Wirtschaftliche Tatsachen und Träume gehen meistens nicht gut zusammen. Schlimmer noch: Je länger man an unsinnigen Träumen oder Visionen festhält, desto dramatischer ist das Erwachen. Griechenland hätte niemals den Euro als Nationalwährung übernehmen dürfen. Griechenland hätte sogar den Euro gar nicht als Nationalwährung übernehmen können, wenn sich der Staat nicht mit gefälschten Bilanzen, getricksten Zahlen und reinen Luftnummern in den Euro geschummelt hätte. Alles bekannt.
In weniger als zwei Jahren ist es dem gesammelten Sachverstand der Eurokraten gelungen, das kleine Problem einer Volkswirtschaft, die weniger als 2 Prozent Anteil am Bruttoinlandprodukt der EU hat, in ein für alle Länder im Euro-Raum bedrohliches Fiasko zu verwandeln. Begleitet von Wortbrüchen, Missbrauch von bestehenden Institutionen wie der Europäischen Zentralbank und der Schaffung von Dunkelkammern wie der «Troika» oder der Aktiengesellschaft nach luxemburgischem Recht namens «Europäische Finanzstabilitätsfazilität». Begleitet von einer weitgehenden Entmündigung der Nationalparlamente, die Stück für Stück ihr wertvollstes Recht, die Verabschiedung des Staatshaushalts, aus der Hand gaben.
Unglaublich, aber wahr
Wir fragten uns vor ein paar Tagen, wie viele der 523 Abgeordneten des deutschen Bundestags eigentlich wussten, welche Bürgschaften sie mit einem Ja übernehmen, im Namen des deutschen Volks. Die Politsendung «Panorama» machte den Test und fragte eine repräsentative Auswahl aus allen Parteien vor laufender Kamera. Ergebnis: erschütternd. Niemand wusste nichts Genaueres. Macht aber eigentlich auch Sinn, denn die beschlossenen 211 Milliarden Euro Bürgschaftsgarantie waren sowieso nur ein Zwischenschritt weiter hinein in den Abgrund.
Man fühlt sich immer mehr an Entenhausen erinnert, wo das Vermögen von Dagobert Duck ja auch nur in Form von Fantastillionen gemessen werden kann, ersatzweise in Quadrillionen. Genau so, begleitet von ähnlichem Geschnatter, geht es inzwischen in europäischen Parlamenten zu.
Paradigmenwechsel
Immer unverständlicher wird allerdings das Verhalten des zwar leiser werdenden Chors von Stimmen, die immer noch Griechenland, den Euro, die Vision von Europa gesundbeten wollen. Dahinter steckt ein eigentlich nur mehr erkenntnistheoretisch fassbares Fehlverhalten. Selbst wenn der Mensch weiss, dass ein Welterklärungsmodell grundfalsch ist, hält er aus Gewohnheit daran fest, vor allem, wenn ihm die Einsicht in die Wirklichkeit nicht behagt.
Etwas störrisch wirkt dieses Verhalten allerdings, wenn sich in für wirtschaftliche Verhältnisse rasanten Kadenz immer wieder neue Erkenntnisse ergeben, die dieses Weltbild, Griechenland und der Euro müssen gerettet, bewahrt werden, über den Haufen werfen. Mal in Zahlen ausgedrückt: 8. 30, 110, 250, 750 Milliarden reichen nicht aus, um das fertigzukriegen. Da macht es sicherlich Sinn, dann halt von 1500 oder gar 5000 Milliarden zu sprechen, oder? Wieso ersetzen wir diese Zahlen nicht einfach gleich mit Fantastillionen? Wer sich nicht heute von diesem Tagtraum, diesen Fantastereien verabschiedet, dem droht ein böses Erwachen, und zwar sehr bald.
Real existierender Europhemismus
Tatsache war und ist, dass Griechenland bankrott ist, seine Schulden niemals zurückzahlen kann und durch eine Fortsetzung der Sparpolitik nicht nur in eine noch tiefere Rezession, in eine massive Wirtschaftskrise abrutscht, sondern bürgerkriegsähnliche Zustände drohen. Tatsache war und ist, dass eine möglichst schnelle Beerdigung der Fehlkonstruktion Euro, die möglichst geordnete Insolvenz von Staaten wie Griechenland, Portugal und Irland, zumindest eine Umschuldung von Italien, Spanien und eine Rekapitalisierung des europäischen Bankensystems (da kommen Frankreich und Deutschland zum Handkuss) die einzige, aber die allereinzige Chance ist, das aktuelle Schlamassel nicht durch ein Riesenschlamassel zu ersetzen. Alles andere ist Europhemismus, wenn man diesen Kalauer gestattet.
Beim Europhemismus handelt es sich um eine erst vor kurzer Zeit entdeckte mentale Erkrankung. Zu ihren Symptomen gehören Äusserungen wie: «Scheitert der Euro, scheitert Europa.» Ein weiteres auffälliges Symptom ist die Unfähigkeit des Befallenen, sich an erst vor Kurzem abgegebene und heilig beschworene Versprechungen zu erinnern. Auch Vertragstreue vermindert sich progressiv beim Fortschreiten der Krankheit. Im Endstadium der Krankheit bringt nicht mal mehr der therapeutische Satz des deutschen Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt Linderung: «Wer in der Politik Visionen hat, soll zum Arzt gehen.»