«Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.» Seit der Rede Angela Merkels im Bundestag vom 19. Mai 2010 ist dies der Cantus firmus ihrer Politik in der Schuldenkrise. Vor fünf Jahren ging es noch um die generelle Stabilisierung des Euros durch die Schaffung eines Rettungsschirms für mehrere notleidende Euroländer. Angela Merkel hat den düsteren Satz jedoch beibehalten, als Griechenland allein in den Brennpunkt rückte, und sie hat ihn bei vielen Gelegenheiten im Blick auf Hellas wiederholt. Ihr plakatives Mantra «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» war schon 2010 komplexer, als es den Anschein machte. Mit der seitherigen Verlagerung des Fokus auf das griechische Desaster wurde es erst recht zu einer vielschichtigen Aussage.
Was das Merkel-Diktum aussagt
Merkels Diktum enthält erstens die Suggestion, eine definitive Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und dessen Ausscheiden aus dem Euroraum könnte die Gefahr eines Scheiterns der Gemeinschaftswährung nach sich ziehen. Zweitens enthält die Aussage der Kanzlerin die These, ein Euro-Kollaps würde das Scheitern nicht nur der gemeinsamen Währung der 19 Euro-Staaten nach sich ziehen, auch nicht bloss der EU, sondern ganz Europas.
Das letztere, die Gleichsetzung der EU mit Europa, wird offenbar nur noch in den paar verbliebenen Nicht-EU-Ländern als Fehler wahrgenommen. Da wollen wir denn nicht pingelig sein. Doch es bleiben auch so zwei grosse Merkwürdigkeiten.
Erscheint schon die erste Implikation der Merkelschen Rhetorik – der Grexit lässt den Euro scheitern – ziemlich steil, so die zweite – das Ende des Euro ist auch das der EU – erst recht. Offenbar geht es der Kanzlerin darum, die Konsequenzen einer fehlgeschlagenen Griechenland-Rettung so dramatisch wie möglich darzustellen. Immer wieder betont sie denn auch, der Euro sei «mehr als eine Währung». Nach ihrer Lesart stellt die Gefährdung der Gemeinschaftswährung die beteiligten Länder vor eine «existenzielle Bewährungsprobe». Vom Euro sagt sie: «Er darf nicht scheitern, und er wird nicht scheitern.»
Diese letzte Aussage – auch sie auffällig auf das Scheitern fixiert – expliziert den Appell und die Beschwörung, die im Satz «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa» stecken: Das Scheitern darf nicht sein (Appell); und was nicht sein darf, wird nicht sein (Beschwörung).
Merkel macht rationale pragmatische Politik
Die Politikerin, die so spricht, ist keine betuliche «Mutti», die sich vor dem heraufziehenden Verhängnis fürchtet und zu Beschwörungsformeln Zuflucht nimmt. Angela Merkel ist Physikerin und denkt rational in Zusammenhängen von Ursachen und Wirkungen. Sie hat sich seit dem gekonnten Rauskegeln ihres Vorgängers Kohl als brillante Machtpolitikerin in der Arena der grossen Egos behauptet. Die Instrumente der Politik – Selbstdarstellung, Deutungshoheit, Inszenierung, Symbolisierung, Verbündung, Ausschliessung – versteht sie fest in den Griff zu nehmen und für sich zu nutzen.
Wenn Angela Merkel ihre Politik zum appellativen, beschwörenden Satz verdichtet, den sie wie einen Werbeslogan bei ihren öffentlichen Auftritten immer wieder effektvoll platziert, so erzielt sie damit mehrere Wirkungen auf einmal. Zunächst liefert sie den Medien ein repetitives Element, mit dem diese die Haltung der Kanzlerin auf eine kurze Formel bringen können. Merkels Position prägt sich dadurch genauso ein wie ihr Erscheinungsbild mit den ewigen bunten Blazern. Die Kanzlerin erzielt eine Win-Win-Situation: Die Medien bekommen das Typisierte, Wiedererkennbare, an dem ihnen so liegt; und Angela Merkel erreicht eine inhaltliche Stetigkeit ihrer Medienpräsenz, die den Umgang mit der Öffentlichkeit für sie berechenbar macht.
Absicherung einer vagen Strategie
Doch der Slogan «Scheitert der Euro, so scheitert Europa» dient selbstverständlich nicht nur der Festigung von Merkels Image und ihrer effizienten Nutzung der Medien. Er dient auch zur Absicherung ihrer Strategie. Ihr einprägsamer Satz ist nicht Programm und Prognose, sondern – wie schon festgestellt – Appell und Beschwörung. Angela Merkel will Griechenland «retten», was für sie heisst: im Euro halten. Dahinter stehen offenbar die Erfahrung und die Vision einer EU, die in Europa als Friedens- und Freiheitsprojekt aufgebaut wird und für die der Euro Garantie und Verpflichtung ist für eine immer engere und solidarischere Gemeinschaft der Staaten des Kontinents.
Mit dieser auf Hoffnungen und gegenseitiges Vertrauen bauenden Haltung bewegt sich Angela Merkel in der EU auf einem unwegsamen Terrain, das ihr als der geborenen Pragmatikerin und Machtpolitikerin eigentlich gar nicht zusagt. Beim Thema «Europa» schaukeln sich mehrere Unsicherheiten gegenseitig hoch. Zum einen sind die Gründerperspektiven des Jahrhundertprojekts EU in Diskussion geraten: Sind die Mitgliedländer nicht doch zu verschieden, die Erweiterungsschritte zu hastig, die Ziele zu ambitioniert? Und zum andern kommen zunehmend Zweifel auf, ob die EU denn auch über adäquate politische Institutionen und Instrumente für ihre weitreichenden Ziele verfüge.
Wie kann die in der EU tonangebende Regierungschefin des mächtigsten Landes angesichts solcher inhaltlicher und struktureller Unwägbarkeiten einen in Europa wegweisenden politischen Kurs setzen und einhalten? Machtmittel, wie sie ihr im eigenen Land zu Gebote stehen, hat sie in der EU nur sehr beschränkt in der Hand. Es bleiben ihr als Mittel, um politisch etwas zu bewegen, im wesentlichen: der Appell und die Beschwörung.
Notausgang für den Fall des Scheiterns
Mit solchen rhetorischen Figuren bestimmt sie einerseits den Kurs, soweit dies auf dem schwer manövrierbaren Dampfer EU überhaupt geht. Andererseits sichert sie auch den Notausgang für den Fall eines Misserfolgs ihrer Politik. Merkel hat vorweg definiert, was für sie der schlimmste Fall ist: Griechenland geht Pleite und muss aus dem Euro raus; weitere Krisenstaaten nutzen die Bresche und suchen ihr Heil ebenfalls wieder in eigenen Währungen; das Projekt Gemeinschaftswährung verfällt und mit ihm die Idee der fortschreitenden Vergemeinschaftung als eigentliche «Idee Europa».
Sollte eine derartige Dynamik entstehen, wird Angela Merkel die Schuld am Scheitern von sich weisen können. Sie war ja die Warnerin und ist nicht dafür verantwortlich zu machen, wenn die kaum steuerbaren Institutionen ihr nicht folgen wollen. Als wendige Politikerin wird sie ihren Appell der jeweiligen Situation anpassen, zum Beispiel: Da der Grexit nun leider passiert ist, muss erst recht alles getan werden, dass nicht der Euro scheitert. Der Slogan kann dann sogar der gleiche bleiben.
Politisch kalkulierter Gemeinplatz
Neben dem Satz über das drohende Scheitern des Euros und Europas hat Angela Merkel sich eine weitere Standardformel zugelegt: «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.» Mit diesem Spruch greift sie einen wohlbekannten Gemeinplatz auf, eine Trivialität mit der Aussagekraft und dem Erkenntniswert einer Binsenwahrheit.
Doch die Kanzlerin wäre nicht Angela Merkel, wenn nicht auch dieser simple Slogan eine wohlkalkulierte Funktion hätte. Er unterstreicht den Appell, sich ihrer Haltung und Vision anzuschliessen und das zu deren Verwirklichung Nötige zu tun. «Wo ein Wille ist...» sagt man ja nicht zu sich selbst, sondern zu den anderen, von denen man eine bestimmte Handlungsweise erwartet: Rafft euch endlich auf! Seid nicht so träge!
Für diplomatische Gepflogenheiten geht dieser Ton eigentlich schon zu weit. Der Spruch zielt zwar auf die störrischen Verhandlungspartner aus Athen, richtet sich aber an die europäische und vermutlich vor allem deutsche Öffentlichkeit. Er wird so zur zusätzlichen Absicherung von Merkels Politik: Sollte die Kanzlerin scheitern, so hat sie schon vorweg den Grund klargemacht: Es wurde kein Weg gefunden, weil es dafür bei der griechischen Regierung keinen Willen gab.
Angela Merkels politische Rhetorik steht konsequent im Dienst ihrer Strategie. Da sie sich als überzeugte Europäerin in der Krise nolens volens zur Anwältin des visionären Projekts machen und in dieser Rolle das einigermassen gefestigte Terrain des pragmatischen Politisierens verlassen muss, setzt sie appellative und beschwörende Zeichen. Diese verstärkt sie mit dem populären Gemeinplatz, der Misserfolge prophylaktisch am fehlenden Willen der Partner festmacht. Mit diesen Redeformen benennt sie den Kurs, der als vager Konsens in der Luft hängt, und gleichzeitig kann sie die Verantwortung für ein mögliches Scheitern von sich schieben. – So geht rationale Politik unter irrationalen Bedingungen.