Dick Marty, Staatsanwalt und Politiker, war stets auf der Suche nach der Wahrheit. Das behagte vielen nicht, so beispielsweise sein Einsatz für die Konzernverantwortungsinitiative. Kurz vor seinem 79. Geburtstag ist er nach schwerer Krankheit gestorben.
Umsorgt von seiner Familie, ist Marty in seinem Haus in Fescoggia (Malcantone) gestorben. Der Tessiner mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, seiner Ehrlichkeit und seinem lebenslangen Einsatz für die weltweit gefährdeten Menschenrechte hinterlässt eine grosse Lücke.
Sein Vater war aus dem Wallis ins Tessin gezogen. Mit einer starken Sehschwäche geboren, verbrachte der junge Dick lange Wochen in Klinken, aber schliesslich sah er vieles, was andere nicht wahrnehmen wollten oder konnten. In seiner Schulklasse war er der einzige Protestant und während des Religionsunterrichts musste er, zusammen mit einem jüdischen Knaben, das Schulzimmer verlassen.
Entscheidende Telefonate
Telefonanrufe haben Martys Leben bestimmt. Als junger Jurist erhielt er 1972 von einem Professor den Anruf, dass am Max-Planck-Institut für internationales Recht in Freiburg im Breisgau ein Stipendium ausgeschrieben sei. Der frisch verheiratete Marty meldete sich sofort, und zu seiner Überraschung wurde seine Bewerbung angenommen; er zog mit seiner Frau nach Deutschland und forschte dort im Bereich der Kriminalistik und zum Schweizerischen Recht.
Drei Jahr später rief ihn der freisinnige Tessiner Ständerat Ferruccio Bolla an, im Tessin werde ein Posten bei der Staatsanwaltschaft frei. Diese Aufgabe reizte Marty. Er bewarb sich und wurde gewählt. Es begannen ereignisreiche Jahre. Als Staatsanwalt erkannte er, wie internationale Verbrecherorganisationen die Institutionen demokratischer Länder durch Korruption zu unterwandern versuchten, und machte Behörden und Öffentlichkeit darauf aufmerksam.
Dank hartnäckiger Ermittlungen gelang es der Polizei Mitte der 80er-Jahre, bei Bellinzona einen Lieferwagen anzuhalten, in dessen doppeltem Boden sie 100 Kilogramm Heroin fanden. Es war der bis dahin grösste Drogenfund. Marty verfolgte die Spur eines grossen Drogen- und Geldwäschereirings (die sogenannte Libanon-Conection). In dessen Zentrum standen die Brüder Magharian, die in der Folge verurteilt wurden. Für seinen Einsatz gegen das organisierte Verbrechen wurde Marty auch in den USA ausgezeichnet.
Ohne Wahlen in die Regierung
1989 klingelte wieder das Telefon. Der Tessiner FDP-Präsident Fulvio Pelli – ein Bekannter aus Pfadfinderzeiten – wollte Marty überzeugen, in die Politik zu wechseln. Der populäre Tessiner Finanzminister Claudio Generali hatte das Angebot der Banca del Gottardo angenommen, und da im Tessin die Regierungsräte im Proporz gewählt werden, kann der nächste auf der Liste nachrutschen. In diesem Fall schienen die drei «Listenfüller» für den anspruchsvollen Posten nicht geeignet: Pelli musste sie überzeugen, auf das Regierungsamt zu verzichten.
Damit war die FDP frei, einen Nachfolger zu bestimmen, und das war Dick Marty. Er rückte in die Position des Tessiner Finanzministers nach. Sechs Jahren danach wurde er in den Ständerat gewählt, wo er sich für liberale Werte einsetzte. Inzwischen war Pelli, der ihn in die Regierung geholt hatte, im Nationalrat als Fraktionschef der FDP und später als Präsident der schweizerischen Partei tätig geworden. Als sich die Möglichkeit abzeichnete, einen Tessiner zum Bundesrat zu küren, war der unabhängige Liberale seinem ehemaligen Förderer nicht mehr genehm. Marty wurde nicht als Kandidat vorgeschlagen.
Brisanter Bericht mit schwerwiegenden Folgen
Als Ständerat war Marty auch Mitglied der Schweizer Delegation beim Europarat. Da er vor heiklen Aufgaben nicht zurückschreckte, verfasste er nach aufwändigen Recherchen einen Bericht über die Verbrechen der kosovarischen Befreiungsarmee UKC, den der Europarat 2011 fast einstimmig genehmigte. Die Entrüstung im Kosovo war gross. Fast zehn Jahre später wurde der damalige Präsident des Kosovo, Hashim Thaçi, einer der Kommandanten der Befreiungsarmee, von den Ermittlern des Kosovo-Sondertribunals in Den Haag beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben und verhaftet.
Ein paar Monate später, kurz vor Weihnachten 2020, änderte sich Martys Leben abrupt. Er hatte vom Tessiner Polizeikommandanten per Telefon die Mitteilung erhalten, sein Leben sei bedroht. Fortan lebten Marty und seine Frau zusammen mit Elitesoldaten und Polizisten im Haus. Rundum wurden Kameras angebracht. Zu Arztterminen wurde er in gepanzerten Fahrzeugen gebracht. Nach fünf Monaten bewachte die Polizei das Haus nur noch von aussen.
Erst mit der Zeit erfuhr Marty, dass serbische Kriminelle mit Verbindungen zur Belgrader Polizei ihn umbringen wollten. Sie hatten eigentlich nichts gegen ihn, aber sie wollten den Kosovo diskreditieren. Denn nach der Verhaftung Thaçis hätten bei einem Anschlag auf Marty alle angenommen, die Kosovaren hätten sich an ihm gerächt.
Die Informationen über diesen perversen Plan stammten von einem Agenten, der schon zuvor europäischen Staaten, auch der Schweiz, wertvolle Informationen geliefert hatte. In seinem auf französisch erschienen Buch «Sous haute protection» beklagte sich Marty, dass der Bundesrat, der diese Art Überwachung hatte beschliessen müssen, und die Bundesanwaltschaft es unterlassen hatten, auf umsichtige Weise gegen die Kriminellen in Serbien vorzugehen. Marty war auch bitter enttäuscht über das dilettantische Vorgehen der Bundesanwaltschaft und dass er auf seine Fragen nie eine schriftliche Antwort erhalten hatte.
Einsatz für Konzernverantwortungsinitiative
Seinen letzten Kampf hat Marty nicht gewonnen. Als Vizepräsident des Komitees für die Konzernverantwortungsinitiative setzte er sich mit grossem Engagement dafür ein, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz auch im Ausland Menschenrechte und Umweltschutzgesetze achten müssten. Er empfand das als ein durchaus liberales Begehren.
Der freisinnige alt Ständerat stand der freisinnigen Justizministerin Karin Keller-Sutter gegenüber, der er vorwarf, mit ungebührlichem Eifer und mit unwahren Argumenten die Initiative bekämpft zu haben. Vom Volk wurde sie zwar knapp angenommen, scheiterte jedoch daran, dass die Mehrheit der Kantone sie ablehnte. Die Geschäftsprüfungskommission des Eidgenössischen Parlaments hat Dick Marty letzthin Recht gegeben und das Vorgehen von Keller-Sutter kritisiert. Die Bundesrätin hatte nicht neutral informiert, wie es Pflicht der Exekutive ist, sondern direkt Argumente der Gegner übernommen.
Eine Art Testament
Am 14. November hat Dick Marty in Lugano vor grossem Publikum sein letztes Buch vorgestellt: Verità irreverenti (Respektlose Wahrheiten). Es geht darin auch um die Krise des Staates und die Verletzlichkeit der Demokratie. Zu Beginn der Pandemie sei er zutiefst erschrocken, schreibt Marty. Am 15. März 2020 hätten National- und Ständerat beschlossen, die Frühlingssession abzubrechen, und am Tag danach habe der Bundesrat den Rückgriff auf Notrecht angerkündigt. Der Respekt vor den Institutionen hätte jedoch erfordert, diese Massnahme vor die Bundesversammlung zu verkünden.
Die Kassiererinnen von Coop und Migros, das Pflegepersonal seien an ihren Posten geblieben, da hätten auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sich noch in Bern versammeln können. Allzu leicht greife der Bundesrat zu Notrecht, so auch im Fall der UBS im Jahr 2008 und im Fall der Crédit Suisse Anfang 2023. Der Nationalrat habe zwar Nein gesagt zu den Krediten für die Rettung, aber das sei ohne jede Konsequenz geblieben.
Weiter erinnert Marty daran, dass das Bundesgericht in jedem Fall die bestehenden Gesetze anwenden müsse, auch wenn diese nicht ganz mit der Verfassung vereinbar seien. In mehreren Fällen habe dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die schweizerischen Gerichtsentscheide korrigiert und auf diese Weise die Rolle eines Verfassungsgerichtes übernommen, das in der Schweiz nicht existiere. Marty erachtete dies als schweren Mangel.
Martys letztes Buch ist eine Art Testament des liberalen Politikers, der dafür wirbt, Freiheit und Demokratie sorgsam zu hüten. Es ist einzig in italienischer Sprache verfügbar, sollte aber in die anderen Landessprachen übersetzt werden. Eine aufschlussreiche Lektüre für Politikerinnen und Politiker sowie für interessierte Bürgerinnen und Bürger!