Er führte uns hinaus in die Natur, lehrte uns staunen und brachte uns so auf neue Ge[h]danken. Unser Primarlehrer war gelber Wanderpionier und ein Grüner avant la lettre. Hommage an einen Pädagogen.
«Trau keinem Gedanken, den du nicht im Freien ergangen hast.» Der Gedanke stammt von Friedrich Nietzsche. Stundenlang ist der Philosoph gewandert. Viele seiner Ideen sind ihm beim Gehen gekommen, so am Silsersee im Engadin. Es waren Ge[h]danken – migrantes Denken sozusagen. Wie einst die Peripatetiker im alten Griechenland, die in ihren Wandelhallen auf- und ab spazierten, denkend, diskutierend, debattierend. Und Nietzsche fügte bei: «Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.»[i]
Die jungen Menschen zu Verstehenden machen
Ob unser Primarlehrer seine 40 Schüler gegen diese Sünde immunisieren wollte, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass er die Natur über alles liebte und uns immer wieder nach draussen führte. «Hinaus, hinaus ins Freie! – So werden eure Gedanken frei.» Mit diesem Satz lotste uns der passionierte Wanderer in die Natur – während vieler Stunden. Das Fach Natur- und Heimatkunde lebte er mit allen Fasern seines Herzens. Da war nichts Papierenes, da gab es keine Arbeitsblätter. Nein, da gab es unvergessliche Momente des Staunens und Verstehens. Heureka-Erlebnisse! Und wie unser Lehrer erzählen konnte! Gebannt hörten wir dem (Mundart-)Dichter und Theaterautor zu, gespannt hingen wir an seinen Lippen, begeistert waren wir bei der Sache. Im Klassenzimmer zeichneten und schrieben wir auf, was wir Neues vernommen hatten. Er kontrollierte und korrigierte, erklärte und vertiefte und machte uns so zu Verstehenden.
Zwei Optiken kannte unser 3./4.-Klassenlehrer: einen Vergrösserungsspiegel für die winzigen Dinge der Natur. So weckte er in uns die Ehrfurcht vor dem Kleinen und Unscheinbaren. Noch heute weiss ich, wie er uns zu diesen Naturphänomenen führte und uns am Beispiel der Haselstaude die Windblütler erklärte – und den Unterschied zu den Insektenblütlern. Nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern sichtbar machen wollte er – und uns so Hintergründiges im Vordergründigen erkennen und verstehen lassen. Und er besass natürlich ein Verkleinerungsglas. So machte er die grossen Dinge dieser Welt wieder überschaubar und uns Kleinen verständlich.
Wanderpionier und Radiomoderator
Sein Steckenpferd waren Wanderungen in der näheren und weiteren Welt. «Chum Bueb und lueg dis Ländli ah!», rief er uns jeweils zu, wenn er uns hinausführte. Wir waren ja auch lauter Knaben. Und so tönte es ab 1961 jeden Freitag auf Radio Beromünster.
Unser Lehrer Fridolin Stocker (1898–1964) (Foto: Willi Hüsler) war Initiant und Moderator der beliebten Radiowanderungen. Sein Lockruf wirkte. Hunderte, manchmal gegen 1500 Naturfreunde durchstreiften Sonntag für Sonntag unser Land. Die «Rotsocken», wie man die Wandervögel damals auch bezeichnete, folgten Fridolin Stockers Routenvorschlägen und den gelben Wegweisern.
Kein Wandern in Staubwolken und Abgasschwaden
Diese freundlich leuchtenden Schilder mit der schwarzen Schrift gehen ebenfalls auf die Initiative eines Primarlehrers zurück, auf Johann Jakob Ess aus Meilen. Die Idee kam ihm bei einer Schulreise über den Klausenpass vom Urner Schächental ins Glarnerland. Seine Kinder mussten auf der gefährlichen und schmutzigen Autostrasse wandern – inmitten von Staubwolken und Abgasschwaden. Benzindämpfe waren für ja für viele das Parfum des Fortschritts.
Ess wollte nun Wege für Wanderer markieren. Dazu gründete er Mitte der 30er Jahre einen nationalen Verband. Langsam entstand ein schweizweites Wanderwegnetz. Allerdings wurden die gelben Tafeln während des Zweiten Weltkrieges auf Befehl der Armee entfernt. Sie hätten allfälligen Besatzern die Orientierung erleichtert. Das war damals. Heute stehen zwischen Genf und Romanshorn, zwischen Basel und Campocologno im Puschlav rund 50’000 solcher Wander-Wegweiser. Sie signalisieren über 65’000 Wegkilometer.
Pädagogik hat nur einen Indikator: das Lernen der Kinder
Der «Wandervater» Fridolin Stocker machte das Wandern populär. Er publizierte Wanderbücher und kulturelle Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und das Radio. Dabei blieb er immer Lehrer. Für die Schule schrieb er Gedichte und Geschichten, Theaterstücke und Prosatexte. Der Unterrichtsalltag war seine Basis, die Erfahrung «vor Ort» verlieh ihm Flügel. Das spürten wir. Seine pädagogische Arbeit hatte nur einen wirklichen Indikator: das Lernen seiner Schüler. Etwas machte es ihm leicht: seine Begeisterungsfähigkeit. Sie ist vielleicht die entscheidende Gelingensbedingung der Praxis.
Dabei blieb sich Fridolin Stocker selbst treu: der Heimat und der Natur verbunden, wertkonservativ und mit seiner nonkonformistischen Haltung vielleicht sogar progressiv. Heute wäre er wohl ein Grüner. Rastlos war er tätig, unermüdlich unterwegs. Bis zuletzt. Stockers letzte offizielle Radiowanderung mit rund 1’000 Wanderfreunden führte ins Obwaldnerland – kurz vor seinem unerwarteten Tod. Ein Kalksteinfindling am Seeweg bei Sachseln (Foto: Carl Bossard) erinnert an den Wanderer Fridolin Stocker. Auf dem Zuger Gottschalkenberg verweist ein zweiter grosser Gedenkstein auf diesen engagierten Pädagogen und unermüdlichen Förderer des Wanderns.
«Nur die ergangenen Gedanken haben Wert»
Wie sehr unser Lehrer das Draussen liebte, zeigte sich auch in der Aufsatzstunde. Beim Schreiben und Texten ginge es wohl besser, wenn wir vorher etwas gingen!, meinte er augenzwinkernd. Und so führte er uns vor Aufsätzen jeweils hinaus vors Schulhaus. Hier gab er uns das Thema. Spazierend und sprechdenkend formulierten wir auf dem grossen Pausenplatz unsere Ge[h]danken.
Das Schreiben ging nachher wahrlich leichter. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hätte uns vielleicht zugeflüstert: «Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.» Denn er, der Peripatetiker, wusste: «Das geklemmte Eingeweide verrät sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verrät.»[ii] Aus dieser Enge wollte uns Fridolin Stocker hinausführen. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.
[i] Friedrich Nietzsche: Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, 2000, S. 47.
[ii] Friedrich Nietzsche: Die Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2012, S. 46.