Dass da jeder Staat seine finanziellen Vor- und Nachteile berechnet und hart um den Generalrahmen für die sieben EU-Budgetjahre 2014-2020 pokert, das ist normal. Aber früher sahen sie hinter den Budgetfragen noch die Vorteile, die ihnen die EU bringt, und fanden nach zähem Feilschen zum Kompromiss. Natürlich sehen diese Vorteile auch die 27 heutigen Regierungschefs noch, die letzten Donnerstag und Freitag nach einem Kompromiss suchten. Aber sie reden nicht mehr davon, weil die EU bei ihren Völkern (und Wählern) unpopulär geworden ist.
Ein gefährlicher Circulus vitiosus! Die Ängstlichkeit der Politiker, die Verdienste der Union herauszustreichen, fördert umgekehrt wieder diese EU-Aversion der clichésüchtigen Bürger; sie könnten ihr einmal ganz das Vertrauen entziehen, wenn sich dieser Circulus weiter dreht. Die Politiker haben nicht einmal mehr den Mut, ihren Wählern Wahrheiten zu sagen. Die Deutschen werden von den Schuldnerländern, denen sie Austerity auferlegen, als Nachfolger der „Nazi“ verschrien, doch hat man noch nie einen ihrer Regierungschefs klar und deutlich sagen hören, dass diese Nazis ihrem Land das fürs Überleben nötige Geld vorschiessen.
Gescheitert ist er nicht. Aber das EU-Parlament bockt
Nun aber doch: Dieser EU-Gipfel ist nicht, wie Medien meldeten, „gescheitert“, er hat bloss im ersten Anlauf noch keine Einigung erzielt und sich auf eine zweite Session vertagt. Das war vor sieben Jahren nicht anders. Die Chancen, im zweiten oder dritten Anlauf auch diesmal eine Einigung zu finden, scheinen nicht einmal so klein.
Zwar klaffen die Ausgangspositionen der diversen Ländergruppen weit auseinander. Die „Nettozahler“, jene die jedes Jahr mehr an Mitgliederbeiträgen an die EU-Kasse einzahlen müssen als ihre Bauern und Regionen zurückbekommen, fordern pauschale Kürzungen für die sieben Jahre. Das sind vor allem die nördlichen Länder: Deutschland, Holland, Schweden, Finnland und allen voran England. Natürlich fordern dagegen die „Nettoempfänger“ mit positiver EU-Bilanz höhere EU-Ausgaben, auf sieben Jahre hinaus garantiert.
Und das EU-Parlament bockt. Sein Präsident, der Deutsche Martin Schulz, hat angekündigt, dass es den ganzen Siebenjahresplan ablehnen werde, wenn weiter gekürzt wird. Das Parlaments-Ja zu ihm ist obligatorisch, seine traditionelle Mehrheit von Proeuropäern kann und wird in diesem Fall sein Inkrafttreten verhindern.
Schlagabtausch? Nein, Konzilianz!
Es wurde ein unversöhnlicher Schlagabtausch erwartet, und in der Substanz ihrer Ansprüche haben die Gipfelteilnehmer auch noch kaum Abstriche gemacht. Überraschenderweise haben sie sich aber öffentlich sehr konziliant geäussert. René Höltschi von der NZZ sieht wahrscheinlich richtig, dass ihnen an diesem ersten Gipfel von ihrem Präsidenten van Rompuy die Chance geboten wurde, sich als harte Verteidiger ihrer Landesinteressen aufzuspielen, worauf sie den Kompromiss dann nächstes Jahr als kleines Nachgeben darstellen könnten. So schröpfte Van Rompuy, gewiefter Kompromiss-Makler aus Belgien, in seinem ersten Vorschlag die EU-Agrarausgaben um Milliarden Euro und gab Präsident Hollande Gelegenheit, ein durch ganz Frankreich schallendes Nein zu rufen – und stockte sie dann um 8 Milliarden auf. Diesen revidierten Vorschlag fand Hollande dann schon „vernünftig“.
Und auch der britische Premier David Cameron, der im Parlament mit einem Veto gegen den ganzen Ausgabenplan gedroht hatte, krebste taktisch klug zurück: Er sei nicht nach Brüssel gekommen, um eine Einigung zu verhindern. Und äusserte zu aller Überraschung Verständnis, dass Netto-Empfänger wie Polen mehr Ausgaben wünschten. Am Verhandlungstisch blieb er dann natürlich bei seiner Forderung nach genereller Kürzung der EU-Ausgaben.
** „Rabatte“ komplizieren das Spiel**
Und hart verteidigte er die Unantastbarkeit des britischen „Budget-Rabatts“. England war in den Achzigerjahren des letzten Jahrhunderts zum wirklich überbelasteten Nettozahler geworden, und die legendäre Premierministerin Maggie Thatcher gewann, nachdem sie mit Agarpreis-Vetos gedroht und im Fernsehen ihr „I want my money back“ mit dem berühmten Schwenken ihrer Handtasche ilustriert hatte, einen „Rabatt“ für Grossbritannien: ein Senken seiner Beiträge an die EU-Kasse unter den eigentlich prozentual geschuldeten Anteil, was seither die anderen Länder jedes Jahr mit höheren Beiträgen kompensieren müssen. Jetzt sind auch diese Rabatte Teil des grösseren Techtelmechtels um den Siebenjahresplan geworden: Cameron wehrt sich gegen die Forderung, seinen Rabatt wenigstens mit seinen normal-prozentualen EU-Beiträgen mitzufinanzieren. Österreich gegen die Zumutung, auf seinen Rabatt zu verzichten. Und Dänemark, das bisher keinen Rabatt hatte, fordert nun einen.
„Potentielle Konvergenz“...
Am Ende des Gipfels konnten sich die 27 Regierungschefs dann wieder zu einer zuversichtlichen gemeinsamen Erklärung durchringen: Es bestehe „ein hinreichendes Mass an potenzieller Konvergenz, um Anfang des nächsten Jahres eine Einigung möglich zu machen“. „Potenzielle Konvergenz“! Eine Neuerfindung des EU-Jargons. Sie ist wahrscheinlich sogar vorhanden, aber das Wort verrät und verdunkelt gleichzeitig die Abwesenheit jeglicher Einigkeit über die Zukunft der EU jenseits von Budgetfragen. Abwesenheit jeden Gefühls, dass man noch eine Gemeinschaft von Ländern ist, die eine gemeinsame, jedem zum Vorteil gereichende Zukunft zusammenschweissen sollte. Beat Ammann, Brüsseler NZZ-Korrespondent, hat den Nagel auf den Kopf getroffen: „Das Drama um den Gipfel erweckt den unguten Eindruck, als wäre die EU eine Zwangsjacke, nicht Teil der Lösung von Problemen, die für jedes Mitglied allein ein paar Nummern zu gross sind.“
... aber kein Gemeinschaftsgefühl
Von keinem Gipfelteilnehmer hat man ein anerkennendes Wort für die EU aufgefangen. Obwohl die Brüsseler Gemeinschaft ihren Ländern unschätzbare, einzeln nie erreichbare Vorteile verschafft: einen einmaligen Frieden in Europa, einen Binnenmarkt ohne Grenzen für ihre Produkte und Arbeitnehmer, einen kontinentalen Status in der globalen Welt.
Es schenkt auch keiner seinen Wählern reinen Wein ein über die eingeschnürten Finanzen der EU, es ist zwar unehrlich, aber populärer, über sie zu lästern. Natürlich ist es schwierig, den Bürgern eine Erhöhung der EU-Budgets weiszumachen, wenn sie ihre eigenen Budgets straffen müssen. Aber keiner sagt ihnen, dass der EU ganz anders als ihren eigenen Ländern kein Budgetdefizit und keine Kreditaufnahmen erlaubt sind, dass die Ausgaben der EU 1 Prozent ihres Bruttosozialprodukts ausmachen (in Mitgliedländern manchmal 50 Prozent) und dass, wie der belgische EU-Abgeordnete Verhofstadt ausrechnete, die 140 Milliarden Euro, die der Siebenjahresplan pro Jahr vorsieht, 50mal weniger sind als in den Mitgliedstaaten.
Und die Chefs kämpfen dumm und kurzsichtig nur noch für EU-Ausgaben, die ihren Ländern zugutekommen, und wollen jene kürzen, die ihnen allen dank gemeinsamen Anstrengungen den wohl grössten, aber nicht direkt national zuweisbaren Mehrwert brächten. So bei der Finanzierung des Baus von Bahnlinien und Autobahnen quer durch Europa, von Helsinki bis Sizilien und von Lissabon bis an die polnische Ostgrenze, wodurch man hunderttausenden von Arbeitslosen Arbeit verschaffen könnte. Auch bei der gemeinsamen EU-Forschung, die Europas globale Wettbewerbsfähigkeit stärken würde.
Hinter allem: eine generelle Krise der Demokratie
Hinter dem allem steht eine allgemeine Krise der Demokratie. Unter dem Druck inquisitorischer Medien wollen die Gewählten in der westlichen Welt nicht mehr regieren, nur noch ihre Wähler hofieren und, obwohl das noch vier Jahre dauert, die nächsten Wahlen gewinnen. Die Parteien an der Regierung äugen nur noch auf das Medienecho und das Image, das es produziert. Sogar in der Schweiz, obwohl das Volksabstimmungen manchmal korrigieren. Die letzte Kampagne in den USA degenerierte zu einem hemmungslosen Anschwärzen des Gegners. Republikaner und Demokraten gehen nach ihren Rededuellen im Kongress nicht mehr miteinander essen. In der EU äussert sich die Krise im Unwillen ihrer Politiker, den Wählern deren Mehrwert klarzumachen. Inspiriert von der Legende vom „Demokratiedefizit“ gehen diese Wähler sogar immer weniger zur europäischen Urne, ohne zu merken, dass dieses EU-Parlament, das sie wählen, die EU-Politik gleichberechtigt mitbestimmt.
Demokratiekrise - nicht Demokratiefizit - in der EU!