Zwei Hochformate von Willem de Kooning (1904-1997) dominieren den Raum. Die 1970/71 entstandenen Ölmalereien, in denen eine breite Skala von Rottönen vorherrscht, gehen aus vom Akt. Mit ihrer gestischen, fast wild anmutenden, hoch emotionalen und doch kontrollierten Malweise haben sie sich aber weit vom Gegenstand des menschlichen Körpers entfernt. In einem anderen Raumteil des Bündner Kunstmuseums in Chur zieht eine „Anthropometrie“ von Yves Klein (1928–1962), „Héléna“ von 1960, den Blick auf sich:
Der Abdruck des mit blauer Farbe bestrichenen nackten Körpers des Models bildet auf dem lebensgrossen Hochformat einen ekstatischen, nach rechts offenen Bogen. Nicht weit davon hängt ein „Schüttbild“ von 1962 von Hermann Nitsch (geboren 1937): Der wohl bekannteste Vertreter des Wiener Aktionismus schüttete die an Blut gemahnende dunkelrote Farbe direkt aus dem Kübel auf den Malgrund: Ein provokativer Akt des bewussten Kontrollverlustes über die künstlerische Arbeit.
Expressivität und Mummenschanz
Ein weiteres Beispiel ist das expressionistisch-pathetische Gemälde „Totentanz der Mary Wigman“ von 1926/28 von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938). Die Pionierin des Ausdruckstanzes sinkt, die Arme in grosser Geste in die Höhe geworfen, vor einer Zuschauergruppe zu Boden. Von extremer Expressivität sind auch die Fingermalereien von Louis Soutter (1871–1942). Da scheinen schwarze Silhouetten menschlicher Figuren mit weit gespreizten Fingern über die Leinwand zu zucken. Oder, nun ein wandfüllendes Riesenformat: „Apocalypso“, entstanden 1976–78 von Jean-Frédéric Schnyder (geboren 1945), Totentanz, Varieté, Mummenschanz, Show – alles zugleich als hohnlachendes apokalyptisches Weltbild.
Diese und Werke auch anderer grosser Künstler (u. a. Rodin, Michaux, Pollock) fanden den Weg ins Bündner Kunstmuseum. Sie alle handeln von Tanz, von Spiel mit dem Körper, von Entgrenzung, von Emotion und Ekstase und damit verbunden von Erotik – und auch von der entscheidenden Lebensgrenze, vom Tod.
Churer Totenbilder
Unmittelbarer Anlass der Ausstellung ist die Wiedereröffnung des neuen Domschatz-Museums in Chur. Hier sind, erstmals seit langem, die 25 Todes-Bilder zu sehen, die 1543 nach den Holzschnitten von Hans Holbein d. J. für des bischöfliche Schloss in Chur gemalt wurden. Die Grisaille-Malereien von hoher Qualität sind kürzlich einer umfangreichen Restauration unterzogen worden. Im Unterschied zum Basler Totentanz an der Predigerkirche, der nur über eine um 1800 entstandene Aquarellkopie (im Bündner Kunstmuseum in Chur zu sehen) überliefert ist, zeigen die Churer Bilder nicht den mit seinen Opfern tanzenden Knochenmann. Vielmehr illustrieren sie Begegnungen des Todes mit den verschiedenen Standesvertretern in ihren alltäglichen Situationen.
Offener Ausstellungs-Essay
Die von Stephan Kunz vom Bündner Kunstmuseum und von Stefan Zweifel, Surrealismus-Fachmann und Philosoph, betreute Ausstellung ist keine der üblichen Totentanz-Ausstellungen. Vielmehr sucht sie in Form eines offenen Ausstellungs-Essays das Thema in die Gegenwart hinein auszuweiten und nach Verästelungen in Bereiche zu fragen, die wir mit dem Begriff des Totentanzes assoziieren können, die sich mitunter aber auch meilenweit davon entfernen. Angesagt sind Eros und Thanatos oder – mit anderen Worten – ein Tanz von Liebe und Tod. Ein offener Ausstellungs-Essay will sagen, dass es nicht um Thesen oder Behauptungen und auch nicht um Didaktisches geht, sondern um Ab- und Ausschweifungen, welche die Phantasie der Museumsbesucher herausfordern und in naheliegende, aber auch in unerwartete Bahnen lenken.
Nijinskys Bildnereien
Naheliegend ist, da es um Dionysisches geht und da vom Tanz die Rede ist, die dramatisch gestaltete Video-Aufzeichnung von Maurice Béjarts „Boléro“-Choreographie von 1985 mit dem phänomenalen argentinischen Solotänzer Jorge Donn, der die ohnehin schon elektrisierende Musik Ravels mit ungeahnter erotischer Dynamik vibrieren lässt. Naheliegend sind auch der Einbezug von Mary Wigmans „Hexentanz“ (1926) oder die um 1915 entstandenen Tanz-Zeichnungen Rudolf von Labans. Auf der Hand liegt ebenso die Präsenz des Jahrhundert-Tänzers Vaslav Nijinsky (1889–1950), an den einige Fotografien aus seiner aktiven Zeit erinnern (eine im Besitz von Not Vital).
Unerwartet ist sicher für sehr viele Besucherinnen und Besucher die Begegnung mit bildnerischen Werken des im Alter von knapp 30 Jahren an Schizophrenie Erkrankten, dessen tänzerische Leistungen nur sehr schwer rekonstruierbar sind. Entstanden sind die kaum je gezeigten Blätter 1917 bis 1919, also just in jener Zeit, als er in St. Moritz sein monomanisches Tagebuch niederschrieb. Die Blätter sind von strenger geometrisierender Symmetrie, die mit dem nervösen Strich der Wachskreide kontrastiert.
Tanz über die Klaviertasten
Weniger naheliegend scheint der Einbezug beispielsweise von On Kawaras (1933–2014) schwarzer Tafel „July 5.1969“ oder einer Filmaufnahme des die Goldberg-Variationen spielenden Glenn Gould von 1981. Die Abschweifungen, auf die die Ausstellung angelegt ist, gestattet es aber den Besuchern, On Kawaras Lebenswerk über seinen Gang durch die Zeit als Memento Mori zu rezipieren, oder im bewegten Hingleiten von Goulds Händen über die Tasten und in den rhythmischen Bewegungen seines Oberkörpers eine tänzerische Komponente zu sehen.
Für viele wird auch der Einbezug Hans Christian Andersens (1805–1875) in die Ausstellung eine Entdeckung bedeuten. Der dänische Autor berühmter Kunstmärchen beschenkte Freunde, Bekannte, Gastgeber gerne und spontan mit Scherenschnitten. So biedermeierlich-brav die von ihm virtuos angewandte Technik anmutet, so skurril oder gar hinterhältig sind seine Motive, die sich durchaus in den Kontext von Eros und Thanatos einfügen. Dazu nur ein Beispiel: Auf dem Boden steht ein grosses Herz, aus dem ein Galgen herauswächst. Daran baumeln zwei Hingerichtete mit kleinen Herzen in den Händen.
Verankerung in der Geschichte
Ganz auf Verankerung des Themas in der Kunstgeschichte wollen Kunz und Zweifel nicht verzichten. Es gibt eine antike Mänaden-Skulptur, und es gibt spätarchaische griechische Keramik mit Abbildungen erregt tanzender Satyrn. Salomes Tanz, Detail aus der romanischen Wandmalerei in der Kirche in Müstair, erscheint auf einem Foto Florio Puenters. Neben Grafiken von Stefano della Bella und von Albrecht Dürer begegnen wir auch Johann Heinrich Füssli (1741–1825): Seine Skizzen liebestoller oder kämpfender Paare zielen ins Zentrum des Ausstellungsthemas. Auch unseren Blick in die Geschichte lenkt die Fotoserie aus den Catacombe dei Capucini in Palermo von Peter Hujar (1934–1987). Die Bilder der Mumien aus dem 18. Jahrhundert bezeugen einen Kult, der der drastischen Realität des Todes ein die Jahrhunderte überdauerndes Denkmal setzt.
Das Konzept eines nach vielen Richtungen hin offenen Ausstellungsessays bringt es mit sich, dass manche Konturen unbestimmt bleiben und dass sich nicht jedes Exponat in gleich schlüssiger Weise mit der Grundspannung Eros und Thanatos verknüpfen lässt. (Füsslis sarkastische Karikaturen exaltierter Damen sind da wohl das Beispiel einer witzigen Abschweifung.) Dieses Konzept von Stephan Kunz und Stefan Zweifel beflügelt die Entdeckerlust der Besucherinnen und Besucher.
Trotz der emotional aufgeladenen Thematik erfahren die vielen bedeutenden Werke in den Churer Museumsräumen eine sachlich-ruhige Präsentation, die den einzelnen Exponaten viel Raum gibt. Auch dank der vielen prominenten Leihgaben ist mit „Dance Me to the End of Love“ ein lustvolles Ausstellungserlebnis angesagt.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 22. November.
Publikation, herausgegeben von Stephan Kunz und Stefan Zweifel. Mit Beiträgen von László F. Földényi, Luise Maslow, und mit Textcollagen von Stefan Zweifel. Scheidegger & Spiess. 49 Franken