Es gibt Menschen, die sich vor den eigenen Füssen ekeln, vor Holzstielen, Knöpfen, Löchern oder vor der Schreibmaschine (Max Frisch). Die meisten von uns haben auch die Erfahrung gemacht, dass gewisse Verhaltensweisen – Inzest, Kinderpornographie, Kannibalismus – moralischen Ekel erregen.
Moral ist viszeral
Gerade Moral sitzt oft in den Eingeweiden. Die Philosophin Martha Nussbaum schrieb 2010 ein vieldiskutiertes Pamphlet – „From Disgust to Humanitity“ –, worin sie darlegt, wie die politische und juristische Rhetorik gegenüber „Andersartigen“ oft vom Gefühl des Abscheus grundiert ist. Besonders Homosexualität wurde und wird in der Sprache der Fäkalien, Krankheitskeime und der Ansteckung beschrieben. Nussbaums Argumentation richtete sich vor allem auch gegen Leon Kass, den ehemaligen Leiter des Beraterstabs für Bioethik unter George W. Bush. Kass vertrat die umstrittene These von der „Weisheit der Abneigung“ („Wisdom of Repugnance“): „Abneigung ist der emotionale Ausdruck einer tiefen Weisheit, jenseits des rationalen Vermögens, sie in Sprache zu artikulieren.“
Eine solche These erweist sich natürlich als von höchst brisanter, man möchte sagen: fahrlässiger Zweideutigkeit. Sie eignet sich vorzüglich als patentes Vehikel zur Pflege von Aversion und Vorurteil, zur Diskrimierung und Ausgrenzung. Abneigung als „Weisheit“ zu bezeichnen, mutet schlicht zynisch an. Nichtsdestoweniger hat die These etwas für sich. Viele unserer moralischen Urteile sind „sprachlos“; wir fällen sie intuitiv und reflexartig, ohne sie zu begründen. Sie „geschehen“ einfach. In diesem Sinne sind sie viszeral wie unsere Ekelreaktion. Was selbstredend gerade nicht die viszerale moralische Reaktion rechtfertigt. Nussbaum macht zu Recht geltend, dass Ekel, ebenso wie etwa Rache, in unseren sozialen und juristischen Normen nichts zu suchen hat. Nur rotten wir mit Normen diese Gefühle nicht aus.
Gibt es geistigen Ekel?
Die Auseinandersetzung zwischen Nussbaum und Kass erinnert an Debatten zwischen Kulturalisten und Naturalisten. Es wäre unfruchtbar, sie gegeneinander auszuspielen. Vielmehr gilt es, den Ekel sowohl als Naturerbe wie als kulturellen Faktor ernstzunehmen. Und deshalb stellen wir die Frage: Gibt es geistigen Ekel? Kann man Ekel vor bestimmtem Gedankengut entwickeln? Wir können hiezu keinen Geringeren als Immanuel Kant in den philosophischen Zeugenstand rufen. Er war der Meinung, dass man nicht nur Materielles, sondern auch Immaterielles, also Gedanken geniessen kann. Wenn es aber Gedankengenuss gibt, dann auch Gedankenekel. In seiner Anthropologie schreibt Kant, „dass es auch einen Geistesgenuss giebt, der in der Mitteilung der Gedanken besteht, das Gemüth aber diesen, wenn er uns aufgedrungen wird und doch als Geistes-Nahrung für uns nicht gedeihlich ist, widerlich findet (...), so wird der Instinct der Natur, seiner los zu werden, der Analogie wegen gleichfalls Ekel genannt, obgleich er zum inneren Sinn gehört.“
Ekel und Lust
Geistiger Ekel wäre also quasi eine „Sublimierung“ ererbter Abwehrinstinkte und -reflexe. Und insofern kann man Martha Nussbaum zustimmen, wenn sie für die Zähmung dieses Gefühls im moralischen, juristischen und politischen Diskurs plädiert. Ob wir dadurch an Humanität gewinnen, wie der Titel ihres Buchs suggeriert, bleibt indes fraglich. Diesen Affekt aus Eingeweidetiefen entlassen wir nicht so einfach durch einen kulturellen Willensakt, quasi einen Imperativ: Du sollst dich nicht ekeln!
Kommt hinzu, dass Ekel und Lust nicht weit voneinander entfernt liegen, und gerade in ihren zerfliessenden Grenzen eine menschliche Elementarerfahrung ausmachen. Ein nackter Körper kann uns sowohl erregen wie abstossen; eine Speise, die den einen anekelt, feiert der andere als Delikatesse. Das unwiderstehlich Anziehende des Ekligen bringt schon Platon im „Staat“ zur Sprache. Es gibt dort eine Episode, in welcher der Jüngling Leontios vor der Stadtmauer von Piräus Leichen Hingerichteter erblickt und eine ziemlich makabre Erfahrung macht. „Er bekam (Lust) sie zu sehen, (fühlte) zugleich aber auch Abscheu und (wendete) sich weg, und (kämpfte) so eine Zeitlang und (verhüllte) sich, (lief) dann aber von der Begierde überwunden mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen und sagte: Da habt ihr es nun, ihr Unseligen, sättiget euch an dem schönen Anblick!“
Der philosophische Ekel
Den Ekel auf geistiger Ebene hat uns Nietzsche mit nachhallendem philosophischem Furor vordemonstriert. Ihn ekelt vor der weltfeindlichen Haltung des Christentums, vor dem Glauben an ein „anderes“ Leben. Dagegen mobilisiert er ausdrücklich einen „intellektuellen Ekel“: „Wir müssen es dahin bringen, das Unmögliche, Unnatürliche, Gänzlich-Phantastische in dem Ideale Gottes, Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem Ekel zu empfinden.“ Den frommen Gutmeinenden schleudert Zarathustra mit Pathos seinen „grossen Ekel“ entgegen: „Und nun erst kommt der grosse Schrecken, das grosse Um-sich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit. Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten.“
Ekel und Reinheit
Nietzsches Suada gegen das Christentum mutet heute vielleicht etwas anachronistisch an. Überhaupt nicht anachronistisch aber sind Formen des Glaubens, die in dessen Namen Andersartige verunglimpfen, ja unterdrücken, eine geistige Borniertheit fördern und sie bei jeder Gelegenheit gewälttätig durchzusetzen suchen. Das hat mit der Rückansicht des Ekels zu tun: der Reinheit – einem ähnlich schwer belasteten Thema. Je „reiner“, sprich: radikaler oder fundamentalistischer ein Gedankengut, desto eher wird es Abweichungen mit Ekel begegnen. An die Stelle des Arguments tritt die Abscheu. Andersdenkende sind schmutzig, angefault, infektiös. Es gibt christliche wie auch islamische Fundamentalisten, die den Atheismus ekelhaft finden. Reinheit, schreibt die Anthropologin Mary Douglas in ihrer berühmten Schrift „Reinheit und Gefährdung“, ist nicht so sehr eine Kategorie der Hygiene, sondern des kulturellen Schutzes. Mit Unreinheit und Schmutz verbindet schon der Primitive alles, was eine Ordnung – auch eine gedankliche – gefährdet.
Ekel-Sprache
Man stösst das Eklige aus, wendet sich von ihm ab, „entsorgt“ es. Das Englische kennt den prägnanten Ausdruck „distaste“: entschmecken. Oft sind es gerade Geschmacklosigkeiten – verbale, politische, ästhetische, moralische –, die in uns ein Ekelgefühl erregen. Auch Gedanken, die nicht schmecken, lassen sich „ausspucken“.
Umgekehrt kann man den Erreger des Ekels auch „anspucken“. Ein damit verwandtes Phänomen beobachten wir heute in einer Unkultur der Vershittung und Verfuckung der Sprache. Es herrscht eine Phraseologie des Ekels vor. Es wird „angekotzt“, „angeschissen“, „angepisst“, „angefickt“. Nun kann man sagen, dass ein Wort, das Ekliges bezeichnet, noch nicht eklig sei. Die Sache ist allerdings ein wenig komplizierter. In der Verwendung von Schimpf- und Ekelwörtern lassen wir uns immer noch von der uralten magischen Vorstellung leiten, dass bestimmte Wörter eine intime Beziehung zu dem haben, was sie bezeichnen. An der „Scheisse“ hängt nun eben das Stinkige, Klebrige, Eklige der Fäkalie mehr als am „Exkrement“ oder am „Gagga“; ebenso schwingt im „ficken“ das Verderbte, Unzüchtige, Verbotene mehr mit als im „kopulieren“, „Verkehr haben“ oder im biblischen „erkennen“. Entscheidend am Ekelwort ist, dass es uns gestattet, wenn nicht real, so doch verbal mit Scheisse um uns zu werfen. Die Praxis grassiert. Und warum? Weil wir alle bis über den Hals in der Scheisse, im Bullshit stecken.
Der Hautgout der verrotteten Wahrheit
Am Bullshit haftet der Hautgout von Lüge, Betrug, Korrumpiertheit. Generell ist Bullshit, so könnte man sagen, Symptom der Wahrheitsverrottung. Der leider fast völlig in Vergessenheit geratene Philosoph Aurel Kolnai hat 1929 in einer Arbeit mit dem Titel „Ekel, Hochmut, Hass“ das Wesen des Bullshits mit geradezu frappanter Hellsichtigkeit charakterisiert. Er spricht vom „moralischen“ Ekel, meint damit aber Ekel im erweiterten geistigen Sinn: „Zum moralisch Ekelhaften zählt (...) der Charakterzug der Verlogenheit (...) Verlogenheit ist weder ein blosses ‚Vorkommen‘ von Lügen bei einem Menschen; noch weniger ein Hang zur Selbsttäuschung oder pathologisches Lügenreden, sondern eine innere Gleichgültigkeit gegen Wahr und Unwahr, kraft welcher man wohl auch sich selber belügt, mit sich selber nicht ins Reine zu kommen müht, aber auch, bei Vorhandensein irgendeines inhaltlichen Motivs, ohne jede innere Erschütterung bewusst Falsches aussagt.“ Eine treffliche Beschreibung von Fake News vor nahezu einem Jahrhundert.
Die eklige Süsse von Utopien
Geistiger Ekel kann sich auf eine weitere Art äussern. Wenn ein Bedürfnis im Übermass befriedigt wird, stellt sich oft ein Überdrussekel ein. Zum Beispiel bei Schokolade. Wie Kolnai konstatiert: „Gastronomisch ekelhaft können vor allem (...) Süssigkeiten (...) werden, da gerade Süss den Grundton eines sozusagen widerspruchslosen, ungebrochenen, grenzen- und gestaltlosen, ‚faden’ Wohlgeschmacks bilden.“
Man kann des „faden Wohlgeschmacks“ bestimmter politischer Verlautbarungen, eines bestimmten Humors, einer Argumentationsweise, eines architektonischen Stils, eines Journalismus überdrüssig werden – bis zum Ekelanfall. Ich möchte hier auf eine besondere intellektuelle „Süssigkeit“ hinweisen. Jene der Utopie. Heute preisen uns ja Futuristen technisch hergestellte Paradiese an, oft mit geradezu evangelikalem Eifer. Betrachten wir Facebook als Beispiel. Mark Zuckerberg wird in seinen Manifesten nicht müde, die Plattform als neue Stufe in der sozialen Entwicklung zu zelebrieren, vom Stamm über die Stadt, die Nation bis zur sogenannten „globalen Gemeinschaft“. Aber „Global Community“ ist ein Mantra mit immer „faderem Wohlgeschmack“. Denn die klebrige Süsse der Vision einer vereinten Menschheit von Facebook-Gnaden enthält einen unangenehmen, einen ekligen Nebengeschmack. Vor allem, wenn man sich die tribalisierenden Tendenzen von gleichgesinnten Followers vor Augen hält, die im Sud ihrer eigenen „privaten“ Weltanschauung köcheln und ihren monadischen Filterblasen kaum noch entfliehen. Der propagierte Globalismus ist ein einziger grandioser Widerspruch in sich.
Die Augiasställe des Bullshits sind randvoll
Abschliessend ein kleiner, aber notwendiger Vorbehalt. Ich halte hier nicht an zum geistigen Ekeln. Geistigen Ekel zu empfinden ist normal, keineswegs „unmenschlich“, oft sogar angezeigt. Den Ekel auf die intellektuelle Ebene zu heben , heisst zuallererst eben auch, ihm intellektuell zu begegnen. Er ist kein Kompass des Denkens. Mit Ekel bekämpft man keine „widerlichen“ Ideen, man verstärkt sie eher. Geistiger Ekel richtet sich denn auch weniger gegen Denkinhalte als gegen Denkhaltungen. Ich würde ihn als Nase für halbintelligentes Denken bezeichnen, ein Denken, an dem etwas mürbe und ranzig ist. Geistiger Ekel kann besonders heute vielerorts Anwendung finden. Die Augiasställe des Bullshits sind randvoll.