Sprache kann Tatbestände verhüllen – dann, wenn Schlagworte ohne Erklärung bleiben. Sie kann auch etwas über die Urheber aussagen – etwa über Reporter und politische Analysten – dann nämlich, wenn diese gedankenlos immer wieder dieselben Floskeln benutzen.
Auch Besatzung ist Gewalt
„Radikalislamische Hamas“ – „Militante Palästinenser“ – diese Worthülsen sind uns im letzten Krieg zwischen Israel und der Hamas nur so um die Ohren geflogen. Sie suggerieren, dass nur von einer Seite Gewalt ausgeübt wurde – nämlich von irgendwie stets „militanten“ Palästinensern. Weitgehend unerwähnt blieb eine andere Gewalt – nämlich die seit 1967 andauernde israelische Herrschaft über die Palästinenser im Westjordanland, in Gaza und in Ost-Jerusalem.
Denn Besatzung ist Gewalt – Gewalt über Menschen, über ihr tägliches Leben, über die Zukunft der jungen Generation. Wer etwa im Westjordanland lebt, kann nie sicher sein, wann und wo er an einem der zahlreichen israelischen Kontrollposten aufgehalten und kontrolliert wird. Dass solche Gewalt Gegengewalt erzeugt, sollte eigentlich niemanden mehr wundern.
Der Feind meines Feindes
Zur Geschichte und damit zur Erklärung: Als die Hamas (die Abkürzung bedeutet „Islamische Widerstandsbewegung“) im Jahr 1987 zu Beginn der ersten palästinensischen Intifada gegründet wurde, sah Israel in dieser neuen Gruppe eine Chance: nämlich einen palästinensischen Feind – die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) unter Jassir Arafat – gegen den neuen Feind – die Hamas – auszuspielen und somit den palästinensischen Widerstand zu schwächen.
Der britische Journalist Mehdi Hassan (er arbeitete u. a. für die BBC und für Al Jazeera) sagte kürzlich in einem Interview mit dem amerikanischen Internetportal „The Intercept“ (u. a. gegründet von Glenn Greenwald), besonders rechtsgerichtete Israelis hätten durch die Unterstützung der neuen Hamas die PLO Arafats schwächen wollen. „Israelische Führer dachten, sie könnten die besetzten Palästinenser teilen und (somit) beherrschen, sie gegeneinander ausspielen, säkulare Nationalisten gegen religiöse Islamisten.“ (Der Autor dieser Zeilen hat die palästinensischen Gebiete mehrfach bereist und kann die Aussage Mehdi Hassans bestätigen.)
Nachdem einer der Hauptgründer der Hamas, der halbblinde und gelähmte Scheich Ahmed Yassin, die Hamas ins Leben gerufen und ein Netzwerk von islamischen Schulen und sozialen Institutionen geknüpft hatte, erhielt er die Unterstützung der Israelis, die sogar einige Projekte, etwa neue Moscheen, mitfinanzierten. Bei der israelischen Schutzmacht, den USA, fiel diese Politik, gelinde gesagt, auf wenig Verständnis. Laut Mehdi Hassan habe David Long, unter Ronald Reagan Nahostexperte im amerikanischen Aussenministerium, gesagt: „Ich dachte, die Israelis spielten mit dem Feuer. Ich realisierte nicht, dass sie schlussendlich ein Monster schufen.“
Bindungen zu Syrien und Iran
Ein viel gefährlicheres Monster haben sich die USA in Afghanistan gezüchtet – die Taliban. Sie unterstützten die Islamisten im Kampf gegen die sowjetische Besatzung (1979 bis 1989) – in dem irrigen Glauben, diese muslimischen Extremisten seien nichts als ein Pendant zu den radikalen und besonders bibeltreuen Christen im Biblebelt der USA. Heute ziehen die USA gesenkten Hauptes aus Afghanistan ab – die siegreichen Taliban warten schon auf ihr Machtübernahme.
Das von Israel in Palästina gezüchtete Monster, die Hamas, hat immer wieder zugeschlagen – obwohl die Israelis viele der führenden Köpfe liquidiert, man könnte auch sagen ermordet, haben. Den blinden Scheich Ahmed Yassin (2004), den Kinderarzt und Mitbegründer der Hamas Abel Aisis Rantisi (2004) und auch den Bombenbauer Yahya Ayasch (1996). Der Hydra, wenn man so will, wuchsen immer neue Köpfe nach, bis auf den heutigen Tag.
Dass dies nicht ohne Unterstützung aus Syrien und dem Iran möglich war, liegt auf der Hand. Dennoch ist die Hamas keine international agierende Terrororganisation wie Alexander Lukaschenko, der Diktator von Belarus, kürzlich angedeutet hat, als er die Hamas im Zusammenhang mit der angeblichen Bombendrohung gegen die Ryanair-Maschine erwähnte.
Gewonnene Parlamentswahl 2006
Hamas hat im Jahr 2006 eine von allen Beobachtern als fair und frei beurteilte palästinensische Parlamentswahl gewonnen. Dass Israel, die USA und in ihrem Schlepptau auch Europa diese freie Wahl nicht anerkannt haben, widerspricht sowohl ihren eigenen Werten als auch ihren politischen Zielsetzungen, nämlich im Nahen Osten die Demokratie zu fördern. Ausserdem hat der Westen damals die Chance ausgelassen, die Hamas, wie einst die PLO Jassir Arafats – die Flugzeuge entführt, israelische Truppen bekämpft und im Südlibanon ein Terrorregime errichtet hatte – in die internationale Diplomatie einzubeziehen.
Mit ihrem Boykott des Wahlsiegers haben besonders die USA und Europa in der arabischen Welt an Ansehen verloren. Denn die Botschaft, welche die Araber empfangen haben, lautet: Demokratie ist „dem Westen“ nur angenehm, wenn die Wahlergebnisse in sein politisches Kalkül passen.
Wirtschaftliche und politische Motive
Hinter diesen fatalen Fehlern steht eine grobe politische Fehlkalkulation. Diese entstammt dem politischen Konzept der Regierung Bush junior und wurde, unter dem Druck der USA, von Europa übernommen. George W. Bush hat die Hamas in seinen ohnedies falsch konzipierten „Krieg gegen den Terror“ einbezogen. Er hat nicht begriffen, dass der Wahlsieg der Hamas nicht so sehr auf die islamische oder islamistische Ideologie der Organisation zurückgeht, sondern auch sehr weltliche, wirtschaftliche Gründe hat.
Die USA, Europa, aber auch die arabische Welt haben sich der ökonomischen und sozialen Misere der zwei Millionen fast wie in einem Gefängnis lebenden Palästinenser niemals wirklich angenommen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass die Hamas eine Widerstandsorganisation ist, welche sich gegen die Besetzung palästinensischen Gebietes wehrt, und kaum ein Teil des globalen Terror-Franchise-Netzwerkes Al-Kaida oder des „Islamischen Staates“.
Möglicher Dialog mit Hamas
„Ob wir es mögen oder nicht“, schrieb der Kolumnist Roger Cohen auf der Meinungsseite der „International Tribune“ schon am 21. Juni 2007, „Hamas repräsentiert einen grossen Teil der Palästinenser.“ Und Cohen fügte hinzu: „Hamas hat terroristische Elemente. Aber … es gibt Mitglieder der Hamas, mit denen ein Dialog möglich ist. Um Frieden zu schliessen, muss man den Feind an den Tisch bekommen.“ [i]
Dieser Feind – kaum jemand in den USA und Europa will dies sehen – zeigt seit geraumer Zeit Ansätze zur Kooperation. Westliche Politiker verweisen zwar bis heute auf die Hamas-Charta aus dem Gründungsjahr 1988, in welcher die Vernichtung Israels gefordert wird. Ausser Acht gelassen werden aber Dokumente, in welcher sich die Hamas den politischen Gegebenheiten angenähert hat. Es sind dies die Hamas-Wahlplattform vom Herbst 2005 sowie der Plan für eine Koalitionsregierung und das Regierungsprogramm nach dem Wahlsieg vom Januar 2006. Grundsätzlich heisst es in den Dokumenten, Hamas werde das Recht auf „öffentliche Freiheiten wie das Recht auf Freiheit der Sprache, der Presse, der Versammlungsfreiheit“ achten. [ii]
Über den Umgang mit den bisher von der PLO geschlossenen Verträgen sagt die Hamas: „Die Regierung wird mit den zwischen der PLO bzw. der Autonomiebehörde sowie Israel geschlossenen Vereinbarungen mit hoher Verantwortung und unter Bewahrung der Interessen unseres Volkes“ umgehen. … Die Regierung wird die internationalen Resolutionen zu Palästina mit nationaler Verantwortung und im Einklang mit den unveräusserlichen Rechten unseres Volkes behandeln.“
Abkehr vom Vernichtungsziel gegen Israel?
Reine Propaganda? Schnee von gestern? Nicht ganz. Die Berliner TAZ veröffentlichte am 2.Mai 2021 einen Beitrag, wonach sich die Hamas „offiziell zur Gründung eines Staates Palästina allein in den von Israel besetzten Gebieten bereit erklärt“. In der von der Hamas veröffentlichten Erklärung komme die Forderung nach Vernichtung Israels, wie sie in der Hamas-Charta gefordert wird, nicht mehr vor, schreibt die TAZ.
So folgt die Hamas keinem anderen als ihrem innerpalästinensischen Gegner, der in Ramallah regierenden Fatah-Gruppe unter Mahmoud Abbas. Im Dezember 1998 bekräftigte eine grosse Mehrheit des Palästinensischen Nationalrats im Beisein von Bill Clinton in Gaza die Streichung der israelfeindlichen Passagen aus der PLO-Charta. Andere Gruppen, u. a. die Hamas, wollten seinerzeit den Kampf gegen Israel fortsetzen. Nun scheint auch die Hamas aus dieser Anti-Israel Front ausscheren zu wollen – sofern man ihr die Möglichkeit gibt.
Selbstkritische Stimmen in Israel
Für eine Kehrtwendung in der Politik Israels haben sich schon vor geraumer Zeit sogar Israelis ausgesprochen, von denen man eine solche Haltung am wenigsten erwartet hätte – frühere Direktoren des Inlandgeheimdienstes Shin Bet. In dem Film „Töte zuerst“ des israelischen Dokumentarfilmers Dror Moreh nehmen sie zur Tötung von Scheich Yassin und Yahya Ayasch Stellung. All die Jahre des Krieges gegen palästinensische Terroristen hätten kaum Erfolge gezeitigt – so lautet der Tenor der Aussagen.
Avi Dichter, von 2000 bis 2005 Direktor des Shin Bet, gab zu Protokoll, gewaltsamen palästinensischen Widerstand mit der Ermordung ihrer Anführer zu beantworten, habe nur zu immer mehr Terror geführt. Avi Dichter fügte hinzu: „Wir wollen Sicherheit und bekommen Terror, sie wollen einen Staat und sehen immer mehr Siedlungen.“ Karmi Gillon, Shin Bet Chef von 1994 bis 1996, erklärte: „Israel kann sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.“
„Radikalislamische Hamas“, „Militante Palästinenser“ – diese gedankenlosen und daher leeren Worthülsen von Politikern und Journalisten sollten einem inhaltlich gehaltvolleren Diskurs Platz machen – ohne Gewalt, Terror und das Leiden der Menschen auf beiden Seiten zu verharmlosen.