Am 17. März verstarb im Alter von 87 Jahren der Dichter, Dramatiker, Theaterleiter, Universitätsprofessor und Maler Derek Walcott. Sir Derek Alton Walcott, KCSL, OBE, OCC, TC wurde 1930 im westindischen St. Lucia in eine methodistische Familie geboren.
Seine Mutter war Lehrerin, sein früh verstorbener Vater Staatsangestellter und Maler. Bereits als Schüler begeisterte sich Derek für die englische Sprache. 200 Dollar schenkte ihm die Mutter, damit er als Teenager sein erstes Buch „25 Gedichte“ im Selbstverlag veröffentlichen konnte.
Er studierte am St. Mary’s College der University of the West Indies (Jamaica), wirkte als Literatur- und Kunstkritiker, Theatergründer und Journalist in Trinidad und später als Dozent an den Universitäten Columbia, Yale, Harvard, zuletzt in Boston und Essex. Neben dem Nobelpreis 1992 erhielt er unter anderem einen Obie Award 1971 für das Drama „Dream on a Monkey Mountain“, einen McArthur ‚genius award’, den OCM Bocas Preis für Karibische Literatur, den WHSmith Award für sein Hauptwerk „Omeros“ 1990, den T.S. Eliot Preis für den Lyrikband „White Egrets“ 2011, die Queen’s Medal for Poetry und die Erhebung in den Adelsstand. Seine Zusammenarbeit mit dem Maler Peter Doig, „Morning, Paramin“ (2016), erweist zusätzlich Derek Walcotts Talent und Offenheit für neue künstlerische Formen.
Ausbruch aus der Karibik: Nation als Imagination
Das schwedische Nobelpreiskomitee ehrte Walcott für die Art und Weise, wie er im präzisen Sprachduktus „the complexity of his own situation“ verdichte. In der Vielschichtigkeit seiner Herkunft, der kulturellen Vielfalt der Karibik, wo jede Insel ihre je eigene Sprache, Tonalität und Hybridität hervorgebracht hat, liegt der Ursprung von Derek Walcotts lyrischer Positionierung jenseits kolonialer Fremdbestimmung. St. Lucia, 1499 von Kolumbus entdeckt, von den Holländern begehrt, dann vierzehnmal zum Spielball zwischen England und Frankreich geworden, formt seine Bevölkerung. In „The Schooner Flight“ präsentiert sich Walcott wie folgt:
I’m just a red nigger who love the sea,
I had a sound colonial education,
I have Dutch, nigger, and English in me,
and either I’m nobody, or I’m a nation.
Nicht nur erschreibt er sich in seinem mit Patois durchsetzten Englisch eine eigene Persona (I’m, I had, I have). Nach Benedict Andersons „Imagined Communities“ imaginiert Walcott eine eigene Nation: „I had no nation but the imagination“, denn in der Sprache des Empire, die er variiert und bereichert, ist Walcott zuhause. Befangen und befreit zugleich, eine Ambivalenz, die im Oeuvre spürbar bleibt.
Wie liquid die punktgleich im Meer verstreute, Raum und Zeit enthobene karibische Heimat ist, zeigt der Beginn von „A Sea-Chantey“:
Anguilla, Adina,
Antigua, Cannelles,
Andreulle, all the l’s,
Voyelles, of the liquid Antilles,
The names tremble like needles
Of anchored frigates ...
Hier offenbart sich Derek Walcotts Kunst, Inseln, Wasser, Licht und Farben leitmotivisch und lautmalerisch zu evozieren. Ursprünglich wollte er Maler werden und arbeitete bis zuletzt mit Künstlern wie Peter Doig zusammen. Die starken visuellen Eindrücke seiner Bildersprache prägen die Lektüre seiner Gedichtsammlungen. Den Durchbruch brachte „In a Green Light“ (1962), gefolgt von „The Star-Apple Kingdom“ („Das Königreich des Sternapfels“,1979), „The Fortunate Traveller“ („Das glückliche Geschick des Reisenden“, 1981) und „Midsummer“ („Mittsommer“, 1984).
Homer in der Karibik: eine postkoloniale Odyssee
In die karibische Lyrik, so Walcott, mische sich stets Nostalgie nach einer Herkunft, die nie ganz zu eigen gemacht werden kann mit einem Fernweh, das die Welt umfasst. Das an Homer angelehnte Versepos „Omeros“, Walcotts Hauptwerk, verbindet Nostalgie und Fernweh und reiht sich, u. a. mit Alfred, Lord Tennysons „Ulysses“ und James Joyces Ulysses, ein in die Neuschreibungen des klassischen Mythos.
Zwar sind Derek Walcotts Protagonisten Achilles und Philoctete einfache karibische Fischer, Helen eine Bardame, der Erzähler ein weissäugiger afrikanischer Geschichtenerzähler. Doch Irrungen und Wirrungen sind in ihrem Ernst und in ihrer Tragik durchaus vergleichbar mit den mythischen Dimensionen ihrer griechischen Vorbilder. Zwei historische Stränge verbinden sich in „Omeros“: einmal die Geschichte der Gegenwart, wie sie sich in aktuellen Ereignissen niederschlägt, dann die ungeschriebene epische Geschichte der gestrandeten Individuen im karibischen Exil: „Achille put the wedge of dolphin// that he’d saved for Helen in Hector’s rusty tin./A full moon shone like a slice of raw onion./When he left the beach the sea was still going on.“ Individuelle Zeit ist am Ende von „Omeros“ aufgehoben in der Ewigkeit der Gezeiten.
Weltliteratur jenseits Dritte-Welt-Klischees
Derek Walcott benötigt nicht länger glaubwürdige Fürsprecher wie Joseph Brodsky oder Rita Dove. Dennoch ist sein lyrisches und dramatisches Werk im deutschsprachigen Raum weniger bekannt als dasjenige seiner Nobelpreisvorgängerin Nadine Gordimer (1991) und -nachfolgerin Toni Morrison (1993). Eine (Re)lektüre von Derek Walcotts Weltliteratur jenseits aller Dritte-Welt-Klischees drängt sich auf, gerade in Zeiten einer fundamentalistisch angehauchten Sehnsucht nach unvermischter „Identität“. Denn nicht um eine einfache Aneignung europäischer Kultur geht es ihm, sondern im Prozess ihrer Aneignung das Eigene zu entwickeln: „Names“, Edward Brathwaite gewidmet, beginnt so: „My race began as the sea began,/with no nouns. And with no horizon,/with pebbles under my tongue,/with a different fix on the stars. // I began with no memory,/I began with no future,/but I looked for that moment/when the mind was halved by a horizon.“
Heimkehr
Derek Walcotts Symbol und Leitmotiv in „Omeros“ ist die Seeschwalbe, ein kosmopolitischer Vogel, der von seinen Brutplätzen in weiten Kreisen ausfliegen und dabei unermessliche Entfernungen zurücklegen kann. Sie leitet den Helden und führt ihn immer wieder nach Hause zurück. Am Ende entsagt auch der Sänger der Inseln und einer globalen Poesie der Kultur und ehrt, im Angesicht des Todes, die Natur, das Reich der Palmen („Midsummer“, xxii):
These palms are greater than Versailles,
for no man made them,
their fallen columns greater than Castille,
no man unmade them
except the worm, who has no helmet,
but was always the emperor,
Here. Rest. Rest, heaven. Rest, hell.
Sir Derek Walcott wird nach einem Staatsbegräbnis am 25. März in Morne Fortune, St. Lucia, neben dem Inniskilling Monument – erklärt wird hier eine der vielen Schlachten zwischen Engländern und Franzosen – zur letzten Ruhe kommen.
Empfohlene Ausgaben von Derek Walcott:
Dream on a Monkey Mountain and Other Plays. New York. Farrar, Straus & Giroux, Macmillan 1970.
Collected Poems 1948–1984. London, Boston: Faber and Faber 1992.
Omeros. London, Boston: Faber and Faber 1990.
Erzählungen von den Inseln. Auswahl, Uebersetzung Klaus Martens. München: Hanser 1993.
Omeros. Übersetzung Konrad Klotz. München: Hanser 1995.
Der verlorene Sohn. (The Prodigal, 2004) Zweisprachige Ausgabe. Uebersetzung Daniel Göske. München: Hanser 2007.
Weisse Reiher (White Egrets, 2010). Zweisprachige Ausgabe. Uebersetzung Werner von Koppenfels. München: Hanser 2012.
Der verlorene Sohn. (The Prodigal, 2004) Zweisprachige Ausgabe. Uebersetzung Daniel Göske. München: Hanser 2007.
Weisse Reiher (White Egrets, 2010). Zweisprachige Ausgabe. Uebersetzung Werner von Koppenfels. München: Hanser 2012.