Am 19. März 2021 weiht Kardinal Kurt Koch, der frühere Bischof von Basel, Joseph M. Bonnemain, den bisherigen Churer Bischofsvikar und Diözesanrichter, zum neuen Bischof von Chur. Er wird nach einer Vakanz von zwei Jahren Nachfolger von Bischof Vitus Huonder und tritt am hohen Festtag seines Namenspatrons in der arg zerstrittenen Diözese ein schweres Erbe an.
Mit Joseph M. Bonnemain wird ein Opus-Dei-Priester Bischof von Chur. Auch für viele reformorientierte katholische Gläubige ist er schon fast ein Hoffnungsträger – eine Einschätzung, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Sie beweist die desaströse Situation der Diözese, wo nur schon ein Kirchenführer mit menschlichem Anstand und Respekt Hoffnung weckt. Und es ist ein Hinweis darauf, dass auch in einer ideologisch streng konservativen Bewegung wie dem Opus Dei Menschen durch seelsorgerliche Erfahrung reifen und apodiktische Urteile an der christlichen Barmherzigkeit überprüfen, vielleicht sogar den für Opus-Dei-Mitglieder obligaten Bussgürtel zur «Abtötung des Fleisches».
Das Schweizer Problem-Bistum Chur
Das Bistum Chur befindet sich seit dreissig Jahren in einer sehr schwierigen Situation. Sie ist der doktrinären Haltung der Bistumsleitung geschuldet. Vor allem die Bischöfe Wolfgang Haas (1990–97) und Vitus Huonder (2007–19) verfolgten einen reaktionären Kurs und betrieben eine Personalpolitik, die tiefe Spaltungen provozierte und das Klima in der gesamten Schweizer Kirche negativ beeinflusste. Die Öffnung, die das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche brachte und die ein grosser Teil der Schweizer Katholikinnen und Katholiken sehr begrüsst, wurde von der Churer Bistumsleitung konsequent bekämpft und hintertrieben.
Das musste sogar der Vatikan einsehen: Wolfgang Haas wurden zuerst zwei moderate Weihbischöfe zur Seite gestellt, und als auch das nicht half, wurde er ins neugegründete Erzbistum Vaduz abgeschoben, wo er bis heute residiert. Dass Bischof Huonder das Knabeninstitut der Piusbrüder in Wangs als Alterssitz gewählt hat und sich dort nach eigenem Bekunden gut aufgehoben fühlt, spricht ebenfalls Bände: Lefebvres abgespaltene Priesterbruderschaft lehnt zentrale Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils ab.
Einen Höhepunkt erreichten die Verwerfungen, als am 23. November des vergangenen Jahres eine knappe Mehrheit des Domkapitels – das Wahlgremium für den neuen Bischof – sich weigerte, auf die vom Vatikan vorgelegte Dreierliste einzutreten und eine Wahl vorzunehmen. Eine Provokation selbst für den Vatikan.
Grosser Strippenzieher war der Chefideologe und langjährige Vertraute der beiden Spaltpilze auf dem Bischofsstuhl, Generalvikar und Domherr Martin Grichting. Die Dreierliste stellte für ihn eine «feindliche Übernahme» und eine «erpresserische Drohung» dar. Die Empörung über diesen Skandal war auch international gross. Und die Quittung aus Rom kam prompt: Papst Franziskus ernannte zwei Monate später den Erstplatzierten auf dieser Dreierliste – also sozusagen die Vorhut der feindlichen Übernahme «des letzten katholischen Bistums der Schweiz» – zum neuen Bischof von Chur: den konservativen Joseph Bonnemain. Der 72-jährige Domherr war als Mitglied des Wahlgremiums bei der Nichtwahl im November anwesend und trat in den Ausstand, doch er musste alle Anwürfe über sich ergehen lassen.
Wer ist Joseph M. Bonnemain?
Joseph M. Bonnemains Herkunft (*1948) ist geprägt durch eine Kultur grossen politischen Eigensinns. Seine Heimatgemeinde Les Pommerats gehört zu jenem Teil des Schweizer Juras, der sich nach heftigen Wirren vom Kanton Bern abspaltete und seit 1979 den Kanton Jura bildet. Geboren und aufgewachsen ist er jedoch in Barcelona, seine Mutter ist Katalanin, gehört also zu einer Volksgruppe, für die Widerspenstigkeit zum Markenzeichen gehört.
Nach seinem Medizinstudium mit Promotion an der Universität Zürich studierte er Philosophie und Theologie in Rom, wurde 1978 von Kardinal König zum Priester der Prälatur des Opus Dei geweiht und promovierte zwei Jahre später im Kirchenrecht. Als Seelsorger wirkte Joseph Bonnemain schon während seines Studiums in der spanischen Region Navarra, ab 1980 in Zürich als Studentenseelsorger, spiritueller Ratgeber und bis zuletzt als Spitalseelsorger. Von 1983–1991 war er Mitglied der Delegation des Heiligen Stuhls bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Viel Respekt hat er sich als Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» erworben, das die Schweizer Bischofskonferenz 2002 eingerichtet hat. Ausserdem ist er Vorsitzender des diözesanen Gerichts und gehört seit 2008 dem Bischofsrat an.
Joseph Bonnemain kennt also die Diözese Chur durch und durch und war lange ein treuer Diener seiner Herren. Doch bei aller Loyalität und unstrittig konservativer theologischer Einstellung hatte er zunehmend ein offenes Ohr für die Nöte der Seelsorgenden und der Gläubigen und übernahm Aufgaben eines Brückenbauers. Diese Funktion wird in den kommenden Jahren seine grösste Aufgabe bleiben.
Seine grössten Herausforderungen
Für den Berg an Herausforderungen, den Joseph Bonnemain abzutragen hat, sind die ihm gewährten fünf Jahre eine kurze Zeit. Ein neuer Geist des Zuhörens und des Vertrauens, Bereitschaft zur Kooperation und eine glaubwürdige Autorität müssen Platz greifen. Das gilt zuallererst gegenüber den Seelsorgenden, die sich in den letzten Jahren im Stich gelassen vorkamen. Ideen sind da, Energien müssen jedoch geweckt und gefördert werden.
Von einem neuen Vertrauensverhältnis ausgehend sind entscheidende Weichen zu stellen: Personalpolitisch stehen wichtige Besetzungen bevor. Gremien sind neu zu bestellen. Das Gleichgewicht der grossen Regionen der Diözese ist wiederherzustellen. Die Entfremdung von der urbanen und bevölkerungsreichsten Region Zürich muss überwunden werden, vielleicht gar durch die Schaffung eines Doppelbistums Chur-Zürich. Unabdingbar ist auch ein neues Einvernehmen innerhalb der Schweizer Bischofskonferenz, in der Chur seit Jahren ein widerborstiger Fremdkörper war, der allzu oft gemeinsame Projekte im Keim erstickte.
Nicht zuletzt muss Joseph Bonnemain mit einem Spezifikum schweizerischer katholischer Kirchlichkeit zurechtkommen, das seine Vorgänger wie den Teufel bekämpften und als unkatholisch abschaffen wollten: die Landeskirchen. Seit dem Spätmittelalter misstrauten die Eidgenossen kirchlichen Hierarchien und setzten darum bei deren Lebensnerv an: Sie verweigerten ihnen die Hoheit über die Steuergelder und verlangten darüber demokratische Kontrollen. Die Landeskirchen nehmen als Körperschaften nach staatlichem Religionsrecht die entsprechenden Prüfungen wahr.
Die Ironie der Geschichte: Zürich und grosse Teile der Zentralschweiz gehören noch heute nur provisorisch zum Bistum Chur – als unerledigter Rest der Zertrümmerung des Bistums Konstanz vor genau 200 Jahren. Es war die Entscheidung eines antiaufklärerischen Papstes, dem es ein Dorn im Auge war, dass der Konstanzer Bischof Karl Theodor von Dalberg und vor allem sein Generalvikar Ignaz Heinrich Karl von Wessenberg eine Theologie vertraten, die sich den Herausforderungen ihrer Zeit stellte. So hat Pius VII. das grösste Bistum nördlich der Alpen kurzerhand aufgelöst, ohne ein verbindliches Konzept für die Zukunft zu haben. Was kümmert schon Ideologen das Chaos, das sie hinterlassen!
Sackgassen eines absolutistischen Kirchenbilds
Die Churer Wirren sind ein Lehrstück für die Sackgassen eines absolutistischen Kirchenbilds. Geraten Ideologen an die Schalthebel der Macht, fehlen die «Checks and Balances», also Instanzen der Gewaltenteilung, die für Kontrolle und Ausgleich sorgen und eine gedeihliche Entwicklung der Institution langfristig sichern. Dogmatische Halsstarrigkeit, Rechthaberei und Willkür werden dann als «Gottes Wille» ausgegeben und nicht selten vom Kirchenrecht gedeckt.
Grössenwahnsinnige Kleriker entwickeln die Arroganz, allein die «wahre katholische Kirchlichkeit» zu vertreten und sie besser zu kennen als selbst der Papst. So entfaltet sich eine kirchliche Parallelgesellschaft, die sich gegenüber der «bösen Welt» absondert und das Gegenteil von dem lebt, was Jesus als Sauerteig der Welt verstanden hat. Und es ist nicht verwunderlich, dass säkulare Kräfte diesen Trend spiegelbildlich befördern. Eine abgespaltene Religion ist nicht mehr prophetisch und sozialpolitisch – und somit ungefährlich, mindestens solange sie nicht in einen gewalttätigen Extremismus kippt. In dieser Logik wurde Martin Grichting bis zuletzt von der ach so liberalen NZZ als Kolumnist zu katholischen Themen hofiert.
Die Kirchenrechtlerin Sabine Demel von Regensburg hat die Problematik auf den Punkt gebracht: «Wenn ein Bischof und seine Bistumsleitung nur ihr eigenes Tun und Entscheiden für Geist-gewirkt erklären, das Wirken des Geistes in allen anderen Gliedern aber in Abrede stellen, sind sie nicht Geist-fördernd, sondern Geist-hemmend tätig, ja im Extremfall sogar Geist-auslöschend. In solchen Situationen kann es daher vorkommen, dass der Geist an der Zustimmung des geweihten Amtes vorbeiwirkt.» (Feinschwarznet, 27. Juli 2020)
Ob Joseph Bonnemain über die Kraft und Ausdauer verfügt, um die ideologischen Sperren, die auf seine Biographie einen prägenden Einfluss ausübten, zu überschreiten, wird sich bald zeigen. Die Souveränität ist ihm zuzutrauen. Gläubige und Seelsorgende, auch aufgeschlossene, schenken ihm Vertrauen. Wenn er bis Pfingsten Martin Grichting wegbefördert hat, ist ein erster wichtiger Schritt getan, damit Glaubwürdigkeit wieder einkehren kann. Grichtings engste Mitstreiter haben ihm den Weg vorgezeichnet: Weihbischof Eleganti und Pressesprecher Gracia haben von sich aus demissioniert.
Eine gute Hand – une bonne main – ist Bischof Bonnemain zu wünschen, und eine kräftige Portion jurassisch-katalanischen Widerstandsgeistes gegen jede Form von autoritärem Zentralismus.