sie von Nürnberg aus für zwei Woche nach Paris fliegen.
Dienstag, 13 Uhr. Ein Wunder geschieht: Das obere Schleusentor öffnet sich. Der hoch aufragende Bug eines leeren Frachters schiebt sich langsam an den wartenden Schiffen vorbei in den Kanal. Die Aschaff und die beiden Sportboote dürfen für die Talfahrt einfahren. Wir haben das Privileg, nach der über fünfzigstündigen Panne zum ersten abwärtsfahrenden Konvoi zu gehören.
Alles mit der Ruhe
Unterhalb der fünf Schleusen bis Nürnberg stauen sich die wartenden Schiffe. In Roth allein liegen 5 Hotelschiffe, vier davon unter Schweizer Flagge. Auf dem Quai stehen Busse, die Manager reorganisieren ihre Truppen. Die Schleusenwärter leisten grosse Arbeit. Eben höre ich den einen zu einem sich meldenden Kapitän sagen: „Bleiben Sie bitte noch an ihrem Liegeplatz, sie sind die Nummer vier (gute vier Stunden Wartezeit), ich melde, wenn Sie vorrücken können. Wir werden das nun alles ganz ruhig nehmen.“ „Ich habe Verständnis, antwortet der Kapitän, und ich halte es wie Sie: alles mit der Ruhe.“ – Tatsächlich habe ich während dieser zwei Tage kein einziges böses Wort gehört.
Dienstag 19 Uhr. Wir sind im Yachthafen in Nürnberg. Die normale Welt hat uns wieder, und fast sind wir ein wenig traurig darüber. „Auf unbestimmte Zeit...“, gibt es das überhaupt noch in unserem Leben? Vielleicht noch in den Alpen, wenn ein Tal wegen Lawinen vom Rest der Welt abgeschlossen ist. Dieses Zauberwort täte uns allen von Zeit zu Zeit gut.