Emil Nolde (1867–1956) ist einer der beliebtesten Maler überhaupt. Seine farbentrunkenen Gemälde, seine Blumenbilder mit übergrossen Blüten und seine wässrig fliessenden Landschaftsaquarelle stellen der Schönheitssehnsucht kunstsinniger Betrachter keine Hindernisse in den Weg. Nolde garantiert für Publikumserfolg; zumindest bei jenem Publikum, das sehen möchte, was es längst kennt und liebt.
Grotesk, fantastisch, exotisch
Das Zentrum Paul Klee zeigt nun aber einen anderen Nolde als den Champion der Kunstkarten. Mit dem Schwerpunkt auf Werken der 1910er- und 1920er-Jahre tritt ein Künstler in Erscheinung, der inmitten des Aufbruchs zu freiem malerischem Ausdruck den eigenen Weg sucht. Die von der Kuratorin Fabienne Eggelhöfer eingerichtete Schau gruppiert die Zeugnisse von Noldes Suchbewegungen um die Begriffe des Grotesken, des Fantastischen und des Exotischen.
Erste Ausflüge in die Gefilde des Grotesken unternahm Nolde in seinen Schweizer Jahren als Lehrer für Entwurfszeichnen an der Gewerbeschule St. Gallen. Aus dem flachen Nord-Schleswig an der dänischen Grenze stammend, erlebte er Gebirgslandschaften als faszinierend neu, und er erkundete sie auf ausgedehnten Wanderungen und Klettertouren. Als Zeichner und Maler begann er, Berge mit dämonischen Gesichtern darzustellen. Das liess sich gut verkaufen, und Nolde machte mit Postkarten-Drucken solcher Sujets soviel Geld, dass er den Sprung in die Selbständigkeit wagen konnte.
Eine kurze Mitgliedschaft in der Künstlergruppe Brücke brachte Nolde in Kontakt mit Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und weiteren Exponenten des deutschen Expressionismus. Nolde lebte inzwischen mit seiner Frau Ada sommers auf der Insel Alsen und in den Wintermonaten in Berlin.
Dekadente und exotische Reize
Mit beiden Welten, der ländlichen und der urbanen, hat er sich malerisch beschäftigt. Die Grossstadt bildete dabei den Pol der Unruhe, des Fremden und Exotischen, auch des Dekadenten. In Noldes Bildern vom nächtlichen Treiben der Berliner Schickeria steckt die Absicht, die aufgedonnerte Leere der Protagonisten zu demaskieren. Und in ebendiesen Bildern entwickelt er die malerischen Mittel, die er für seinen künstlerischen Weg sucht. Einen hinter die Zurschaustellung sehenden Blick – wie etwa bei Kirchner – gibt es bei Nolde kaum. Ihm genügt es, von einem Sujet als Maler angeregt zu werden. Es ist Mittel zum Zweck, weiter nichts.
Genauso steht es auch mit Noldes Bezug zur „Exotik“ aussereuropäischer Kulturen, die er zuerst an Artefakten im Berliner Völkerkundemuseum studierte und dann bei einer Expedition des Reichs-Kolonialamts nach Deutsch-Neuguinea als „offizieller“ Zeichner kennenlernte. Wenn auch oberflächlich fasziniert vom Exotischen und vordergründig kritisch gegenüber dem zerstörerischen Kolonialismus, liess Nolde doch jede Bemühung um ein Verstehen des für ihn Fremdartigen vermissen.
Soll man ihm das ankreiden? Muss ein bildender Künstler sich für die Wirklichkeit seiner Sujets interessieren? Hätte Nolde den Berliner Nachtschwärmern Gerechtigkeit antun sollen mit einer unvoreingenommenen Wahrnehmung, die nicht vorschnell denunziert? Oder soll man ihm als bekennendem Landei das Recht zugestehen, grossstädtische Szenen auf diese Weise zu zeigen?
Wir geraten hier auf abschüssiges Terrain, auf dem man leicht zu einer moralisierenden Position schlittern kann. Halten wir fest: Kunst muss weder politisch korrekt noch menschlich gerecht sein. Gegen eine verzerrende Darstellung von Grossstadt-Dandys als Karikatur ist nichts einzuwenden.
Malen mit geladenem Revolver
Anders verhält es sich mit dem unreflektierten Auskosten des Exotik-Faktors bei der Wiedergabe ethnologischer Artefakte und erst recht beim Malen fremder Menschen als „eingebetteter“ Künstler auf einer behördlichen Kolonialreise. Verräterisch, wie Nolde selbst die Szene geschildert hat: „Mit überlegener Gebärde, seinen Speer in der Hand, schaute er mich an. Ich zeichnete ihn und malte. Zur Rechten neben mir lag der gespannte Revolver und hinter mir stand, den Rücken deckend, meine Frau mit dem ihrigen, ebenfalls entsichert. Es hat vielleicht niemals ein Maler unter solcher Spannung gearbeitet. Meine Farben flossen hin über das Papier vom Moment und dem Willen diktiert.“
Die „Spannung“ von der Nolde da spricht, bestand nicht nur in seiner offensichtlichen Furcht vor dem fremdartigen Menschen, den er im Bild festhielt. Sie lag auch im Setting der Szene: Der im Auftrag der Kolonialmacht nach Neuguinea gereiste Maler macht den einheimischen Mann, der mit Speer zu posieren hat, zum Objekt, das er in künstlerischer Absicht festhält. Der Dargestellte ist kein menschliches Gegenüber von eigener Subjektivität, sondern lediglich ein der Gewalttätigkeit verdächtiges Subjekt, das mit Waffengewalt und distanzierender Malweise gemäss dem „Willen“ des Künstlers in Schach gehalten wird.
Nolde, der Nationalsozialist
Man kann Nolde heute nicht mehr ausstellen, ohne seine antisemitische und nationalsozialistische Verfehlung aufzuzeigen. Das Zentrum Paul Klee stellt sich dieser Aufgabe.
Nolde selbst hat nicht nur seine Biographie, sondern auch seine Selbstwahrnehmung erfolgreich manipuliert, um sich als Opfer der Nazis darzustellen. Bis vor wenigen Jahren war dies die gängige Lesart seiner Künstlervita. Auch das vermutlich wirkungsvollste Nolde-Narrativ fusste auf dieser Vertuschung: Im 1968 erschienenen Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz ist der fiktive Maler Max Ludwig Nansen (in Anlehnung an Noldes bürgerlichen Namen Hans Emil Hansen) in der NS-Zeit von einem Berufsverbot belegt und malt als künstlerischer Widerständler heimlich weiter. Lenz’ Roman war Best- und Longseller, gängiger Schulstoff im Deutschunterricht und nach 68 gewissermassen das Buch der Stunde.
Genau im Sinne dieses später von Siegfried Lenz geschaffenen Malers Nansen hat sich Hansen/Nolde nach der NS-Zeit selber inszeniert. Natürlich läuft der Zusammenhang umgekehrt: Lenz ist Noldes Manipulationen aufgesessen und hat unwissentlich einer Fälschung zu breiter Wirkung verholfen.
Neue Quellenforschungen, nicht zuletzt durch die Nolde-Stiftung in Seebüll, haben Nolde vom Sockel der ehrenhaften Dissidenz gestürzt. Tatsächlich hat Nolde sich mehrfach mit antisemitischen Äusserungen hervorgetan (entsprechende Passagen in den 1930 und 1934 erschienenen Teilen seiner Autobiographie hat er in späteren Ausgaben getilgt). 1934 trat er in eine regionale Nazi-Partei ein, die 1935 in der NSDAP aufging; ausgetreten ist er nie.
Trotzdem „entarteter Künstler“
Anfänglich stand Nolde bei Goebbels, Himmler und weiteren NS-Führungsleuten in der Gunst, da sie in ihm den Vertreter einer nordischen, mithin genehmen Kunst sahen. Doch Rosenberg und auch Hitler selbst setzten schliesslich eine andere Kunstauffassung durch, die ex negativo in der berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 propagiert wurde.
Auch Bilder von Nolde wurden dort gezeigt und waren nun verfemt. Über tausend seiner Werke wurden aus deutschen Museen entfernt. 1941 wurde er aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen. Diese Massnahme deutete Nolde im Nachhinein zum „Malverbot“ um. Tatsächlich aber konnte er unvermindert weiter arbeiten, und die Nachfrage nach seinen Bildern liess kaum nach. Mit seinen Verkäufen erzielte der erfolgsverwöhnte Maler auch in der NS-Zeit Einkommen, die ihn zu einem Top-Verdiener des Kunstbetriebs machten.
Auf seine offizielle Verfemung als „entarteter Künstler“ reagierte Nolde gegenüber dem Regime mit wiederholten Beteuerungen, ein zutiefst „deutscher“ Künstler und dem Nationalsozialismus treu ergeben zu sein. Er konnte nicht begreifen, vom Regime als Künstler nicht geschätzt und anerkannt zu werden. In diesem Sinn fühlte er sich subjektiv tatsächlich als „Opfer“; doch angesichts der wirklichen Nazi-Opfer war seine Selbststilisierung stillos und infam.
Nolde kritischer einschätzen
Was Nolde immerhin nicht tat: sich an das herrschende Kunstdiktat der Nazis anpassen. Er lieferte keine Heldenbilder, keine Heimatidyllen, keine Illustrationen ideologiekonformen Deutschtums. Seine künstlerische Resistenz war wacher als sein politisches Gewissen, und sie rettet ihm wahrscheinlich seinen Ruf als bedeutender Maler über die vor wenigen Jahren erst erfolgte Demaskierung hinweg.
Die Berner Ausstellung ist eine gute Gelegenheit, die Einschätzung Noldes nach dem Einsturz seines sorgsam konstruierten Narrativs eines von den Nazis verfolgten Künstlers neu zu justieren. Fällt auf seine Blumen und Landschaften, auf die expressiven Ölbilder und Wasserfarbenseligkeiten nicht mehr das Licht der Verfolgungs-Erzählung, so sind die Bilder bloss noch, was sie eben sind: das Werk eines begnadeten Routiniers, der bisweilen ein wenig zaubern kann.
Die Schau des Zentrums Paul Klee hat den Vorteil, den Schwerpunkt nicht bei der Routine, sondern bei der biographisch vorangegangenen künstlerischen Suche zu legen. Das ist im Blick auf eine kritische Nolde-Rezeption verdienstvoll und für Kunstinteressierte ergiebig. Doch ein wirklich grosser Maler kommt dadurch nicht zum Vorschein.
Zentrum Paul Klee, Bern: Emil Nolde, 17. November 2018 bis 3. März 2019, kuratiert von Fabienne Eggelhöfer
Katalog: Emil Nolde – Vetter der Tiefe. Mit der Korrespondenz Nolde– Klee, Snoeck Verlag, 248 S., CHF 39.30