Peter Lüthi hat in Basel osteuropäische Geschichte und Russistik studiert. Nach der Auflösung der Sowjetunion war er bis zum Ausbruch des Ukrainekrieges mehrfach in Russland und der Ukraine als Lehrer und Berater von freien Waldorfschulen tätig. Im Juni und Juli dieses Jahres hat er sich für drei Wochen erneut in Russland aufgehalten. In diesem Text fasst er seine Erfahrungen und Überlegungen zu den aktuellen Stimmungen und ideologischen Mechanismen in Putins Reich zusammen.
Zwei Monate vor mir besuchte Nationalrat und Chefredaktor Roger Köppel die russische Hauptstadt und berichtete in «Weltwoche Daily» nicht kritisch, aber gutgelaunt über seine Erfahrungen (1). Besonders ins Schwärmen brachte ihn die allgemeine Fröhlichkeit und «heroische Gelassenheit» der Menschen in Moskau sowie die ungeachtet der Sanktionen vollen Warenhäuser und Restaurants.
Ist diese heroische Fröhlichkeit (wenn ich Köppels Worte neu kombinieren darf) gleichzeitig mit einer Zerstörungsorgie im Nachbarstaat nur täuschende Oberfläche? Meine Reise sollte unter anderem mich näher an diese Frage der «Stimmung» in Russland herankommen lassen, Gespräche in Russland selbst wurden mir zu einer Notwendigkeit, ohne technische Vermittlung, mit Menschen, deren Vertrauenswürdigkeit ich mit Sicherheit einschätzen kann. Das leidenschaftliche Rechthaben, das sich in der dominanten Argumentation sofort einstellt, löst sich in den wirklichen Begegnungen auf in Differenzierungen und Fragen.
Ankunft in Moskau im Schatten der Prigoschin-Rebellion
Während ich am Morgen des 24. Juni von Basel nach Antalya in der Türkei flog, besetzten Wagner-Söldner das für den Krieg bedeutende Hauptquartier der russischen Armee in Rostow, ohne auf Widerstand der Armee oder der Bevölkerung zu stossen. Mit der sanktionierten Aeroflot flog ich am Nachmittag von Antalya nach Moskau, gleichzeitig marschierten Wagner-Söldner ebenfalls nach Norden, bis auf 200 km an die Hauptstadt heran. Als mein Flugzeug nach einem weiteren Umweg in Moskau landete, war immer noch Putins Regierung an der Macht. Bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt konnte man noch Wachposten der Armee mit Schützenpanzern bemerken, die für den Ausnahmezustand aufgeboten worden waren. Offenbar hatte die Regierung die Bedrohung ernster genommen als ich.
Schon dieser Auftakt zu meiner Reise konnte zur Einsicht verhelfen, dass man es bei der «Stimmung» in diesem Land doch mit etwas viel Rätselhafterem zu tun hat, als was sich durch Meinungsumfragen ermitteln lässt. Die Zustimmungsrate zu Regierung und Krieg seien so hoch wie nie, versicherte ein russischer Politologe zuhanden der «Weltwoche». Es wird von der Staatsmacht auch viel für dieses Ergebnis investiert, damit nicht nüchterne Analyse gut informierter Staatsbürger über Ja oder Nein zum Krieg entscheide. Das instinktiv andere Verhältnis zum Staat, die andere Stimmung ihm gegenüber, muss miteinbezogen werden, wenn man in Russland von «Zu-Stimmung» sprechen will.
I. Die ideologische Wolke
Erste Rechtfertigung des Krieges: Denazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine
Im Lauf des Herbstes 2022 ist in der Strategie der Regierung zur Förderung der Zustimmung ein fliessender Umschwung vollzogen worden, so dass jetzt zwei nicht harmonierende Ansätze nebeneinander laufen.
Einerseits wird die Wirklichkeit des Krieges heruntergespielt. Es handelt sich nur um eine «Spezoperation», also einen von der Macht kontrollierten Vorgang, bei dem man nicht an Tod und Zerstörung denken muss wie beim Wort «Krieg». Die Spezielle Militärische Operation (SVO), wie sie im amtlichen Wortlaut heisst, wurde mit einem klar formulierten und begrenzten Ziel eingeleitet: «Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine», ein Vorgang ausserhalb der Heimat, mit Aussicht auf ein schnelles, erfolgreiches Ende dank einer weit überlegenen Armee. Hochmoderne Atomwaffen sichern die Operation im Hintergrund ab. Sogar in der Kriegserklärung am 24. Februar muss Putin die neuste, unwiderstehliche Generation der russischen Atomwaffen erwähnen (2).
Charakteristisch für den Kult dieser Waffen ist ein vom Verteidigungsministerium geförderter Videoclip mit Denis Majdanov, Duma-Abgeordneter für die Staatspartei «Einiges Russland» und einer der bekanntesten Popsänger. In ihm wird die neue Interkontinentalrakete «Sarmat» liebevoll als «Sarmatuschka» inszeniert. Dieser Kosenamen reimt sich auf Matuschka, Mütterchen Russland, das in seinem Schutz ruhig sein kann, denn der «Recke mit komplexer Elektronik» «wartet nur auf das Kommando, um den Feind in seinem Fuchsbau aufzuspüren».
Das ganze Jahr vor dem Beginn des Kriegs wurde das russische Medienpublikum darauf eingestimmt, sich über die Schwäche der Nato lustig zu machen sowie über die unvorbereitete ukrainische Armee. An einen wirklichen, bedrohlichen Krieg, der auch das Leben der ganzen russischen Bevölkerung unkontrolliert verändern würde, sollte man deshalb am 24. Februar 2022 nicht denken.
Zweite Rechtfertigung des Krieges: der Heilige Verteidigungskrieg gegen den Westen
Erst als im September die russische Armee zurückweichen und Putin eine Teilmobilmachung verkünden musste, wurde vielen bewusst, dass man seine Angehörigen sogar in einer Spezoperation verlieren kann. Die Schwäche der russischen Armee und der stärkere Einbezug der Bevölkerung durch die Teilmobilisierung erforderte einen neuen ideologischen Griff. Unerwartet wurde im Herz der Propaganda, bei Fernsehkanal Rossija 1, das Wort «Krieg» ausgesprochen, was doch schon für manche Bürger wegen «Diskreditierung der Armee», die ja keinen Krieg führt, zur Verhaftung geführt hatte.
Seither gilt: Russland führt bis heute seine Spezoperation weiter, aber der «Kollektive Westen» hat eine Aggression gegen Russland begonnen, die man nur Krieg nennen kann. Es geht um die Verteidigung der Heimat, um die letzte Schlacht des Heiligen Russlands gegen das Böse, das schon immer von Westen kam und es auch auf die Seele und den Geist Russlands abgesehen hat, nicht nur auf seine Ressourcen. Im berühmten Kloster Optyna hielt ein Berater des Verteidigungsministers in Uniform einen Vortrag, nachdem ein Mönch das Gebet gesprochen hatte: «Der mentale Krieg. Der Westen gegen Russland».
Die Stimmung für diese ideologische Wolke, die seit Herbst 2022 sich wirksam über das Land breitet, war schon lange vor dem Krieg veranlagt worden. Ein Beispiel unter vielen: Schon 2020 liess eine Duma-Abgeordnete von «Einiges Russland» einen Kinderchor den Schwur singen und dazu die Faust recken: «Wenn der Oberkommandierende uns ruft zur letzten Schlacht – Onkel Wowa, ich bin mit dir!» (Wowa: vertraulich für Vladimir).
Das Bild vom Gerechten Krieg klingt nun in unzähligem Echo in festgelegten Formeln weiter bis in die hintersten Provinzen, wie sich in den Lokalmedien mitverfolgen lässt. Ein einfacher Soldat, der gerade als Held ausgezeichnet wurde, entschuldigt sich im Lokalfernsehen fast dafür, dass er beachtet wird. Er hat ja nichts Besonderes gemacht, nur seine Pflicht erfüllt – «wenn wir die Nazis nicht dort bekämpfen, kommen sie zu uns».
«Die Ehefrauen der Kämpfer in der Spezoperation sind Menschen besonderer Art», schreibt ein Reporter bewundernd. Eine junge Frau, die gerade ihren Mann verloren hat, erzählt von ihm: «Er vergötterte unsere Kinder, sagte immer, dass er alles für sie gibt – und so hat er es gemacht, er hat sein Leben für seine Kinder gegeben.»
Der Krieg in Irkutsk
Dieser Krieg des Westens gegen die geliebte Heimat Russland ist im Juli 2023 im öffentlichen Raum sehr präsent. In Moskau wie in Irkutsk (rund 5200 Kilometer östlich von Moskau) und entlang der Autobahnen wird auf grossen Plakatflächen daran erinnert, erstens, dass es Helden gibt, die sich freudig für Kameraden und Vaterland geopfert haben, zweitens, dass es mehr freiwillige Verteidiger der Heimat braucht. «Die Heimat schützen ist ein Beruf», «Wir lassen die Unseren nicht im Stich». Im Netz dazu der passende Videoclip vom Verteidigungsministerium, der zuerst argumentiert, dass es doch etwas peinlich sei, als Mann Taxi zu fahren oder einen Supermarkt zu überwachen, um dann Männer in Kampfmontur zu zeigen mit dem Spruch «Du bist doch ein Mann. Sei es!»
Plötzlich ist der Krieg auch in Irkutsk nahe, 5200 km von der Front entfernt, und der Videoclip, der die Taxifahrer beschämen könnte, wird Wirklichkeit. Ein junger Mann, der mich im Taxi zu einer Datscha fährt, antwortet auf die Frage, ob er schon lange Taxi fahre, in trockenen Sprachfragmenten: Nein. Ich habe gekämpft. Bei Kramatorsk. Ich bin weggelaufen. Ich habe auf Befehl zwei ukrainische Gefangene erschossen. Sie konnten doch nichts dafür. Jetzt muss ich damit leben. Ich habe doch Kinder. Ich musste weg.»
Ich finde leider nicht die richtigen Worte in dieser plötzlichen Gegenwart der Spezoperation, in der wie in jedem Krieg Verbrechen begangen werden von jungen Männern, die vielleicht zurückkommen zu ihren Angehörigen und nahen Menschen. Der Nachbar in der grossen Datschensiedlung, die immer noch «Sechster Fünfjahresplan» heisst, hat seit Kriegsbeginn die Sowjetflagge gehisst.
Am zentralen Platz in Irkutsk wird auf einer grossen Plakatfläche ein Held porträtiert unter dem Titel «Sieg in der Unsterblichkeit». «In der Schlacht verwundet, deckte er mit seinem Leib eine Granate, damit seine Gruppe entkommen konnte. Mit dem Preis seines Lebens rettete er die Kameraden.». An einem Institut daneben ist die Metallbüste von einem jungen Mann in die Mauer eingelassen. «Hier lernte Sergej Solotuchin, ausgezeichnet mit dem Orden des Mutes. 1999–2022.» Frische Nelken liegen dabei. Die Hauptfassade des Stadttheaters, vor dessen Eingang schon seit vielen Jahren auf einer Plakatsäule stolz ein lobendes Grusstelegramm Stalins gezeigt wird, ist mit einem riesigen Z bedeckt.
Auf dem zentralen Platz ist eine Plakatausstellung «den Kämpfern gewidmet, die den Dienst in der Zone der Spezoperation auf sich nehmen». Sie berichtet vom heldenhaften, doch auch fröhlichen und romantischen Leben an der Front, in anrührenden Fotos und Gedichten. Das Grauen scheint im Krieg nicht stattzufinden. Dabei war Remarques «Im Westen nichts Neues» früher einmal auch in Russland ein Bestseller.
Gott mit uns!
An diesem Platz stand die grösste Kathedrale von Irkutsk, bis sie 1932 von der Staatsmacht gesprengt und durch ein kolossales Parteigebäude ersetzt wurde. Die kleineren Kirchen im Umfeld blieben erhalten, sie wurden einfach umgenutzt als Lager- und Fabrikationsräume. In all den restaurierten Kirchen, die nie leer sind von Gläubigen, ist der Krieg ebenfalls präsent durch eine Annonce im Eingangsraum oder ein grosses Plakat vor dem Eingang. «Hilfe den Bewohnern des Donbass und den Verteidigern Russlands! Mit dem Segen des Metropoliten wird eine Sammlung von Ausrüstungsgegenständen für die Kämpfer unserer Armee und die Bewohner des Donbass durchgeführt.» Ein Foto auf einem der Ausstellungs-Plakate zeigt eine Christus-Ikone im Feldlager «Mit dem Glauben überwinden wir alles. Die Flagge Gottes montieren wir zuerst – dann alles Übrige», berichtet ein Soldat.
Gott, genauer gesagt: der Gott Russlands, ist überall dabei, wenn die Helden ermutigt werden, für das rechtgläubige Vaterland zu sterben, oder wenn sie bereits gefallen sind. Diese dürfen ungeachtet ihrer Sünden direkt in den Himmel kommen, laut Patriarch Kiyill. «Russland muss als Siegerin aus jenem Kampf hervorgehen, der von den Kräften des Bösen entfesselt wurde. Heute müssen alle Kräfte mobilisiert werden, auch die Kirche, um Gebete hervorzubringen für unsere Macht, unsere Streitmacht. Bewahrt unser Vaterland, und wenn die unvermeidliche Stunde herankommt, es mit Kraft zu verteidigen: Brecht auf zu seiner Verteidigung, wie Alexander Newskij oder Zar Peter!», predigte er am 13. September bei der Überführung der Reliquien von Alexander Newskij in die Kathedrale seines Namens. Nur ganz wenige, nicht ranghohe Priester im riesigen Land wenden sich vor den Gläubigen gegen den Krieg als etwas nicht von Christus Gebotenes. (Überdurchschnittlich viele Buddhisten und Muslime fallen für den russischen Gott.)
Ein besonderes Ansehen geniesst seit dem Krieg ein junger blonder Mann mit dem Künstlernamen Schaman, der die Weihe von Putin und Patriarch bekommen hat als echter Sohn Russlands. In seinen grössten Erfolgen, die auch wie Hymnen sich verbreitet haben und in Schulen gesungen werden, heisst es zum Beispiel:
Ich bin Russe, ich gehe bis zum Ende,
Ich bin Russe, mein Blut ist vom Vater,
Ich bin Russe, ich habe Glück,
Ich bin Russe, der ganzen Welt zum Trotz.
Wir – das ist das Ewige in unserem Blut.
Wir leben nicht auf den Knien.
Mit uns ist der Glaube und die Liebe, mit uns ist Gott.
Stalin, der Auferstehende
Der russische Gott fehlte auch nicht, als am 15. August 2023 die erste neue Monumentalstatue Stalins errichtet wurde. Die Menge der Teilnehmer entsprach keineswegs der 8-Meter-Monumentalität der Statue. Ein Priester, allerdings ohne Zustimmung der Kirchenhierarchie, bespritzte den Wiedererstandenen mit Weihwasser. Eine der bekanntesten Filmschauspielerinnen des Landes hielt eine Ansprache, in der sie Stalin lobt, weil er die Abtreibung verboten habe und weil er konsequent gegen die inneren Feinde des russischen Volkes, die es immer gab und auch heute gibt, vorgegangen sei. Und sie sann darüber nach, warum wohl frühere Patriarchen Stalin «den von Gott Gesandten (богосланный)» nannten. Ein Teilnehmer der Zeremonie trug ein Plakat: «Dem Volk ist Stalin nötig. Und er wird wiederkommen.» Ein anderer: «Stalin ist nicht in die Vergangenheit entschwunden. Er hat sich in das Zukünftige aufgelöst.»
Stalin kann im gegenwärtigen Russland nicht nur auf dem Weg des Verdrängens seiner Verbrechen wieder zu Ehren kommen. Es gibt einen Ruf nach der notwendigen harten Hand. Alexander Dugin, der bekannte politische Denker und Propagandist mit guten Beziehungen zur Armee und zu den Medien, formulierte es am 24. Juli 2023 so: «Ich bin ein Anhänger von Repressionen, auch wenn ich verstehe, dass sie nicht nur Schuldige treffen. … Als in der Sowjetunion Repressionen waren, war das Land gross und stark. Als sie beendet wurden, begann es zu verfaulen, sich zu zersetzen und abzusterben.»[iii]
Der Krieg in den Schulen
In diesem Schuljahr am 1. September werden die obligatorischen Unterrichtsstunden zur «praktisch-militärischen Erziehung», inklusive Drohnensteuern, beginnen.[iv] Aber schon seit dem 1. September des letzten Schuljahres beginnen alle Schulkinder von Kaliningrad bis Kamtschatka die Schulwoche mit dem Aufziehen der Flagge und singen dazu die Nationalhymne. «Russland, unser heilig erhabener Staat. Russland, unser geliebtes Land. Sei gerühmt, unser freies Vaterland, ewiger Bund brüderlicher Völker. Wir sind stolz auf Dich! Du bist einzigartig auf der Welt, von Gott behütete heimatliche Erde!» Anschliessend an die Anbetung der Fahne haben die Klassenlehrer in allen Schulstufen ein «Gespräch über das Wichtige» als Erziehung zum Patriotismus zu führen. Was genau wichtig ist, dazu gibt das Bildungsministerium für jeden Montag ein neues Thema bekannt, nur als Empfehlung.
Auch in der Freizeit sollen die Kinder der patriotischen Förderung nicht entbehren. 2016 gründete das Verteidigungsministerium die «Jugendarmee», Junarmija, die seither schon 1,3 Millionen Mitglieder zwischen 8 und 18 Jahren gewinnen konnte. Sie will ein Beitrag sein zur «Erziehung des Staatsbürgers und Patrioten», «auf der Grundlage des bestehenden Wertesystems in der russischen Gesellschaft». Sie soll «das Prestige des Militärdienstes in der Gesellschaft erhöhen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit, ihn zu leisten».[v]
Im Juli 2022 wurde zum Jubiläum «100 Jahre Lenin-Pionier-Organisation» die «Bewegung der Ersten» gegründet, unter Aufsicht des Präsidenten. Das Ziel ist, wenn auch auf freiwilliger Basis, alle Kinder von 6 bis 18 Jahren zu erfassen. Man sucht «Kinder, die bereit sind, ihren Namen in die Geschichte Russlands einzuschreiben». «Sie ehren das historische Erbe und nehmen Anteil am Schicksal des Landes, dessen wichtigster Wert war, ist und sein wird – die Familie.» (Die Regierung lanciert gleichzeitig Kampagnen zur Erhöhung der Geburtenrate, um im Land der Familie endlich «die demographische Wende» zu erzielen.)
2022 wurden neue Geschichtsbücher herausgegeben. Aber auf den 1. September 2023 wurde überraschend eine ergänzte Ausgabe angekündigt, die auch den Krieg in der Ukraine einschliesst, mit den Kapiteln «Druck auf Russland von Seiten der USA – Verfälschung der Geschichte – Auferstehung des Nazismus; die Ukraine als neonazistischer Staat.» Die Schüler erfahren dort, dass in der Ukraine «alle Opposition verboten ist und jegliche Andersdenkenden verfolgt werden». Es mag die Jugendlichen über die Zustände im eigenen Land trösten.
Ein patriotisches Urteil sollen diejenigen Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse unter Beweis stellen, die 2024 das Einheitliche Staatliche Examen ablegen. Für die Fächer Geschichte und Literatur wurden die zu prüfenden Kompetenzen festgelegt, welche den Zugang zu den Hochschulen gewähren. «Formierung von russländischer staatsbürgerlicher Identität, Patriotismus, Verantwortungsgefühl vor seiner Heimat; Stolz auf deren Sprache und Kultur, auf Vergangenheit und Gegenwart von Russlands Volk. Wertschätzung gegenüber den staatlichen Symbolen, den Denkmälern, den Traditionen der Völker Russlands, den Errungenschaften Russlands in Wissenschaft, Kunst, Sport, Technologie und Arbeit. Bereitschaft zur Verteidigung des Vaterlands, Verantwortung für dessen Schicksal.»
Ein anderes Erinnern
Ausserhalb von Irkutsk, geborgen in einem lichten Birkenwald, wird auch der Vergangenheit gedacht. Hier wurden am Ende der Perestrojka von der damals neu gegründeten und 4 Tage nach Kriegsbeginn verbotenen Organisation «Memorial» die Massengräber von über 15’000 zur Zeit des stalinistischen Terrors im Stadtgebiet erschossenen Menschen entdeckt und nach ersten Ausgrabungen in Ehrfurcht bewahrt. Schon 1989 wurde hier versucht, den Opfern eine Würde zurückzugeben, einige von den Tausenden erhielten ein kleines Porträtfoto mit Namen. Wehrlose «Feinde des Volkes», das heisst der Staatsmacht, wurden hier 1937 bis 1940 in einer «Spez-Zone» (so hiess der Fachausdruck!) des NKWD beseitigt. Auf Gedenksteinen wurde eingeschrieben: «Wir rufen euer Gedächtnis an, euer Herz: Lasst nicht zu, dass unser Schicksal eures werde.»
Unerwartet treffe ich auf diesem Gelände eine von den Behörden sogar aufgewertete und besser erschlossene Gedenkstätte an als vor 6 Jahren. Tausende von Namen sind auf langen Wänden aus dunklem Stein eingetragen, wie sonst nur auf Schlachtfeldern Gefallene geehrt werden. Stalin als Verantwortlicher wird nicht genannt. Die Investition zur Erinnerung an Stalins Opfer widerspricht der vom Kreml verordneten Linie, die Archive wieder zu versiegeln und alle Aufmerksamkeit den Opfern des Faschismus zu widmen. Die Erinnerung an die ungeheure Unmenschlichkeit der eigenen Staatsmacht gehört auch nicht zum «Wichtigen» in den Gesprächen zum Anfang der Schulwoche. Man sagt mir, dass der in Irkutsk für diese Investition zuständige Beamte durch seine Familiengeschichte mit Opfern des Terrors verbunden sei und deshalb sich gegen den Strom des Verdrängens gestellt habe. Die schlichten Gedenkkreuze für die polnischen und die litauischen Opfer wurden in diesem Jahr entfernt – wegen fehlender Baubewilligung.
Denkmäler
Das «Gedenken einer ruhmreichen Vergangenheit» steigert sich jedes Jahr, abzulesen nicht nur an den Geschichtsbüchern, sondern auch an einer Renaissance der Denkmäler, die eine Kontinuität des Ruhmes herstellen. Alle diese Statuen sind in leblosem Schwarz oder Stahlgrau gehalten und sind von überwältigendem, nichtmenschlichem Mass – sie sind alle Ausdruck der «Macht».
Seit 2016 gibt es unweit vom Kreml eine 24 Meter hohe Statue von Vladimir dem Heiligen von Kiew, Das Denkmal ist ein bewusster Affront gegen die Vereinnahmung des heiligen Fürsten durch Kiew. Nach russischen Historikern hat er sich nicht im Dnjepr, sondern auf der Krim, die «schon immer unsere war», taufen lassen. Geweiht wurde es am «Tag der Einheit des Volkes» vom «Patriarchen der ganzen Rus’».
Dann folgt Alexander Newskij, der 1242 den Angriff der katholischen Deutschritter abwehrte, während von Osten her die Mongolen drohten. «Er ist ein Beispiel für alle Generationen, wie man die Heimat lieben soll, für ihre Unabhängigkeit eintreten und ihr Volk beschützen. Heute setzen unsere Kämpfer auf dem Schlachtfeld, wo die Spezielle Militäroperation durchgeführt wird, seinen heiligen Kampf fort, indem sie sich heldenhaft für die Freiheit des Vaterlands schlagen. Könnte es anders sein, wenn unsere Burschen so unerschrockene Vorfahren haben und eine so ruhmreiche Geschichte ihres Landes?» heisst es in der Festansprache des Gouverneurs in Lipezk am 11. September 2023. Unter der Skulptur steht Schamans Liedtitel «Wir stehen auf».
Seit 1996 steht in Moskau auf einer künstlichen Insel im Fluss das Denkmal «300 Jahre russländische Flotte», 98 Meter hoch, von denen 18 Meter dem Initiator der Flotte und Begründer des Namens «Russländisches Imperium» zukommen. Putin hat Peter I. letztes Jahr gewürdigt als sein Vorbild. Er habe «keine Gebiete erobert, sondern nur zurückgeholt». Was die Bewohner der baltischen Staaten kaum beruhigen kann.
Wieder häufiger geehrt wird seit einigen Jahren auch Felix Dserschinski, der polnische Adlige, der für die Bolschewiki die Tscheka gründete, um die Revolution durch den Roten Terror abzusichern. Zehntausende von Hingerichteten, Hunderttausende von Lagerhäftlingen sind die Folge seiner energischen Tätigkeit als Leiter der Geheimpolizei von 1917 bis zu seinem Tod 1926. Seine Denkmäler waren 1991 zum grössten Teil gestürzt worden, so auch dasjenige vor dem Foltergefängnis Ljubanka, das in ungebrochener Kontinuität vom FSB genutzt wird.
Eine verkleinerte Kopie dieser Monumentalstatue erstand am 11. September 2023 im Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes. Dessen Chef Naryschkin würdigte ihn als «Massstab der kristallklaren Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit und Treue zur Pflicht. Sein geflügeltes Wort, dass Tschekist nur ein Mensch mit kaltem Kopf, heissem Herzen und reinen Händen werden könne, wurde zur moralischen Orientierung für viele Generationen von Mitarbeitern der Sicherheitsorgane». Hier sind Putin und Kyrill gewiss mitgemeint.
Die intensivste Erinnerungskultur gilt dem Grossen Vaterländischen Krieg. Neben der Autobahn zwischen Moskau und Riga konnte ich die Monumentalität des 2020 eingeweihten Denkmals für die Schlachten von Rschew von 1942/43 auf mich wirken lassen. Unter dem stahlgrauen, gespenstisch leeren Blick der Skulptur, der aus über 30 Meter Höhe auf den bedeutungslos kleinen Betrachter fällt, sind Tausende von Namen der Gefallenen eingraviert, zufällig etwa gleich viele, wie sie in den Massengräbern ausserhalb von Irkutsk ruhmlos verscharrt wurden. Dieses gerade rechtzeitig errichtete Monument wählte Putin 2020 als würdigen Hintergrund seines letzten Aufrufs an die Bürger, am Referendum über die Verfassungsänderung teilzunehmen, das ihm eine Aufhebung der zeitlichen Begrenzung seiner Präsidentschaft bringen sollte. Das Bild war klar: Erneut geht es um die Existenz Russlands in existenzieller Bedrohung – ohne starken Langzeit-Führer überleben wir sie nicht. – Im Souvenirshop stehen friedlich nebeneinander Figürchen im Matrjoschka-Stil von Putin und Stalin. Im Café gibt es Spielwarenkriegsgerät von der Armee.
II. Der Krieg der Werte als Krieg der Illusionen
«Der Westen» hat es mit einem Gegenüber zu tun, das sich in einem hier nicht nachfühlbaren Mass der Vergangenheit zuwendet: dem altslawisch-heidnischen Volkstum, der «Kiewer Rus», dem Zarenreich der Romanovs, der Sowjetunion. Alles vermischt, das Heilige und das Atheistische, das Heidnische und das Christliche, die Märtyrer und die Verfolger, die Traditionen und die neuste Wissenschaft wird als Kontinuität ruhmreicher Geschichte besonders den Kindern und Jugendlichen ans Herz gelegt. Stolz sein auf die Vergangenheit wird zur Rettung vor dem ernüchternden Blick in die perspektivlose Zukunft. Kein klardenkender Mensch könnte den dabei auftretenden offensichtlichen Widersprüchen zustimmen. Kein Mensch mit gesundem Selbstvertrauen könnte sich so leidenschaftlich dem Sammeln der Gründe widmen, stolz auf sich zu sein.
Die Unlogik in der Komposition des patriotischen Weltbilds erinnert an Faschismus: Die Sehnsucht nach Zukunft baut sich auf Sehnsucht nach der Vergangenheit. Auch damals wurden Kult der neusten Technik und Kult der Vorfahren, Lob der traditionellen Familie und Vereinnahmung der Kinder durch die moderne Staatsmacht, echt fromme Weihnacht und Kriegerehre ohne jeden Anspruch auf gedankliche Verknüpfung zusammengemischt. Wieder wird an die untrennbare natürliche Ganzheit eines Volkstums ohne künstliche Grenzen geglaubt und wieder wird die Verehrung der Staatssymbole als neues Bekenntnis religiöser Gefühle willig erbracht. Wieder soll alle individuelle Leistung aus dem Volkstum herauswachsen. Dieser faschistische Zug in der Stimmungslage des russischen Patriotismus beleuchtet seltsam den Krieg gegen den «ukrainischen Nazistaat».
Wenigstens die historische Erinnerung, dass Russland schon oft in der tausendjährigen Geschichte von einem bösartigen Feind in seiner Existenz bedroht wurde, ist nachvollziehbar. Sie bildet ein Stimmungspotential, mit dem westliche Politiker schlecht zurechtkommen. Nicht nur dumpf gewordenes Fernsehpublikum, sondern auch gebildete Menschen, die Westkontakte pflegten und wenig TV schauen, werden davon berührt.
Auf die Mehrheit der Menschen in Russland wirkt die europäische oder transatlantische «Wertegemeinschaft» eher blass. Den Werten, welche die NATO zu verteidigen vorgibt, fällt es schwer, Herzen zu berühren, hier und dort, und wirtschaftliche Interessen dahinter, zum Beispiel jene der USA, sind nicht zu übersehen. Eine Zukunft, das heisst eine Entwicklung, kennen diese Werte ebenfalls nicht; wir besitzen sie einfach schon, im Gegensatz zu Russland: Freiheit und Demokratie. Und «unsere» Entschlossenheit, die Werte zu verteidigen, wird im Wesentlichen ebenfalls durch die fast grenzenlose Steigerung der Rüstungsausgaben bewiesen. Nur der technologische Fortschritt hin zur vollen Digitalisierung aller Lebensbereiche, insbesondere von Bildung und Gesundheit, scheint eine noch vor uns liegende Zukunft zu sein, an welche die Politiker des Westens wirklich glauben und worin sie sich von links bis rechts einig sind.
Der Krieg der Werte hat sich im Zeitalter der Digitalisierung und KI recht weit von den Realitäten im Westen und in Russland abgehoben, es sind Illusionen, die feindselig aufeinandertreffen. Eine Ernüchterung durch den selbstkritischen Vergleich der Werte mit der Lebenswirklichkeit könnte ein erster Schritt der Deeskalation sein: Wie verwirklicht sich heute die Idee der Freiheit im Westen, und wie lebt heute die Moral in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Russlands? Freiheit und Moral können keine Banner oder Keulen im Schlagabtausch sein.
Die Ursache, dass Russland diesem ideologischen Abgrund zustrebt, kann nicht in der Nato-Osterweiterung gefunden werden. Aber die westliche Strategie und das Fehlen einer neu erarbeiteten Idee von Freiheit und Demokratie in der «transatlantischen Gemeinschaft» konnten den Absturz begünstigen, anstatt ihm entgegenzuwirken und die zukunftsfähigen Potentiale Russlands zu fördern.
III. Individualitäten
Meine Reise war neben der Begegnung mit der nostalgischen Ideologie mindestens so stark geprägt von den Gesprächen mit Menschen, die ein Immunsystem gegen jegliche patriotische Propaganda entwickelt haben. In meinem Bericht sollte zum Ausdruck kommen, dass diese Menschen genauso «Russland» repräsentieren wie die Staatsmacht und ihre Gefolgsleute und dass man bei ihnen nach einem Zukunftspotential suchen muss. Mit neuer Entschlossenheit kam ich zurück, darauf zu beharren, dass man eine Haltung bei uns nicht zurecht prorussisch nennen kann, wenn man für Putin Stellung nimmt. Noch irreführender ist es, wenn man «Die Russen» als Subjekt in seine Argumentation einbaut. «Die Russen haben Kiew bombardiert» ist in dieser pauschalen Formulierung so unwahr wie «Die Russen fühlten sich durch die Nato in ihrer Sicherheit bedroht».
Ich selber verstehe mich als prorussisch, das heisst mit Russland, mit seinen individuellen Menschen, seiner Kultur, seiner Sprache verbunden und nicht mit einer Regierung, die Russland praktisch und ideologisch in den Abgrund reisst.
Es gibt aber naheliegende Gründe, dass das Russland der Individualitäten in einem öffentlich zugänglichen Bericht nicht gleich konkret erscheinen kann wie das kollektiv gestimmte Russland. Zum einen beruht diese Sphäre zu allen Zeiten auf dem Schutz des vertraulichen Gesprächs, zum anderen braucht sie jetzt in Russland einen besonderen Schutz vor unberechenbarer Gefährdung. Von diesen Individualitäten kann man zusammenfassend sagen: Sie haben sich entschlossen, nicht zu emigrieren, aber auch nicht ihr Gewissen dadurch zu beruhigen, dass sie für den Krieg, da sie ihn nicht beenden können, doch noch Rechtfertigungen finden. Sie suchen einen Weg, ihrem individuellen Gewissen entsprechend in ihrer Heimat weiter zu wirken, ohne Märtyrer zu werden.
Ich habe niemanden gefunden, der an die Möglichkeit eines Umsturzes oder eines friedlichen, durch gesellschaftlichen Widerstand erreichbaren Umschwungs mit Kriegsende glaubt. Auch ohne diese Illusion muss nun das Verbleiben im Land sinnvoll sein. Zum Beispiel der Jurist, der weiterhin Gefangene in ihren Menschenrechten, besonders gegen Folter, verteidigt. Oder der Soziologe, der unabhängig durch gründliche Befragung von Menschen verschiedener Generationen die tieferen Schichten erforscht, warum jemand für oder gegen den Krieg ist. Oder die Deutschlehrerin, welche den wohl letzten übriggebliebenen Schüleraustausch zwischen deutschen und russischen Schülern begleitet. Oder der Pädagoge, der regelmässige Begegnungswochen zwischen russischen und ukrainischen Schülern in Georgien organisiert. Oder der Gärtner, der für das nach Gesetzen geltende Recht anstatt mit Korruption und Willkür in der Datschensiedlung kämpft. Oder die 22-jährige Frau, die nach 15 Monaten im Straflager – sie hatte am 24. Februar 2022 aus Verzweiflung eine Flasche mit Brennstoff gegen Polizisten geworfen – doch in Russland bleiben will, um eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen.
Sie bereiten still eine Zukunft Russlands vor, während die Politiker auf beiden Seiten, die an einen Kampf von Licht und Finsternis glauben, nur den angeblichen Endsieg als äussersten Zeithorizont anstreben können.
1) Weltwoche Daily 22./24./25.4.2023
2) «Was den militärischen Bereich betrifft, so ist das heutige Russland … weiter eine der stärksten Atommächte der Welt. Mehr noch, bei einigen der modernsten Waffenarten liegt es sogar vorn. Daher soll sich jeder absolut im Klaren darüber sein, dass ein direkter Angriff auf unser Land zu Vernichtung und schrecklichen Folgen für jeden denkbaren Aggressor führt.»