Bei Israels Nachbarn krachts und donnerts. Zigtausende werden umgebracht - Israel schaut zu. Hoffentlich döst es nicht. Israel pflegt in seinen Spitälern Verletzte aus dem syrischen Bürgerkrieg und gestattet Ägypten Tausende von Soldaten in den Sinai zu senden um islamistische Terroristen – meist gutbezahlte, von Hamas und Iranern geführte Beduinen – zu bekämpfen. So wie sie es früher mit Opfern der libanesischen Bürgerkriege tat. Israel schaut zu und fühlt sich – wohl zu Recht – sicher.
Europa als Hort von Antisemiten?
Vielleicht gerade deswegen hat die EU Israel dieser Tage Bedingungen gestellt, die den Grossisrael-Wahn eines beträchtlichen Teils der Regierungsparteien und einer, das muss einmal gesagt werden, Minderheit der Bevölkerung, vor den Kopf stösst. Sie reagierten grossenteils schockiert, Sündenböcke werden gesucht, Europa als Hort von Antisemiten beschimpft – kurz, eine Reaktion in palästinensischem Stil. Das ist billig und Israel nicht würdig. Auch wenn Europa nicht von Israel, sondern von Islamisten bedroht ist und auch damit wenig Sinn für wirkliche Prioritäten zeigt.
Doch was wenn Europa auch nur teilweise recht hat? Ich denke es ist mehr Symbolik als Substanz, Israel daran zu erinnern, dass es kein Grossisrael gibt, auch nicht geben soll. Der demokratische Staat Israel besteht westlich der „Grüne Grenze“ genannten Waffenstillstandslinie von 1948. Der genaue Grenzverlauf muss ausgehandelt werden. Die Westbank war erobertes Gebiet, erst waren es die Türken, dann die Engländer, dann Jordanien, seit 1967 Israel. Zu Recht ist Israel durch den Sechstageskrieg dorthin gelangt und wird voraussichtlich noch einige Jahre dort bleiben.
Nicht über fremde Völker herrschen
Doch Israel darf nicht über fremde Völker herrschen. Das hat mit Liebe zu Palästinensern gar nichts zu tun, sondern wäre angewendeter humanistischer Zionismus. Es ist ethisch nicht vertretbar, ist zutiefst unjüdisch und hat unseren Staat, ganz nach Professor Yeshayahu Leibowitz, korrmumpiert und jüdisch-reaktionären Kräften an die Macht geholfen. Sollten wir so weiter machen, bleiben uns fast nur noch evangelikale Apokalypter als „Freunde“. Ein Albtraum! Israels muss aus der Westbank abziehen, solange ein Abzug der Armee sicherheitsmässig vertretbar ist. Das sicherzustellen ist die Aufgabe der israelischen Regierung.
Europa weiss genau was es tut und es kennt den Zustand zwischen Israel und seinen Nachbarn sehr gut. Es weiss auch, dass es keinen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern geben kann, solange die letzteren ihren Judenhass weiterhin in Schulen und Öffentlichkeit formalisieren. Auf der anderen Seite frage ich mich, warum israelische Gesetze in den besetzten Gebieten (Judäa und Samaria) angewendet werden, obwohl diese Gebiete nicht zu Israel gehören, sondern „temporär“ besetzt sind.
Auch Europa weiss, wie Ariel Sharons Mut, Israel aus dem Gazastreifen abzuziehen, von den Palästinensern belohnt worden ist. Auch Europa weiss, dass aus der Westbank Raketen nach Israel fliegen würden, sobald Israel – Siedler und Armee – abziehen würden. Niemand kann bestreiten, dass diese europäische Politik nicht neu ist. Seit Jahren wurde Israel verständlich gemacht, dass die Besetzung der Westbank illegal ist – eigentlich ist es erstaunlich, dass die heutige Stellungnahme erst jetzt erfolgt ist. Sie war zu erwarten.
Ariel Sharon machte mit dem Gazastreifen zwei Fehler, die nicht wiederholen werden dürfen. Der erste Fehler war nicht zu vermeiden: Ein Abzugsabkommen mit der Hamas in Gaza war nicht möglich, denn Islamisten gehen keinerlei glaubhafte Abkommen ein. Ihr Judenhass verbietet ihnen das, einem Friedensabkommen ist nicht zu trauen. Der zweite Fehler war, die dortigen Siedler zum Abzug zu überreden und letztlich zu zwingen ihre wunderschönen Siedlungen und blühenden landwirtschaftlichen Betriebe zu verlassen.
Israel als Friedensverweigerer?
Trotzdem, Israel hat eine Regierung, die sich vor eigenen Entscheidungen fürchtet und nicht wahrhaben will, dass rund Dreiviertel der Israelis grundsätzlich bereit sind, auf besetzte Gebiete zu verzichten. Vielleicht denken viele vertrauensvoll, die Palästinenser würden dafür sorgen, dass daraus nichts wird – womit sie, wie die bisherige Geschichte zeigt, leider Recht haben könnten. Die Israelis haben das inzwischen gemerkt und die vergangenen Wahlen haben das bestätigt. Nethanyahu und sein Kabinett sind unfähig oder unwillig, eigene Visionen in eine klare Politik umzusetzen. In Jiddisch sagt man „nischt ahin und nischt aher“ – nicht dahin und nicht dorthin – in Englisch sagt man „wishy-washy“, in Deutsch "weder das Eine, noch das Andere".
Aber Israel, ein Land mit modernen westlichen Normen, wenn auch aus Gründen des Überlebens ein klein wenig an seine wenig demokratische Nachbarschaft angepasst, darf auf diese Normen nicht verzichten. Seine Regierung muss alles in ihrer Macht tun, mit seinen Nachbarn eine friedliche Lösung zu erlangen. Israel darf nicht als Friedensverweigerer dastehen, sondern alles tun, das zu verhindern, solange es Israels Sicherheit nicht gefährdet. Die Erfahrungen seit der Staatsgründung in 1948 zeigen, dass Friedensbemühungen stets vor der Unterzeichnung eines Abkommens von palästinensischer Seite torpediert worden sind. Das war so mit Yassir Arafat und wiederholte sich mit Mahmud Abbas. Inzwischen ist die Friedenssehnsucht auch in gewissen israelischen Kreisen ein wenig erkaltet, wenn es auch eine Araberfeindschaft in analogem Ausmass zum arabischen Judenhass, kaum gibt. Palästinensisch-islamistischer Terror und Intifada 2 haben dazu beigetragen. Viele Israeli haben daraus ihre Konsequenzen gezogen.
Szenarium zum israelischen Abzug aus der Westbank
An einem kürzlich gehörten Vortrag von Dan Bielski, Nachrichtenchef des israelischen Radios Kol Israel, hörte ich seinen Vorschlag zum Abzug Israels aus der Westbank , sollte sich die politische Möglichkeit dazu ergeben. Denn Bielski ist der Meinung, dass sich Nethanyahu vor den Siedlern, die eigentlich nur einen kleinen Teil der israelischen Bevölkerung bilden, fürchtet. Hier der Vorschlag: Die Regierung fasst den mutigen Entschluss nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens Armee und Siedler abzuziehen, sie nach Israel zu repatriieren. Sie teilt den Siedlern mit, an welchem Datum (auf Grund der Zahl der Siedler und der Siedlungen gestaffelt) das geschehen werde. Ebenso teilt sie den Siedlern mit, dass dafür Autobusse bereitgestellt würden. Wer nicht abziehen, sondern in den Siedlungen bleiben wolle, könne das tun, werde aber nicht mehr von Israels Armee betreut und geschützt. Punkt.
Dieses Szenario klingt surreal, scheint jedoch die einzige Möglichkeit zu sein, einen solchen Abzug der Siedler durchzuziehen, ohne dass es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen kommt. Wie Bielski meint, habe der Staat die Siedler aus Gaza, dem Sinai und aus Siedlungen der Westbank abgezogen – es sei möglich, es auch aus der gesamten Westbank – gemäss einem israelisch-palästinensisch Friedensabkommen – zu tun. Israels Regierung braucht endlich mutige Entschlüsse und einen offenen Plan, wie sie ihre Politik umzusetzen gedenkt. Die Begründung sich hinter möglichen palästinensischen Angriffen zu verstecken, auch wenn es echte Gründe dazu gibt, muss zurückgestellt werden. Dem palästinensischen Friedenspartner muss unter allen Umständen klargemacht werden, dass Israel mit extremer Härte auf palästinensische Gewaltaktionen gegen Israel reagieren werden. Die Amerikaner sagen „carry a carrot and a big stick“. Einen sehr grossen Stecken.
Kann sein, dass all das reines Wunschdenken ist. Um einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, braucht es mindestens zwei, die ihn wollen. Da die Arabische Liga eben dem Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas grünes Licht für Verhandlungen mit Israel gegeben hat, könnte dieser sich aufraffen und den Kontakt zu Nethanyahu suchen, diesem seine Ängste nehmen und seriös verhandeln. In den heutigen Nachrichten sind Schalmeiklänge zu hören. Der amerikanische Aussenminister Kerry habe es fertiggebracht, ein Treffen zwischen Abbas und Nethanyahu zu arrangieren. Glauben kann man das allerdings erst, wenn beide tatsächlich am Verhandlungstisch sitzen. Abbas muss den Mut haben, sich der Wut islamistischer Judenhasser und Nethanyahu ähnlicher Wut reaktionärer, fundamentalistischer Siedler und ihrer Rabbiner zu stellen, ja zu ignorieren und sich durchzusetzen.
Und der Golan und Ostjerusalem?
Anders als mit der Westbank, muss mit der Golan und Ostjerusalem umgegangen werden. Eine gewaltige Mehrheit der Israelis – man spricht von neunzig Prozent – will diese behalten. Dazu gehöre auch ich, aus zwei Gründen:
In Israel ist kaum Bereitschaft zu finden, die Golanhöhen Syrien zurückzugeben. Es gibt im Golan keine islamistischen Widerstände, es gibt kaum Araber, sondern neben den rund 15‘000 Israelis (vorwiegend linker Überzeugung in Kibbuzim und Moshavim) fast ausschliesslich Drusen, die sich heute noch mehr als früher, mit Israel identifizieren wollen, ein Resultat des syrischen Bürgerkrieges. In steigender Zahl verlangen und erhalten sie israelische Bürgerschaft, besonders die Jüngeren unter ihnen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Vorgänge in Syrien, in denen auch drusische Familien der Golanhöhen Schaden genommen haben.
Was Ostjerusalem betrifft, erinnern sich noch viele daran, wie vor dem Sechstagekrieg in 1967, als es der damaligen Westbank-Besetzungsmacht Jordanien gehörte, über die Mauern und Zäune, die den jordanischen Osten vom jüdischen Westen trennten, geschossen wurde und viele israelische Opfer forderte. Jüdische Stätten waren geschändet worden, wie beispielsweise der grosse jüdische Friedhof auf dem Ölberg. Damals waren es relativ vernünftige Jordanier, heute wären es zum Teil extremistische Islamisten. Zudem gibt es keinen vernünftigen Grund, dass Jerusalem nicht gemeinsam als doppelte Hauptstadt für ein allfälliges Palästina und für Israel dienen könnte.
Keine Hirngespinste
Die oben aufgeführte Gedanken sind nicht Hirngespinste, sondern Vorstellungen für eine realistische und humane Politik – etwas Seltenes in diesen Breitengraden. Die Zeit ist gekommen, darüber ernsthaft nachzudenken. Für die israelische Regierung besteht ein Handlungsbedarf, der gerade in der heutigen Zeit der gewaltigen Krisen in der arabischen Welt, vielleicht besser realisiert werden könnte, als es früher der Fall war. Natürlich braucht es auch heute einen palästinensischen Partner.
Die Aberkennung israelischer Rechte auf die Westbank durch die EU ist ein Schuss vor den Bug Israels. Soweit es von Israels Politik abhängt, muss dieses Problem bereinigt werden. Von Israel, nicht von den Europäern.