Der Fachpsychologe und Psychotherapeutt Hans-Werner Reinfried, Uster bei Zürich, hat sich in der Schweiz einen Namen als Gutachter delinquenter Jugendlicher gemacht. Über seine Tätigkeit und seine Erfahrungen hat er zwei viel beachtete Bücher* verfasst.
Frage: Was ist heute anders als früher?
Antwort: Jugendliche haben heute mehr Wahlfreiheiten und mehr Abwechslungen. Sie müssen sehr früh Entscheidungen treffen, die in ihrem Alter ganz besonders schwierig sind.
Worin besteht der Grund für diesen Entscheidungsdruck?
Da gibt es ganz verschiedene Faktoren. Die Schulen haben sich stark verändert. Von den Jugendlichen wird heute viel früher erwartet, dass sie selbstverantwortlich zu lernen beginnen. Früher wurde ihnen etwas vorgesetzt, heute werden kreative Leistungen verlangt. Dazu sind die Freizeitangebote enorm ausgeweitet worden. Vor 40 Jahren war Zürich eine unglaublich verschlafene Kleinstadt. Heute haben wir ein 24-Stunden-Angebot. Früher ging man vielleicht am Freitag oder Samstag um acht oder um halbacht Uhr in ein Lokal, heute öffnen die oft erst um 23:00 Uhr, aber das an jedem Tag in der Woche! Dass man in der Nacht lebt, bringt für die Jugendlichen viele Schwierigkeiten.
Müssen Jugendliche heute stärker im nein Sagen sein?
Sie müssen viel mehr auswählen. Sie müssen entscheiden: Was ist gut für mich, wie viel davon ist gut für mich? Sie haben sehr viel mehr Möglichkeiten. Das ist faszinierend, aber sie können nur wenige von diesen Möglichkeiten wählen. Wenn sie sich nicht genügend abgrenzen können, wenn sie nicht genügend angeleitet sind, wenn sie nicht genügend eigene innere Strukturen entwickelt haben, um Entscheidungen zu treffen, dann ist die Gefahr sehr gross, dass sie überflutet werden.
Innere Strukturen
Lässt sich der Entscheidungsdruck in den Schulen auf eine Schwäche der Lehrer zurückführen?
Nein. Die Schulen haben ihre Didaktik entwickelt, weil sie sich an die Entwicklung der modernen Gesellschaft anpassen. Es braucht entscheidungsfreudige und sehr eigenständig arbeitende Menschen. Darauf werden die Lernprozesse angelegt. Für Jugendliche, die bereits eine innere Struktur entwickelt haben, wirkt sich das enorm positiv aus. Wenn sie also in der Erziehung schon darauf angelegt worden sind, diszipliniert zu lernen, kommen sie damit gut zurecht. Für diese Jugendlichen ist diese Schule ein Paradies. Andere Jugendliche sind überfordert. Sie tun dann bloss so, als ob sie lernen würden, aber in Wirklichkeit hinken sie hinterher, verschliessen sich oder betätigen sich in anderen Bereichen.
Welche Anteile haben diejenigen, die gut zurechtkommen, und diejenigen, denen das misslingt?
Ein Drittel profitiert wirklich, ein Drittel kommt damit noch gerade so zurecht, und ein Drittel profitiert von diesen neuen didaktischen Ansätzen wenig.
Heute sind die Medien ständiger Begleiter und wollen alles jedem zu jeder Zeit bieten. Hat das zur Folge, dass Jugendlichen heute der Verzicht zu Gunsten von längerfristigen Zielen schwerer fällt?
Ein grosser Teil der Jugendlichen wird durch unterhaltende Fernsehsendungen stark in Anspruch genommen. Sie schauen Comedies, bei denen man auch mit halber Aufmerksamkeit noch gut mitkommt. Man sieht Leute, die etwas schwächer und dümmer dreinschauen, als man sich selber fühlt. Man kann sich dabei wohlfühlen, aber es lenkt von der eigenen Entwicklung ab. Bei mässigem Konsum macht das nichts, aber im Übermass bewirkt es Schädigungen. Sie werden ständig angeregt, ohne selber Aktivitäten entfalten zu müssen.
Sich als Held fühlen
Das hat grosse Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Die Jugendlichen suchen immer neue Reize, um sich unterhalten zu lassen. Aber manche sind nicht fähig, irgendetwas kreativ zu gestalten. Im Banne des Konsums sind sie zur Passivität verurteilt. Darunter leidet auch die Hirnentwicklung. Sie wird zu wenig aktiv angeregt.
Bei Jugendlichen, die Bücher lesen, ist das ganz anders. Die müssen sich beim Lesen etwas vorstellen. Das ist ungemein anregend. Jugendliche, die nur konsumieren und alles auf sich zukommen lassen, machen diese Entwicklung nicht durch. Sie sind nicht in der Lage, etwas aus sich selbst heraus zu erschaffen.
Würde man hier auch wieder sagen können, dass jeweils ein Drittel aktiv ist, ein Drittel mehr oder weniger aktiv und ein Drittel oft Verliererseite steht?
In diesem Fall dürfte das untere Drittel grösser sein. Die Tendenz, im Konsum aufzugehen, ist doch sehr stark. Dazu gehört ja nicht nur der Fernsehkonsum, sondern auch das Spielen. Die computergesteuerten Spiele sind noch viel effizienter als die herkömmlichen, wenn es darum geht, Jugendliche zu faszinieren und sie an diese Spiele zu binden.
Jugendliche spielen sehr gerne, denn das ist etwas, was Menschen überhaupt gerne tun. Aber in den modernen Spielen verabreicht der Computer jeweils Belohnungen, ohne dass der einzelne Jugendliche dabei besondere Leistungen erbringen müsste. Er aber hat den Eindruck, dass er etwas Geniales geschafft hat. Dazu kommen die schönen Bilder und die faszinierenden Grafiken.
Plötzlich fühlt sich der Jugendliche fähig, tolle Sportarten zu beherrschen, Krieg zu führen oder andere Herausforderungen zu bewältigen. Wenn er verliert, kann er das Spiel neu starten. Er ist also immer ein toller Kerl. Diese durch Spiele ausgelösten Grössenphantasien stossen auf die Kleinheits- und Minderwertigkeitsgefühle, unter denen Jugendliche sehr stark leiden. Sie werden durch die Spiele überdeckt. Jetzt fühlt man sich grandios, man ist ein Held. Die Jugendlichen können in den Spielen in einem Tempo vorwärts kommen, wie ihnen das in der Schule nie möglich wäre.
Die Eltern als Vorbilder
Wie ist es da mit Jungen und Mädchen?
Die Jungen spielen schon deutlich mehr. Sie sind deutlich verführbarer. Sie wollen grandios sein. Mädchen spielen auch, aber seltener Gewaltspiele. Sie machen mehr Spiele, in denen es darum geht, Häuser einzurichten oder Planspiele, also Spiele, die deutlich harmloser sind. Diese Spiele versprechen weniger Belohnung und erfordern mehr Geduld. Sie müssen mit mehr Ausdauer gespielt werden.
Haben Jugenliche heute noch persönliche Vorbilder?
Da findet man heute vieles nebeneinander. Es gibt Jugendliche, die Vorbilder haben. Sie orientieren sich noch sehr stark an ihren Eltern. Das hat sich kaum geändert. Aber viele Eltern haben sich geändert und nehmen diese Vorbildfunktion zu wenig wahr.
Wenn aber Jugendliche in ihren Eltern Vorbilder finden, finden sie sie auch in manchen Lehrern. Haben sie das zu Hause nicht erlebt, sind sie kaum in der Lage vorbildliche Eigenschaften bei anderen Menschen zu erkennen. Allenfalls laufen sie dann platten Idolen nach, die ihnen jedoch nicht zu bessern Strategien der Lebensbewältigung verhelfen.
Entweder haben Jugenliche mehrere Vorbilder oder gar keine.
Ja, das hat sicher etwas Richtiges. Das hängt damit zusammen, inwieweit ein Kind Verbindlichkeit erlebt und Wertvorstellungen mitbekommen hat, die es dann in der Welt überall zu sehen bekommt. Dadurch wird es darin bestärkt, mit diesen Werten herum zu experimentieren, sie anzunehmen oder sie abzulehnen. Daran kann es reifen.
Romantische Liebe und Pornographie
Wie sieht es mit Intimität und Partnersuche aus? Planen die erfolgsorientierten Jugendlichen primär ihre Karriere oder suchen sie noch so etwas wie die romantische Liebe?
Viele Jugendliche haben durchaus das Bedürfnis nach einer festen Beziehung. Sie wagen den Versuch, eine Beziehung über mehrere Monate zu führen und haben dabei glückliche Gefühle. Aber es gibt auch einen grossen Anteil von Jugendlichen, die eher ungebunden sind und primär sexuelle Abenteuer suchen.
Da sind die Partner austauschbar. Für die meisten ist die Zeit des schnellen Partnerwechsels eine Übergangszeit und nach mehreren Erprobungen, versuchen sie dann doch, bei einem Partner zu bleiben. Nur ein kleinerer Teil lässt sich auch im weiteren Leben auf keine engeren Beziehungen ein.
Gilt das auch für Mädchen?
Das gilt auch für Mädchen. Junge Frauen sind heute wesentlich aktiver. Es kommt nicht selten vor, dass eine Frau sich einen Mann aussucht. Manche Männer sind dann ganz entsetzt, andere sind begeistert. Aber für die Frauen gilt das Gleiche wie für die jungen Männer: Sie sind an einer festen Beziehung interessiert. Auch die Romantik ist nach wie vor gefragt.
Hat der leichte Zugang zu Pornographie eine Rückwirkung auf Beziehungen?
Das Interesse der Jugendlichen an Pornographie ist nicht bei allen gleich stark ausgeprägt. Manche kommen damit in Kontakt, werden aber kaum davon berührt. Andere suchen darin Antworten auf ihre eigenen Fragen. Sie werden von Eindrücken überflutet, die sie nicht wirklich verarbeiten können. Sie erfahren viel über alle Arten der sexuellen Befriedigung, aber sie wissen nicht, wie sie sich ganz praktisch dem anderen Geschlecht nähern sollen. Der erste Kuss wird in der Pornographie schliesslich nicht behandelt. Pornographie kann gerade bei den ersten Annäherungsversuchen zu bizarren Verhaltensmustern führen, die bei Jungen etwas häufiger sind als bei den Mädchen.
Erziehung und Empathie
Wie steht es mit der Gewalt? Haben die einschlägigen Filme und Computerspiele eine Verrohung zur Folge?
Wenn ein Jugendlicher in seiner Kindheit eine empathische Zuwendung erfahren hat, also von seinen Eltern auch gelernt hat, Rücksicht zu nehmen, wird er durch diese Filme sicher kaum zu einem Jugendlichen ohne Mitgefühl werden. Er wird solche Filme nicht so toll finden. Vielleicht empfindet er sie kurze Zeit als lustvoll, weil er auch einmal etwas Verbotenes sehen möchte. Aber die Beeinflussung wird nicht sehr stark sein. Andere Jugendliche, die ohne Empathie aufgewachsen sind, werden durch solche Filme viel stärker geprägt. Sie nehmen pornographische oder gewalttätige Darstellungen als Realität. Da ist der Nachahmungseffekt wesentlich grösser.
Die negativen Einflüsse aus den Medien werden von den positiven Einflüssen guter Eltern absorbiert. Eltern sind das Primäre, medialer Einflüsse das Sekundäre. Gilt das auch für Drogen?
Hier reproduziert sich dasselbe Muster, aber nicht ganz deckungsgleich. Drogen haben extrem starke Wirkungen. Ein Jugendlicher, der in diesen Einflussbereich gerät, wird durch die Droge gesteuert. Das kann auch sehr wohlerzogenen Kindern geschehen.
Der häufige Konsum von Cannabis und Alkohol – heute die zwei grössten Probleme bei den Jugendlichen – wirken entwicklungsverzögernd und -schädigend, wenn sie über längere Zeit eingenommen werden. Der Einfluss der elterlichen Erziehung zeigt sich jedoch auch in dieser Gruppe deutlich. Jugendliche, die gute Beziehungen, Anleitung und Fürsorge bei ihren Eltern erlebt haben, lösen sich deutlich leichter von den Drogen, weil sie über Erinnerungsspuren an eine Welt vorher verfügen, die sie anstreben. Jugendliche, die das vorher nicht erlebt haben, neigen dazu, Drogen immer weiter zu benutzen. Und je unerträglicher ihnen ihre Existenz wird, desto häufiger wird der Konsum.
In welchen Altersgruppen geht das los?
Das beginnt heute schon in der fünften Primarklasse, also mit dreizehn, vierzehn Jahren.
*Hans-Werner Reinfried, Mörder, Räuber, Diebe ... Psychotherapie im Strafvollzug, Frommann-Holzboog 1999
ders., Schlingel, Bengel oder Kriminelle? Jugendprobleme aus psychologischer Sicht, Frommann-Holzboog 2003