Seit bald zwei Jahren tappt das Schweizervolk im Dunkeln, wie es mit einem neuen Vertrag mit der EU weitergehen soll. Nicht nur unsere Exportwirtschaft wird ungeduldig.
Am 26. Mai 2021 hat der Bundesrat in einer Nacht- und Nebelaktion die Verhandlungen über das institutionelle Abkommen Schweiz-EU (Rahmenabkommen) abgebrochen. Seither (seit bald zwei Jahren!) ist die Zusammenarbeit u. a. auf dem Gebiet der Forschung blockiert und die Neuformulierung eines Stromabkommens nicht in Sichtweite. Endlose Sondierungsgespräche dauern an (das achte im März 2023). Für Schweizer Studenten und Studentinnen droht zudem der Ausschluss aus dem Austauschprogramm Erasmus.
Neues Europa nach dem russischen Überfall auf die Ukraine
Eigentlich sollte es allen Verhandlungspartnern klar sein, dass sich die Welt – und mit ihr Europa und die Schweiz – seit dem 24. Februar 2022 vor grundlegend neue Voraussetzungen zur Friedensbeurteilung gestellt sieht. Es herrscht ein brutaler Krieg. Putins autokratisches, korruptes Herrschaftsmodell bedroht auch uns. Umso dringender wäre jetzt die Einsicht, dass die westlichen Demokratien zusammenstehen müssen, um ihre über Jahrhunderte erkämpften freiheitlichen Rechte zu verteidigen.
Unter diesen Voraussetzungen ist es kaum zu verstehen, dass es den politischen Stellvertretern in Brüssel und Bern nicht gelingt, bei vergleichsweise nebensächlichen wirtschaftlichen und politischen Streitpunkten Kompromisse zu schliessen, die auf beiden Seiten zu einer indirekten Stärkung der Demokratien beitragen würden. Es ist nicht der Zeitpunkt, für kleinliche Lohnschutzmassnahmen zu kämpfen oder Streitbeilegungsmodelle abzuwehren, als wäre europäisches Recht etwas völlig anderes als schweizerisches. Vor allem, wenn man es in Hinblick auf russisches «Rechtsverständnis» betrachtet.
«Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nie wieder»
Vom genuesischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini (1805–1872) stammt die Feststellung: «Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nie wieder.» Was vor rund 200 Jahren galt, gilt heute noch. Sind es primär Funktionäre auf beiden Verhandlungsseiten, die nicht über ihren eigenen Schatten springen können? Warum stimmen sie einer gemeinsamen, übergeordneten Lösung in Hinsicht auf die dringend notwendige Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und ihren wichtigsten Handlungspartnern in der EU nicht zu?
Da sind unsere Gewerkschaften, die sich um den Lohnschutz und den Service public Sorgen machen. Offensichtlich haben sie Angst vor Konkurrenz. Doch längst haben Erfahrungen aus der Wirtschaft gezeigt, dass nicht nur der Preis, sondern auch die Qualität und Lieferlogistik wertbestimmend sind. Wie sagte einst Dietrich Bonhoeffer: «Den grössten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.»
Ähnlich sieht die Situation bei der Rolle des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus. Wer bei der EU mitgeschäften will, soll sich ihren Regeln unterziehen. Handelt es sich um EU-Recht, müsste im Streitfall ein paritätisch besetztes Schiedsgericht unter Beizug des EuGH entscheiden, wie das schon heute im Fall der Personenfreizügigkeit der Fall ist.
Der Ständerat klemmt
Wieder einmal ist festzustellen, dass der Ständerat klemmt, wenn es um die Liberalisierung von Märkten geht. Will die Schweiz das Stromabkommen mit der EU (Teil einer Paketlösung) akzeptieren, nicht zuletzt, um einer drohenden eigenen Versorgungssicherheitskrise zu entgehen, muss unser Land den eigenen Strommarkt vorgängig weiter liberalisieren, um Zugang zum EU-Elektrizitätsbinnenmarkt zu erhalten. Zusätzliche Liberalisierungsschritte kämen auch den schweizerischen Verbrauchern zugute.
Die schweizerische Pharmabranche als Erfolgsgarant
Als hätte die wichtige Pharmabranche unter dem internationalen Standortwettbewerb und dem globalen Digitalisierungsdruck nicht genug zu kämpfen, ist die Erosion der bilateralen Verträge mit der EU ein Desaster. In diesem Zusammenhang hat es der Bundesrat verpasst, zukunftsfähige Massnahmen zur Stärkung des Produktions- und Forschungsstandorts Schweiz zu ergreifen – ganz zu schweigen von einer gesamtheitlichen Sicht der zukünftigen Stossrichtung der für unseren Export und Wohlstand wichtigen Sparte.
Abwarten und Tee trinken ist zwar in Bern populär, aber – wie die Vergangenheit zeigt – keine taugliche zukunftsfähige Strategie. Umso mehr gilt es, die starke Stellung unseres Landes mit spartenübergreifenden Kooperationsideen (Bund, Kantone, Politik, Wirtschaft und wissenschaftlicher Forschung) auszubauen.
Zukünftige Chancen
Wie eingangs erwähnt, ist die Klärung unseres integrationspolitischen Verhältnisses zur EU – angesichts der geopolitischen Horizontverdüsterung – dringender denn je. Die Zeiten egoistischer Verteidigung von Partikularinteressen, ebenso der populären Verunglimpfung (Stichwort «Kolonialvertrag») jeglicher Annäherung an die EU sind abgelaufen. Es braucht jetzt den Willen und das Wissen, eine zukunftsfähige Lösung vereinbaren zu wollen. Wer hilft uns dabei weiter?
Michael Ambühl, der frühere Staatssekretär und emeritierte ETH- Professor, und Nora Meier, Forscherin am Lehrstuhl für politische Philosophie an der ETH Zürich, haben im Februar 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung zu einem neuen Deal geraten. Grundsätzlich könnte die Schweiz auf die Interessen der EU eingehen und EU-Recht künftig dynamisch übernehmen (jedoch ohne Unterstellung unter den EuGH) und sich in der Unionsbürgerrichtlinie flexibel zeigen. Das Streitbeilegungsverfahren mit Ausgleichsmassnahmen könnte ebenso akzeptiert werden, wenn es von einem Schiedsgericht auf die Verhältnismässigkeit geprüft würde.
Kantone für einen neuen Vorschlag bei der Zuwanderung
Auch die Konferenz der Kantone (KdK) signalisiert neuerdings Unterstützung des Bundesrates für Verhandlungen (anstelle endloser Sondierungen). Für die problematische Rechtsübernahme bei der Personenfreizügigkeit (Schutzklausel) ist sie der Meinung, dass die EU einer Klausel zustimmen würde, damit «die Schweiz bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen vorübergehend Abhilfemassnahmen ergreifen könnte» (NZZ).
Neue Verhandlungen?
Noch im März 2023 liess Chef-Unterhändlerin Livia Leu verlauten, die Zeit für neue Verhandlungen sie noch nicht reif; dies getreu der seit langem bekannten Hinhaltetaktik des Bundesrates. Es erstaunte deshalb etwas, als der Bundesrat Ende März 2023 plötzlich den Auftrag erteilte, bis Ende Juni Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der EU vorzubereiten. Was genau zu dieser an sich erfreulichen Kehrtwende geführt hat, ist unbekannt. Immerhin kann festgestellt werden, dass – nach acht Sondierungsrunden und 19 technischen Gesprächen – nicht von einem überhasteten Entscheid gesprochen werden kann.
Abschliessend: Um eine erfolgreiche und zukunftsfähige Kooperation einzugehen, müssen beide Seiten aufeinander zugehen. Zugeständnisse, die auf den ersten Blick schwer zu verdauen sind, bilden die Voraussetzung, damit die Gegenseite mit der gleichen Grosszügigkeit antworten kann. Beide Verhandlungspartner haben ein Interesse an einer langfristig geregelten Beziehung – die Schweiz inmitten von EU-Land und die EU als strategisch erfolgreiche Gestalterin dieser geopolitisch wichtigen, freiheitlichen, demokratischen Bastion.
Auch die Gruppierung «fairerbiletaralismus.ch» mit prominenten Mitgliedern vertritt die Ansicht, dass «sich die Schweiz als Teil von Europa fühlt und deshalb bereit ist, der EU in sehr vielen, sehr einschneidenden Bereichen entgegenzukommen» (NZZ).
Positiv: Schweizerinnen und Schweizer werden immer europafreundlicher. Das Forschungsinstitut GfS in Bern misst seit neun Jahren die diesbezügliche Haltung und stellt neuerdings fest, dass 65 Prozent der Stimmberechtigten die Übernahme von EU-Recht unterstützen, sofern das Referendumsrecht bestehen bleibt. Auch zur Rolle des EU-Gerichtshofes (EuGH) und der Frage des Lohnschutzes gibt es neuerdings eine positive Haltung, 55 Prozent sind jetzt bereit, EuGH-Entscheide und Lohn-Kompromisse zu akzeptieren.