Einen Tag nach Giacomo Puccinis – vom Unwetter unterbrochener – «Madame Butterfly» hat an den Bregenzer Festspielen im Festspielhaus Umberto Giordanos Oper «Sibirien» in der Inszenierung von Vasily Barkhatov Premiere gehabt. Mit Geschick verknüpft Barkhatov das Liebes- und Läuterungsdrama in einer russischen Strafkolonie an der Wende zum 20. Jahrhundert mit dem stalinistischen Gulag und seinen bis heute spürbaren Folgen.
Auch die Musikgeschichte kennt ihre folgenreichen Zufälle. Ein solcher ereignet sich am 23. Februar 1903, als Giacomo Puccini, gerade auf Besuch bei einem Arzt im heimatlichen Lucca, nach einem Abendessen zusammen mit Ehefrau, Sohn und Chauffeur nach zehn Uhr abends das geliebte Auto besteigt, um in seine Villa nach Torre del Lago zu fahren. Auf einer schmalen Brücke verfehlt der Wagen die Kurve und stürzt einen Hang hinunter. Puccini liegt unter dem Wagen, ein Baumstamm hat ihn vor dem Zerquetschwerden bewahrt. Aber die Beine sind schwer in Mitleidenschaft gezogen. Pech für ihn, gerade war er so gut dran mit dem Komponieren seiner Oper «Madame Butterfly». Pech für die Mailänder Scala, die damit die Saison 1903/04 hatte eröffnen wollen.
Ersatz muss her: Es ist ein Werk des Rivalen Umberto Giordano, zu dem mit Luigi Illica derselbe Mann das Libretto verfasst hatte wie zu «Madame Butterfly». Und so erlebt «Sibirien» am 19.Dezember 1903 eine mit starkem Applaus bedachte Uraufführung, während Puccinis «Madame Butterfly» am 17.Februar 1904 ausgepfiffen und ausgebuht wurde. Heute dagegen ist «Madame Butterfly» eine der populärsten Opern überhaupt, während «Sibirien» vergessen wurde. Nur in Russland kennt man es noch, und so kommen denn auch die beiden Hauptprotagonisten für jene Produktion von «Sibirien», welche die Bregenzer Festspiele einen Tag nach der «Butterfly»-Premiere im Festspielhaus angesetzt haben, aus Russland: Es sind der Regisseur Vasily Barkhatov und der Dirigent Valentin Uryupin.
Die Edelprostituierte und ihr Schatten
Unter ihren Händen zeigt sich, welche dramatische Kraft, musikalische Expressivität und menschliche Tiefe in diesem vergessenen Werk des italienischen Verismo stecken. Und: Wie viel Russisches im Italienischen steckt. Und schliesslich: Wie viel Gegenwart im Vergangenen.
Diese Vergegenwärtigung ist es auch, die Vasily Barkhatov mit einem raffinierten Kunstgriff zutage fördert. Er schickt eine alte Frau auf den Weg. 1992 fliegt sie von Rom nach St. Petersburg, sucht dort ein Archiv auf, in dem die Akten jener Millionen Menschen aufbewahrt werden, die zwischen 1920 und 1953 in den stalinistischen Straf- und Arbeitslagern des Gulag gelebt und gelitten haben – und massenhaft auch gestorben sind. Hier stösst sie auf die Geschichte ihrer Eltern, die sie dann nach Sibirien führt.
All das erfahren wir über immer wieder eingeblendete Filmsequenzen, doch bleibt diese Rahmenhandlung kein abgetrennter Teil der Inszenierung. Denn plötzlich findet sich die alte Frau in der Opernhandlung selber wieder. Betritt das Palais, in dem die Edelprostituierte Stephana vom Fürsten Alexis begehrt wird, während sie selber heimlich den Offizier Vassili liebt. Der auch prompt auftaucht, mit dem Fürsten in Streit gerät, und nach Sibirien wandert, ins Straflager. Doch Stephana, in Liebe entbrannt, folgt ihm, und trifft im Lager Gleby wieder, ihren Zuhälter und bösen Geist.
Leidenschaft, Zartgefühl, Melancholie
Das alles ist von Opernklischees nicht frei, und doch ist da zum einen die Sprache, die sich an einer realistischen Diktion orientiert. Und zum andern eine Musik, die so glühend, heftig, gegensätzlich und impulsiv ist, dass es einem gelegentlich den Atem verschlägt. Schon in seinem Melodramma «Mala vita» von 1892 hatte Giordano in seiner schonungslosen Darstellung aktueller Lebensumstände der Arbeiterschaft in Neapel seine Dramaturgie der harten Schnitte und schroffen Kontraste entwickelt. Hier, in «Sibirien» verbindet er es eindrucksvoll mit Zitaten aus der russischen Musik, die oft auch sehr stimmungsvoll vom Chor intoniert werden. Neben heftige Leidenschaft treten Zartgefühl und Melancholie.
Mit andern Worten: Es ist ein grosses Erlebnis, bei der Wiedererweckung von «Sibirien» dabei zu sein. Immer ist Bewegung auf einer Bühne, die Christoph Schmidt genial in mehrere Schauplätze und Zeitebenen zu teilen weiss und der die Fotografien endloser Landschaften eine ganz besondere Ausstrahlung verleihen. Der Prager Philharmonische Chor trägt zusammen mit den Wiener Symphonikern ganz wesentlich zur Intensität des Abends bei. Und dann sind da noch die Sänger: Ambur Braid als ungemein heftige Stephana, Scott Hendricks als ihr Schatten Gleby, dessen Spielfreude überwältigend ist, Alexander Mikhailov als stimmlich etwas abfallender Geliebter Vassili – und Clarry Bartha als alte Frau, die nachdenklich auf ein Jahrhundert schaut, das von beinahe grenzenloser Gewalt geprägt war. Dass diese Gewalt keineswegs spurlos an den Russen vorüber gegangen ist, das zeigt der Blick in die Ukraine.
Insofern müsste «Sibirien» jetzt eigentlich zurückkehren auf die Spielpläne. Als ein früh vorweggenommener Kommentar zur Gegenwart.
Weitere Vorstellungen: 24. Juli, 1. August