Unlängst habe ich meinen beiden schulpflichtigen Enkeln in Potsdam aus dem Jugendbuch «Die Rote Zora und ihre Bande» vorgelesen. In einem Kapitel verbringen Zora, ihr Schützling Branko und der alte Gorian die Nacht in einem Boot an der kroatischen Küste beim Fischen.
«Ihr müsst kein allzu grosses Mitleid haben»
Am Morgen besichtigen sie am Land ihren Fang. Auf einem Haufen verlieren die toten Fische immer mehr ihre Farbe. «Schade», sagt der Bub Branko. «Was ist schade?», will der Fischer Gorian wissen. «Dass sie nun alle tot sind. Erst sahen sie viel schöner aus.» Ja, nickt der alte Gorian. «Aber wir müssen alle sterben. Die meisten Fische sind dazu noch Räuber und leben von andern Fischen und die keine Fische fressen, fressen Würmer und Krustentiere … Ihr müsst kein allzu grosses Mitleid mit ihnen haben.»
Die «Rote Zora» ist 1941 erschienen, also zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, geschrieben von dem deutschen Emigranten Kurt Held, der damals unter prekären Verhältnissen im Tessin lebte. Noch vor 15 Jahren hätten kaum allzu viele Leser der Meinung des alten Gorian über das Schicksal der gefangenen Fische widersprochen. Auch manche Vegetarier, die sonst den Fleischverzehr ablehnen, machen ja bei Fischen häufig eine Ausnahme. Hier scheint sich jedoch eine striktere Enthaltsamkeit durchzusetzen. So betont die Tierphilosophin Angela Martin von der Universität Basel in einem NZZ-Interview, heute werde die Empfindungsfähigkeit von Fischen klar bejaht, während sie etwa bei Insekten noch umstritten sei.
Zynismus oder Realismus?
Die Thierphilosophin und wohl auch viele Tierschützer lehnen den massenhaften Verzehr von Fleisch mit Rücksicht auf das Leiden der Tiere ebenso ab, wie sie die industrielle Tierhaltung als unethisch einstufen. Aber wie verhält es sich mit dem Argument des alten Fischers Gorian, dass auch viele Tiere und insbesondere die Fische wiederum viele andere Tiere fressen? «Wir sind ja alle dazu da, um zu fressen oder gefressen zu werden», meint er lakonisch in der «Roten Zora». Ist das Zynismus oder einfach darwinistischer Realismus? So eindeutig und abschliessend lässt sich diese Frage kaum beantworten.
Überzeugend tönt dagegen die Antwort der zitierten Tierethikerin, die auf die Frage, ob man aus ihrer Sicht grundsätzlich keine Tiere essen dürfe, erklärt: «Jeder Mensch muss sich dazu seine eigenen Gedanken machen und sich fragen: Steht das Leid, das meine Bratwurst oder mein Steak verursacht, im richtigen Verhältnis zum Genuss, den ich daraus ziehe.»
Doch inzwischen wird der Fleischkonsum nicht nur aus moralischen oder tierethischen Gründen in Frage gestellt. Mit zunehmender Dringlichkeit treten klimapolitische Argumente in den Vordergrund. Dass der Klimawandel die ganze Weltbevölkerung mit fundamentalen Problemen konfrontiert, ist weitherum ins allgemeine Bewusstsein getreten. Laut Angaben von Fachleuten verursacht die Landwirtschaft ein Viertel der weltweiten Treibhausgas-Emissionen, die als Hauptfaktor für die Klimaerwärmung gelten. Von diesen entfallen 80 Prozent auf die Nutztierhaltung, insbesondere auf Rinder und Kühe, die beim Wiederkäuen riesige Mengen an Methan ausstossen.
Klimawandel und pflanzliches Poulet-Geschnetzeltes
Damit werden die Reihen jener Aktivisten, die für den Verzicht oder zumindest für eine einschneidende Reduzierung des Fleischverzehrs kämpfen, mächtig erweitert. Es geht jetzt aus dieser Perspektive nicht mehr ausschliesslich um eine tierethische Frage, sondern um eine Frage des zukünftigen Überlebens für die Menschheit – was übrigens aus religiöser oder humanistischer Sicht auch mit Moral zu tun hat. Die Sorge um das eigene Interesse und dasjenige der eigenen Spezies, dürfte, zurückhaltend formuliert, die Zeitgenossen zumindest nicht weniger zum Handeln in Sachen Essgewohnheiten motivieren als rein ethische Überlegungen.
Kommt hinzu, dass die Aussichten, beim Verzicht auf Fleisch keine wirklichen Einschränkungen an Essfreuden in Kauf nehmen zu müssen, sich offenbar markant verbessern. So berichtete unlängst der «Tages-Anzeiger», dass ein Start-up von ETH-Forschern ein Verfahren zur Herstellung von «bissfestem» Poulet-Geschnetzeltem entwickelt hat, das «dem Original in Aussehen und Geschmack verblüffend ähnlich» sei. Das Start-up trägt den Namen «Planted». Produziert wird das neue «Pouletfleisch» hauptsächlich aus Erbsen, Wasser und Rapsöl. Es soll inzwischen in den Filialen eines grossen Schweizer Detailhändlers erhältlich sein. Wenn das neue Fleisch-ohne-Tier- Geschnetzelte sich so erfolgreich vermarkten lässt, wie deren Erfinder und Investoren hoffen, wird es kaum lange dauern, bis ähnlich «bissfeste» Nachahmer-Produkte auch für Rind-, Schweinefleisch und Fisch ins in den Handel kommen werden.
Die Prognose scheint nicht besonders gewagt: Das Zusammenwirken der Faktoren Tierethik und Klimaerwärmung sowie das sich abzeichnende gleichwertige Angebot von pflanzlichem Fleisch werden dafür sorgen, dass der Konsum von tierischem Fleisch in den kommenden Jahren erheblich zurückgehen wird. Ob der alte Fischer Gorian in der «Roten Zora» sich heute ebenfalls zur Abkehr vom Fleischkonsum bewegen liesse?