Die Mehrheit des thurgauischen Grossen Rates folgte der Parole, es dürfe aus Mostindien „kein zweiter Ballenberg werden“. Natürlich nicht. Es wäre eine Torheit. Der Kanton ist kein Freilichtmuseum und muss weiterhin gratis, ganzjährig und auch nachts zugänglich bleiben und darf keinesfalls von rund 1’000 Quadratkilometern auf 66 Hektaren verkleinert werden.
Doch das Parlament beschloss, den Ballenberg als Schreckbild vor Augen, nicht scherzhaft eine Selbstverständlichkeit, sondern ernsthaft sehr Bedenkliches.
Maximale Bodennutzung
Der Thurgau „soll leben, sich flexibel anpassen und sich dynamisch entwickeln können“. Mit diesem strategischen Programm, mehr Phrase als Vision, schlugen zwei SVP-Motionäre vor, der Denkmalschutz müsse auf weitgreifende Interventionen verzichten, dem verdichteten Bauen in kompakten Siedlungsräumen mehr Freiheiten gewähren und sich mit der Raumplanung besser koordinieren.
Konkret: Schutzmassnahmen dürfen sich lediglich auf die äussere Bausubstanz beziehen, auf die innere ausnahmsweise, wenn sie einen herausragenden kulturhistorischen Wert besitzt, und auf die Umgebung bloss in besonders begründeten Fällen. Diese Begehren überwies das Parlament mit 80 zu 28 Stimmen. Der Regierungsrat macht sich nun an die gesetzlichen Änderungen. Bereitwillig, wie er bekundete.
Die Denkmalpflege wird Hausverbot erhalten und sich künftig zähneknirschend hüten, den vitalen, flexiblen und dynamischen Bauherren und Baumeistern in den Rücken zu fallen. Es gilt die höchst mögliche Rücksichtslosigkeit für die höchst mögliche Nutzung des knappen Bodens.
Ein Vorstoss aus Vergeltung
Das Parlament lieferte eine alles andere als magistrale Arbeit ab. Sie war geleitet von der Wut im Bauch, von kognitiver Unbekümmertheit und der Verwechslung von Ursache und Wirkung.
Wenn die Auffassung richtig ist, dass Kulturdenkmäler Identität stiften, sich die Gegenwart auch aus der Vergangenheit erklärt und uns bauliche Schönheit sinnlich anregt, dann ist die Erhaltung historischer Gebäude eine geradezu existenzielle Notwendigkeit. In ihrem Dienst steht die Denkmalpflege. Sie berät und ermahnt Bauherren professionell, dem kulturellen Erbe Sorge zu tragen und bei Sanierungen und Umbauten neben materiellen Interessen auch ideelle zu berücksichtigen.
Das geht nicht ohne Konflikte ab. Hier handelt die Denkmalpflege zuweilen unglücklich. Weil sie hochfahrend auftritt, sich um die Mehrkosten ihrer Auflagen foutiert und mit ihrer retrospektiven Prinzipienreiterei prospektiv plausible Umnutzungen ablehnt. Das treibt Bauherrschaften und Gemeindebehörden häufig berechtigterweise auf die Palmen. Die Versuchung des Grossen Rates für eine Retourkutsche war erheblich. Aber Vergeltung darf weder Anstoss noch Ziel der Gesetzgebung sein. Ganz abgesehen davon: eine kooperative Denkmalpflege mit Augenmass ist kein Rechts-, sondern ein Führungsproblem.
Ungewollte Drittwirkung
Um Schutzmassnahmen aufs Gebäudeäussere einzuengen, braucht es zwingend den Röhrenblick. Umgebung, Fassaden und Innenräume bilden eine architektonische Einheit, die denkmalpflegerisch auseinanderzureissen erstens sachlicher Unfug ist und zweitens – ungewollte Drittwirkung – den Eigentümern zum Nachteil gereicht.
Je grösser die Zahl der denkmalpflegerischen Knackpunkte, desto grösser der Spielraum für Kompromisse. Verzichtet der Eigentümer etwa auf eine innenräumliche Forderung, erreicht er damit Zugeständnisse für die Wahl der Materialien, ändert er beispielsweise die Umgebungsplanung, gewinnt er die Denkmalpflege für ein Einlenken bei der Haustechnik. Das Geben und Nehmen hat sich bewährt. Bleibt fürs Ringen um die beste Lösung gerade noch die Fassade, sitzt die Behörde am längeren Hebel als der Private.
Innovation statt Kettenbagger
Kommt das verdichtete Bauen schleppend voran, liegt die Ursache zuletzt bei den Denkmalschützern. Wohl wird die Verdichtung allgemein begrüsst, doch nach dem Floriansprinzip exklusiv für die andern und nie für die eigene Familie, die vom Einfamilienhaus mit Umschwung träumt. Daran ändert sich kein Jota, so lange Bauherren und Architekten die luftabschneidende Enge und den kaum noch sichtbaren Himmel als Verdichtung verkaufen. Verlangt sind raum- und zonenplanerische sowie architektonische Innovationen. Das wäre das Ei des Kolumbus und nicht die Demontage der Denkmalpflege.
Die jede Latte reissende Logik zu Ende gedacht hiesse, die Denkmalpflege gänzlich abzuschaffen und das Schicksal des gebauten Erbes in die Hände willkürlich agierender und kulturferner Modernisierer zu legen. Diese Konsequenz steckt als Zeitbombe im parlamentarischen Vorstoss, der im Staatskunde-Unterricht trefflich veranschaulichen würde, wohin eine Politik nach Gefühl und bar des Verstandes führt.
Aussen Schloss und innen Bürolandschaft, aussen Bauernhaus und innen Wellness-Oase, aussen Architektur-Ikone und innen rustikaler Kitsch: der Thurgau würde ohne Umweg über den Ballenberg zum Potemkinschen Dorf.
Es ist nun am Regierungsrat, bei der Gesetzesrevision jene Verantwortung und Sensibilität zu beweisen, die der mit Abbruchzange und Kettenbagger vorpreschende Grosse Rat vermissen liess.