Die «documenta fifteen» hat Skandal gemacht. In der Kunstwelt nichts Ungewöhnliches. In diesem Fall aber wurde der Krach zur Staatsaffäre. Es rollten Köpfe, der Abbruch der Veranstaltung, ja gar deren dauerhafte Versenkung wurden gefordert. – Ginge das vielleicht auch anders?
Die «documenta» in Kassel wurde 1955 aus der Taufe gehoben mit dem Ziel, den Deutschen die für sie während der NS-Zeit unzugänglich gewesenen Entwicklungen der modernen Kunst vor Augen zu führen. Sie findet alle fünf Jahre statt und gilt als weltweit bedeutendste Werkschau zeitgenössischen Kunstschaffens. Ihr Konzept setzt auf Auseinandersetzung und Reibung. Seit der «documenta 5» von 1972 hat je ein Kurator oder eine Kuratorin freie Hand bei der Einladung der Künstlerinnen und Künstler sowie der gesamten Programmgestaltung. Dadurch sind immer wieder Ausstellungen mit überraschenden Sichtweisen und Schwerpunkten entstanden, die mitunter auch kräftig angeeckt sind.
Die künstlerische Leitung der «documenta fifteen» wurde dem indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa anvertraut. Die Ruangrupa wiederum legten von Anbeginn offen, sie würden auf die Wahl der Werke der von ihnen Eingeladenen keinen Einfluss nehmen. Die «documenta»-Träger liessen sich also auf ein Ausstellungskonzept ein, das von jeglicher Qualitäts- und Inhaltskontrolle absah und den beteiligten Kunstschaffenden volle Freiheit liess.
Wer sich so entscheidet, muss wissen, was er tut. Vor allem muss er sich vorher überlegen, wie er reagieren will im Fall, dass einzelne Exponate aus irgendwelchen Gründen intolerabel wären.
Genau das ist nun bei der von Ruangrupa verantworteten Ausstellung passiert. Das muslimische Kollektiv hatte im Vorfeld seine postkoloniale und antikapitalistische Agenda offengelegt und auch seine Verbindungen mit der anti-israelischen Organisation BDS durchaus nicht unter dem Deckel gehalten. Mit der Nicht-Einladung jeglicher jüdischer und israelischer Künstler war ohnehin ein unübersehbares Signal gesetzt. So konnte es nicht allzu sehr überraschen, dass auf einem riesigen Banner des indonesischen Politkunst-Kollektivs Taring Padi, das kurz vor der Eröffnung auf dem zentralen Friedrichspatz in Kassel enthüllt wurde, zwei klar antisemitische Figuren zu finden waren.
Der Skandal war perfekt, das Medienecho gigantisch, und die verantwortliche «documenta»-Geschäftsführerin und die Exponenten der Trägerschaft verhielten sich, wie man es eben tut, wenn man total unvorbereitet in so eine Kalamität hineinläuft: die Sache kleinreden, die Schuld abschieben. Mittlerweile ist das anstössige Bild entfernt, die Geschäftsführerin in die Wüste geschickt und der Aufreger-Fokus der Medien wieder bei den Gaspreisen.
Soweit war der Verlauf eigentlich mit der Übertragung der künstlerischen Leitung an Ruangrupa fast schon vorauszusehen. Die Frage ist: War der Entscheid für Ruangrupa ein fundamentaler Fehler? Hätte man das anarchische Experiment gar nicht erst riskieren dürfen? Oder hätte es vielleicht doch eine Möglichkeit gegeben, sich als wohlbestallte und hochdotierte deutsche Kunstinstitution dem «Risiko Ruangrupa» auf produktive Art zu stellen? – Versuchen wir, mit einem Gedankenexperiment diese vermutete Möglichkeit zu erkunden!
Das Gedankenexperiment eines anderen Verlaufs beginnt beim Entscheid, Ruangrupa die künstlerische Leitung der «documenta fifteen» anzutragen. Anders als in Wirklichkeit teilen Geschäftsleitung und Träger der «documenta» dem indonesischen Kollektiv vor Vertragsabschluss mit, dass sie über dessen pro-palästinensische und anti-israelische Haltung im Bild seien und diese aufgrund der postkolonialen Sichtweise der indonesischen Partner ein Stück weit verstehen könnten. Aber, so die «documenta»-Verantwortlichen in dieser Variante, sie würden bei allfälligen antisemitischen Statements oder Äusserungen gegen das Existenzrecht Israels sogleich klare Gegenposition beziehen und die Urheber auffordern, sich ihrerseits zu erklären und sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu stellen. Dies, so die Verantwortlichen weiter, sei der unabdingbare Preis für die vollständige und unkontrollierte Freiheit, welche die «documenta» der künstlerischen Äusserung mit dem besonderen Arrangement bei ihrer fünfzehnten Ausgabe einräume. Diese Freiheit halte man für wichtig, um dem mit «documenta fifteen» intendierten interkulturellen Austausch überhaupt eine Chance zu geben.
Im Gedankenexperiment macht die «documenta»-Leitung die Beauftragung Ruangrupas von der Zustimmung zu dieser Zusatzvereinbarung abhängig. Möglicherweise veranlasst die Klausel das indonesische Kollektiv, den von ihnen beauftragten Kunstschaffenden die Sensibilität der deutschen Veranstalter für die genannten Punkte wenn nötig zu erläutern. Dadurch kommt es möglicherweise gar nicht zu den befürchteten Eklats.
Geht es jedoch im Gedankenexperiment trotzdem so wie in der Realität – zum Beispiel, weil Taring Padi die Provokation für richtig und nötig hält –, dann ist erstens die «documenta»-Leitung nicht unvorbereitet und zweitens die mediale Aufmerksamkeit anders orientiert. Es hat dann nicht die Leitung versagt (weil sie die Exponate nicht vorab kontrollierte), sondern das Kuratorenteam hat eine Absprache nicht umgesetzt. Diese Verletzung des gemeinsam gesetzten Rahmens ist jetzt das Thema. Gewiss erzeugt dieses immer noch Aufregungen und Beschuldigungen, aber sie stehen in einem Bezug zu der mit «documenta fifteen» verfolgten Intention.
Und wenn es ganz gut läuft in der experimentellen Variante, dann gelingt es in der öffentlichen Auseinandersetzung, einiges deutlich zu machen. So zum einen, dass Kunst ein geschützter Raum mit einem erhöhten Grad an Freiheiten (und entsprechenden Risiken) sein muss, wenn sie das Probierfeld für Realitäten sein soll. Zum anderen aber auch, dass in der Begegnung mit den einst Kolonialisierten für den Westen nach wie vor ungezählte Fallen verborgen sind, die ans Licht kommen und auf Augenhöhe diskutiert werden müssen.
Im Gedankenexperiment braucht das inkriminierte Werk von Taring Padi nicht entfernt zu werden. Vielmehr wird es zum Anlass genommen, die «documenta»-Besucher und eine interessierte Öffentlichkeit über einen indonesischen Blick auf den Kolonialismus sowie die verschlungenen Pfade zu orientieren, auf denen antijüdische Stereotypen aus Europa nach Indonesien, einem Land praktisch ohne Juden, gelangt sind und dort zur Chiffre für Ausbeutung werden konnten.
Die im Gedankenexperiment skizzierte Version der Ereignisse ist kaum weniger konfliktuös als die real geschehene. Aber sie bietet weit bessere Chancen, den Streit ins Produktive zu wenden und ihn sogar in den Dienst der Sache, der Kunst in interkultureller Dimension nämlich, zu stellen.