Als im Sommer 2016 im Park vor dem Bahnhof Como mehrere hundert Flüchtlinge – Minderjährige, Familien mit Kindern und junge Männer vor allem aus Afrika – unter prekären Umständen campierten, hat das viele Menschen erschüttert. Die 47-jährige Tessinerin Lisa Bosia, eine Sozialarbeiterin, die sich seit Jahren für Asylsuchende einsetzt, half damals innerhalb von zwei Wochen insgesamt 24 jungen Menschen in die Schweiz einzureisen und danach nach Deutschland weiterzureisen, wo sie Verwandte aufsuchen wollten.
Einreisehilfe für 24 Flüchtlinge
Grenzwächter hielten die Fluchthelferin an, nachdem sie in ihrem Auto bei Stabio die Grenze überquert hatte, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war und der nachfolgende Wagen mit vier jungen Eritreern gefahrlos in die Schweiz einreisen konnte. Vor dem Strafgericht in Bellinzona wurde Bosia, damals noch Grossrätin der SP, im Herbst 2017 schuldig gesprochen, 24 Flüchtenden rechtswidrig die Einreise in die Schweiz, den Aufenthalt und danach die Ausreise erleichtert zu haben. Die Strafe: 80 Tagesansätze zu je 110 Franken, bedingt erlassen, eine Busse von 1’000 Franken und Justizgebühren von 500 Franken. Das Urteil wurde angefochten, und im vergangenen September fanden die Verhandlungen vor dem Appellationsgericht unter dem Vorsitz der Richterin Giovanna Roggero-Will statt; das Urteil wurde am 30. Oktober den Parteien zugestellt.
Kurzes Beherbergen von Ausländern ohne Ausweise nicht strafbar
Das Appellationsgericht hat die Strafe der Vorinstanz wesentlich herabgesetzt. Es hat festgehalten, das Beherbergen in der Schweiz während wenigen Tagen von Migranten ohne Ausweise sei nicht strafbar. Die Zustände beim Bahnhof Como, es fehlten jegliche Einrichtungen eines Empfangszentrums, waren prekär. Doch zahlreiche Helfer und Helferinnen, wie z. B. Lisa Bosia, sorgten nach einiger Zeit für Essen und Trinken, auch für eine minimale medizinische Versorgung. Deshalb folgerte das Gericht, zum Zeitpunkt der Hilfe zur Flucht der 24 jungen Menschen habe für diese keine Notlage mehr bestanden. Aus diesem Grund sprach das Gericht die Fluchthelferin schuldig.
Das Gericht hat jedoch festgestellt, dass Bosia aus achtenswerten Beweggründen den Flüchtenden geholfen hat und angesichts der schwierigen Lage der jungen Menschen in schwerer Bedrängnis war. Auch habe die Frau unter den Anwürfen und Verunglimpfungen, vor allem in den sozialen Medien, gelitten. Deshalb haben die Richter die bedingt erlassene Strafe von 80 auf 20 Tagesansätze herabgesetzt, die Busse von 1’000 Franken gestrichen und einen kleinen Teil der Gerichtsgebühren dem Staat angelastet; den Grossteil hat die Verurteilte zu begleichen.
Kein Sieg für die Menschenrechte
Die juristische Beobachtungsstelle (Osservatorio giuridico), welche den Fall der Flüchtlingshelferin begleitete, hat ihre Pressemitteilung zum Urteil mit dem Titel „Ein Sieg für die Menschenrechte“ versehen. Das ist übertrieben, denn immer noch ist die Hilfe zur Einreise in die Schweiz von Flüchtenden in verzweifelter Situation strafbar. Der Hauptzweck der Einsprache war, dass uneigennützige Fluchthelfer nicht bestraft werden, wenn sie verzweifelten Menschen in prekären Umständen helfen, in unser Land einzureisen. Zwar werden die mildernden Umstände, wie bereits aufgezählt, in diesem Urteil anerkannt. Zudem ist es zulässig, einen Flüchtling ohne Ausweispapiere für kurze Zeit zu beherbergen. Doch müsste in diesem Fall konsequenterweise nicht auch die Fluchthilfe erlaubt sein, sofern aus achtenswerten Beweggründen gehandelt wird?
Was sagt das Bundesgericht?
Eine andere Fluchthelferin, die 73-jährige Anni Lanz, wurde im vergangen August vom Walliser Kantonsgericht ebenfalls verurteilt; sie wird das Urteil ans Bundesgericht weiterziehen. Auch Bosia wird ans Bundesgericht gelangen. Ob es sich für Straffreiheit zugunsten von Fluchthelfern aussprechen wird, ist fraglich.