Die am 11. Juni, einen Tag nach der Ausstellungseröffnung 85-jährige Ungarin Dóra Maurer bekommt im Haus Konstruktiv ihre erste grosse Museums-Werkschau in der Schweiz. Sie dürfte vielen Kunstinteressierten wenig oder gar nicht bekannt gewesen sein; umso grösser hoffentlich der Nachhall ihres späten Auftretens in Zürich. Gut fünfzig Arbeiten aus fünfzig Jahren (1970–2020) sind auf zwei Stockwerken ausgestellt.
Zu entdecken ist das Werk «der letzten Avantgardistin», wie sie jemand genannt hat. Der scheinbar paradoxe Ausdruck ist darin stimmig, dass Dóra Maurer sich ohne Epigonentum auf die konkret-konstruktive Moderne bezieht. Mit ihrer Arbeit steht sie in Kontinuität zu jener einst revolutionären Auffassung, wonach Bildelemente nicht «darstellen», also nicht auf etwas ausser ihnen selbst weisen, sondern in dem Sinn «konkret» sind, dass sie genau sich selbst meinen. Das Überschiessende dieser Kunst liegt nicht in einer Sphäre des Bedeutens, sondern im kreativen Spiel selber. An dieser Avantgarde hat Dóra Maurer festgehalten, und zwar ohne ironische Brechung und Distanzierung; es ist ihr augenscheinlich ernst mit diesem sich selbst genügenden Spiel.
Ausgebildet in den späten Fünfzigern an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste in Budapest, geriet Dóra Maurer nach der Niederschlagung des 56er-Aufstands durch die Sowjetunion in Konflikt mit der offiziellen Kunstdoktrin. Beim Studienabschluss 1961 wurde ihr das Diplom verweigert; sie erhielt es, inzwischen längst international anerkannt und vielfach ausgezeichnet, als symbolische Geste nachträglich im Jahr 2001.
Zu ihrem vielgestaltigen Werk gehören neben Malereien und Objekten auch druckgraphische Arbeiten, Raumgestaltungen, Fotografie sowie Film und Video. Das Moment der Bewegung spielt bei ihr nicht nur in audiovisuellen Medien eine Rolle, sondern auch durch Abläufe, Serialisierung und Kombinatorik oder durch Rotationen, Verschiebungen und Überlagerungen in den Bildkompositionen. Immer wieder auch Zahlenspiele: Bei einem magischen Quadrat aus Feldern, welche mit Zahlencodes versehene Aststücke enthalten, ergeben die Summen der Zeilen, Kolonnen und Diagonalen stets den Wert 100. Anderswo taucht die Fibonacci-Reihe (1, 2, 3, 5, 8, …) als Ordnungsprinzip auf.
Den versammelten Exponaten ist ein künstlerisches Ethos gemeinsam: Sie zeichnen sich alle einzeln aus durch die Eleganz des Gedankens, der mit aller Sorgfalt und Stringenz in eine schöne Form transformiert und schliesslich mit handwerklicher Perfektion als Werk realisiert ist. Der kleine Silbergelatine-Druck «Structure of a Thesis» (1972) – er hängt in der Passerelle im 4. Stock neben dem Informationstableau der Ausstellung und eröffnet gewissermassen die Werkschau – kann als Maxime Dóra Maurers gelesen werden: Folgt man der Linie, welche die mit Kreide geschriebenen Buchstaben verbinden, so liest man: «The Only Way of Arts Evolution: to Realize Every Third Idea».
Diese Arbeitshypothese könnte vermutlich auch für Zimoun gelten. Der Künstlername des Berners ist (vorläufig) in Asien eher bekannter als in der Schweiz. Zimoun, geboren 1977, ist ein Autodidakt, der von der Musik herkommt. Seine kinetischen Installationen sind denn auch stets zugleich Klanggebilde. Zwei davon hat er im Haus Konstruktiv realisiert.
Den Boden des grossen Parterresaals bespielt Zimoun mit 295 gleichen Bewegungseinheiten: Auf je einem Holzklotz ist ein Elektromotörchen montiert, das mit einer Kurbel einen armlangen Holzstab hin und her schiebt. Die fleissigen kleinen Apparate sind einerseits in einem Raster im Raum angeordnet, stehen aber andererseits chaotisch in alle Richtungen. Sie drehen nicht synchron, so dass ihre Bewegungen ein organisches Wallen und ihre Schabgeräusche eine komplexe akustische Textur erzeugen.
Der Eindruck beim Betreten des Raums ist umwerfend. Die Masse der filigranen Objekte, die Raumspannung zwischen der am Boden ausgebreiteten Installation und der eindrücklichen Höhe des Saals, die atmende Bewegung des Balletts aus fast dreihundert Holzstäben, das aus dem ganzen Raum ertönende und diesen füllende Wispern: Man hat so etwas einfach noch nie gesehen und gehört und wahrscheinlich auch noch nie geträumt.
In einem kleineren Saal im zweiten Stock hat Zimoun 825 würfelförmige Kartonschachteln zu Dreierstapeln auf- und ineinander gestellt und diese Türme in Neunerreihen dichtgedrängt antreten lassen. 104 Elektromotoren sind in den Schachteln versteckt und versetzen sie mit Unwucht-Gewichten in rhythmisches Schwanken und Wackeln. Der Effekt kontrastiert mit der lichten Poesie der Installation im Parterresaal, denn hier ist der Raum niedrig, das Gefühl etwas beengt und der Geräuschpegel wesentlich höher. Das Rumpeln der Kartonkisten scheint nichts Gutes zu verheissen. Eine Besucherin aus Mexico meinte, so ähnlich würde es dort tönen, wenn sich mal wieder eines der vielen Erdbeben ankündige.
Zimoun und Dóra Maurer: Beider Arbeiten sind im Haus Konstruktiv am richtigen Ort. Die Budapesterin und der Berner nutzen Material, um ihren Gedanken eine physische, ästhetische Form zu geben. Ihre Kunst bleibt beim Material, sie hebt nicht ab zu einer vom Artefakt zu unterscheidenden Bedeutungsebene, sondern senkt sich in die Objekte ein. Neben den starken Gemeinsamkeiten springen auch die Unterschiede zwischen den beiden Kunstschaffenden ins Auge. Dóra Maurers Arbeiten spiegeln eine intensive Auseinandersetzung mit vielen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts. Zimouns Installationen schliessen zwar durch ihre seriellen Strukturen an die Welt der Konkreten und Konstruktiven an, geben aber zugleich dem Spiel und Experiment freien Raum. – Und sie sind nicht weniger musikalisch als skulptural.
Das Haus Konstruktiv gibt mit der neuen Doppelausstellung Gelegenheit, eine Künstlerin und einen Künstler kennenzulernen, die man zur obersten Liga zählen darf.
Museum Haus Konstruktiv: Dóra Maurer, Mimimal Movements, Shifts, 1970–2020, kuratiert von Sabine Schaschl
und
Zimoun, kuratiert von Sabine Schaschl und Eliza Lips
beide Ausstellungen bis 12. September 2021, freier Eintritt am Eröffnungstag 10. Juni
Video-Zusammenschnitt von Installationen Zimouns: