Am Nachmittag regnete es in Strömen in der ligurischen Hauptstadt, so wie am 14. August vor zwei Jahren, als die Morandi-Brücke einstürzte und 43 Tote hinterliess. Am Abend zeigte sich dann ein Regenbogen über der neuen Brücke.
720 Tage nach der Tragödie reisten der Staats- und der Ministerpräsident nach Genua, um das neue Bauwerk einzuweihen. Staatschef Sergio Mattarella hatte bei seiner Ankunft in Genua die Angehörigen der Opfer zu einem privaten Treffen empfangen. Er nannte die Tragödie eine „Wunde, die nicht heilt“.
Zu Beginn der Einweihungszeremonie um 18.30 Uhr wurde die italienische Nationalhymne gespielt. Dann wurden die Namen der 43 Opfer verlesen. Drei Minuten lang herrschte dann Stille. Eine halbe Stunde später durchschnitt Ministerpräsident Conte das rot-weiss-grüne Band und weihte so die neue Brücke offiziell ein. Sie heisst Ponte San Giorgio.
56 Sattelzüge mit 2’500 Tonnen
Dann brausten über die Brücke die Frecce tricolori. Zu den Geladenen gehörten auch mehrere Minister, der Präsident der Region Ligurien und der Bürgermeister von Genua Marco Bucci.
Debei war natürlich auch Renzo Piano, der italienische Stararchitekt, ein Genueser, der seiner Heimatstadt ein Vermächtnis hinterliess. „Dies war die schönste Baustelle meines Lebens“, sagte Piano bei der Einweihung. Nach Einbruch der Dunkelheit erstrahlten die Pfeiler der Brücke in den rot, weiss, grünen Farben der italienischen Nationalflagge.
Die neue Brücke ist 1’067 Meter lang. Sie ruht auf 18 insgesamt 95 Meter hohen Pfeilern (davon sind 50 Meter in den Boden gerammt). Entlang der ganzen Brücke sind Sensoren angebracht, die kleinste Veränderungen registrieren. Hunderte Entfeuchter sind im Einsatz, um Rostbildung zu vermeiden. Im Juli wurden erfolgreiche Belastungstests durchgeführt. 56 Sattelzüge mit insgesamt 2’500 Tonnen Gewicht wurden auf die Brücke gefahren.
Kein Honorar
Der heute 83-jährige Genueser Architekt, der „Vater“ der neuen Brücke, ist auch in der Schweiz kein Unbekannter. Er baute in Riehen bei Basel die Fondation Beyeler und in Bern das Zentrum Paul Klee.
Zu seinen jüngsten Werken gehört „The Shard“ in London, der höchste Wolkenkratzer Europas, und das „Times Building“ in New York. Staatspräsident Giorgio Napolitano hatte Piano 2013 zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Für die Brücke in Genua verlangte er kein Honorar.
„Wir können es eben doch“
Die Morandi-Brücke, die den Osten und den Westen von Genua verband und jährlich von 25 Millionen Personenautos und täglich von 1000 Lastwagen befahren wurde, war am 14. August 2018 eingestürzt. Dreissig Personenwagen und drei Lastwagen waren in die Tiefe gestürzt.
Der Einsturz hatte das Land fast schon in eine nationale Depression gestürzt. Die Trümmer der Morandi-Brücke wurden zum Symbol einer Nation, die nichts mehr zustande bringt. Bürokratie, Kriminalität, Mafia, Vetternwirtschaft, fehlende Visionen, Korruption und der Zirkus egoistischer, allzu extrovertierter Politiker in Rom – all das lähmt das Land und macht die vierte europäische Volkswirtschaft zu einem der Schlusslichter in Europa.
Bürokratischer Irrsinn
Umso mehr wird jetzt die Auferstehung der neuen Brücke gefeiert. „Wir können es eben doch“, heisst es überall. Ministerpräsident Conte rührte mit grosser Kelle an. „Diese Brücke ist die kreative Frucht des italienischen Genies“, sagte er bei der Einweihung am Montag. „Es ist der Beweis, dass unser Land wieder aufsteht.“ Doch der rekordschnelle Bau des neuen Viadukts wird wohl eine Ausnahme bleiben. Zustande kam er, weil der Bürgermeister von Genua sich Sondervollmachten herausnahm und die Politiker in Rom austrickste.
Doch Hunderte andere dringender Infrastruktur-Vorhaben werden weiterhin verschlampt und Opfer der Bürokratie werden. Weiterhin werden kleinere (und hoffentlich nicht auch grössere) Brücken einstürzen; weiterhin wird es von Tunneldecken bröckeln, weiterhin müssen ganze Autobahn-Abschnitte gesperrt werden und weiterhin bleiben Züge stundenlang auf offenem Feld stehen.
Undenkbare Tragödie?
Wer hofft, die neue Brücke sei ein Zeichen dafür, dass sich in Italien jetzt endlich etwas zum Besseren wende, könnte ein hoffnungsloser Optimist sein. Es ist zu befürchten, dass auch die vielen Milliarden, die jetzt aus Brüssel kommen, wenig an der italienischen Lethargie und dem bürokratischen Irrsinn, dem das Land so frönt, ändern werden. Die Fähigkeit der Italiener, jedes Problemchen auf surreale Art zu „verbürokratisieren“ ist nicht zu unterschätzen.
„Eine undenkbare Tragödie in einem modernen Land“. Mit diesen Worten kommentierte Ministerpräsident Giuseppe Conte vor zwei Jahren den Einsturz der Brücke. Doch so undenkbar war die Katastrophe nicht. Seit Jahrzehnten wird in Italien bei Unterhaltsarbeiten geschlampt.
Gespart und betrogen
Mangelnde Wartung und Profitgier der Autobahnbetreiber waren denn auch der Grund für den Einsturz der Morandi-Brücke.
Die italienischen Autobahnen waren Ende der Neunzigerjahre von der Mitte-links-Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi privatisiert worden. Ein Konsortium mit der Textil- und Modefirma Benetton hatte den Zuschlag erhalten. Die italienischen Autobahngebühren gehören zu den höchsten in Europa. Benetton hielt 30 Prozent an der Infrastrukturfirma „Atlantina“. Diese besitzt den Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia“ (Aspi). Zur Konzession gehörte auch der Betrieb der Morandi-Brücke. Um saftige Dividenden ausschütten zu können, wurde beim Unterhalt gespart und betrogen, hiess es in mehreren Untersuchungsberichten.
„Eine Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer“
Schnell kam die Forderung auf, der Autostrada per l’Italia die Konzession für das Autobahnnetz zu entziehen. Man machte Vorschläge, man stritt sich – nichts geschah. Dann, wenige Wochen vor der Eröffnung des neuen Viadukts, wurde das Autobahnnetz verstaatlicht. So gelang es, den Benettons die Konzession für den Betrieb der neuen Brücke zu entziehen. Hätte Benetton weiterhin die Konzession erhalten, wäre dies, so sagte Davide Crippa, der Fraktionsvorsitzende der Fünf Sterne, „eine Ohrfeige für die Angehörigen der Opfer“ gewesen.
Die rasche Quasi-Verstaatlichung war eine Art Akt der Verzweiflung. Der politische Druck war enorm. Die Benettons sahen sich wachsendem Volkszorn ausgesetzt und wurden als „43-fache Mörder“ verunglimpft. Das Modeunternehmen sprach von einem „Kesseltreiben“, knickte aber schliesslich ein. Benetton erklärt sich bereit, 3,4 Milliarden Euro für den Bau den neuen Brücke und für Abfindungen an die Hinterbliebenen der Toten zu zahlen.
Einweihung ohne die Angehörigen der Opfer
Das Problem ist, dass die neue San-Giorgio-Brücke faktisch bei der Einweihung noch immer von den Benettons verwaltet wird – so schnell kann kein neuer Betreiber eingesetzt werden. Aus diesem Grund nahmen die Angehörigen der Opfer nicht an der Einweihung der neuen Brücke teil. „Diese Brücke gehört uns nicht“, sagte Egle Possetti, der Präsident des Komitees der Angehörigen der Opfer der Morandi-Brücke. „Diese Brücke ist eine Fortsetzung der alten Brücke.“
Es wäre besser gewesen, erklärte er, wenn schon vor der Inbetriebnahme des San-Giorgio-Viadukts die Konzession klar einem neuen Betreiber gegeben worden wäre. „Jene, die die Morandi-Brücke verwalteten, dürfen nicht mehr das Vertrauen der Italiener haben“, sagte Posetti. Er befürchtet, dass „die Verantwortlichen der Tragödie nie zur Rechenschaft gezogen werden“. Vieles deutet darauf hin, dass es so herauskommen wird.
Damit tut man niemandem weh
Wie sollte die neue Brücke heissen? Die Gemeinde Genua hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben. Die Vorschläge purzelten: Christoph-Kolumbus-Brücke? (Kolumbus stammt aus Genua), Niccolò-Paganini-Brücke? (Der Geiger stammt aus Genua), Giuseppe-Mazzini-Brücke? (Der Freiheitskämpfer stammt aus Genua).
Schliesslich entschied sich die Genueser Regierung für den Namen des Genueser Stadtheiligen San Giorgio. „Ponte San Giorgio“ ist zwar wenig originell, doch damit tut man niemandem weh.
Rekordschneller Bau
Am 28. Juni 2019 um 09.37 Uhr, wurde die Morandi-Brücke gesprengt – oder besser: das, was von ihr übriggeblieben war.
Gearbeitet an der neuen Brücke wurde Tag und Nacht. Corona hat die Bauarbeiten nur unwesentlich verzögert. Zwar wurde am 27. März bei einem der Arbeiter das Virus diagnostiziert, doch sofort wurden strengste Massnahmen getroffen. Den bis zu 300 auf der Baustelle tätigen Arbeitern wurde regelmässig das Fieber gemessen. Strikte Hygiene-Vorschriften wurden verordnet, und die 23 Kollegen, die mit dem Infizierten in Kontakt waren, wurden in Quarantäne gebracht. Insgesamt waren tausend Arbeiter am Bau der Brücke beteiligt.
Ursprünglich war geplant, die Brücke am 1. August einzuweihen. Doch da dieses Datum auf ein Wochenende fiel, entschied man sich für Montag, den 3. August. Zwischen Dienstagabend und Mittwoch früh wird die neue Brücke dem Verkehr übergeben.
Vorgesehen war, dass die Einweihung mit einem grossen Volksfest gefeiert wird. „Doch“, so sagt einer der Ingenieure, „Corona hat uns auch diese Freude genommen.“