Von Sakib Mehanovic
Was als lokaler, Anti-Privatisierung-Protest am vergangenen Mittwoch in Tuzla begann, ist am Freitag zu einem allgemeinen, landesweiten und sozialen Aufstand angewachsen. Die Proteste, die jetzt in Bosnien ausbrachen, waren für viele Beobachter nur einer Frage der Zeit.
Jüngst stufte das Magazin „The Economist“ Bosnien als höchst kritisch ein und prognostizierte für das Jahr 2014 soziale Unruhen. Während die Proteste im letzten Jahr ergebnislos verpufften und die Frustration der Bevölkerung eine neue Dimension erreichte, war es zunächst unklar, wann und was genau der Auslöser für neue Unruhen sein würde. Äusserst überraschend waren jedoch die Dynamik und das Ausmass der gegenwärtigen Ausschreitungen.
Tuzla als Zentrum
Das Zentrum der Proteste befindet sich ausgerechnet in der Industriestadt Tuzla. Sie ist entgegen dem Trend der ethnischen Homogenisierung und der Dominanz der ethno-nationalsozialistischen Parteien eine multi-ethnische Stadt geblieben. Zudem war sie die einzige Hochburg der Sozialdemokraten in Bosnien.
Gerade jene Sozialdemokraten aber, die seit Jahrzenten das politische Geschehen in Tuzla dominieren und die Hoffnung auf eine Alternative zu den nationalistischen Parteien darstellten, verspielten ihr politisches Kapital. Sie kokettierten allzu betont mit den bosnjakischen Nationalisten der SDA. Vor allem aber privatisierten sie auf dubiose Weise die ehemals florierende Chemieindustrie, die heute einer Ruinenlandschaft gleicht. Im Zuge weiterer undurchsichtiger Privatisierungen wurden Unternehmen wie der Waschpulverproduzent „Dita“ massiv unter Wert verkauft und danach von den neuen Eigentümern zum Restwert verschrottet.
Die grössten Verlierer dieser obskuren Privatisierungsprozesse waren die Arbeiter, die sich von der Regionalverwaltung verraten fühlen und seit 2012 ihre nicht ausgezahlten Monatsgehälter und Sozialleistungen verlangen. In verzweifelten Demonstrationen versuchen sie, auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem die Regionalverwaltung jede Verantwortung von sich zu weisen versuchte und die Arbeiter ihrem Schicksal überliess, solidarisierten sich weite Teile der Bevölkerung mit ihnen, insbesondere die Jugendlichen und Studenten in Tuzla.
Keine Perspektive für die Generation Dayton
Schliesslich brachten Jugendliche und Studenten die entscheidende Dynamik in die Proteste. Zwar versuchten sie, dabei ihre Frustration wegen ihrer mangelnden Perspektiven in gemässigter Form zum Ausdruck zu bringen. Diese Kanalisierungsversuche mündeten aber in gewaltsamen Protesten und führten zu Zusammenstössen mit der Polizei.
Die bosnische Generation Dayton - jene Jugendliche, die während des Kriegs oder kurz nach dem Friedensvertrag von Dayton im Jahre 1995 geboren wurden - wuchs mit dem dysfunktionalen Staat auf und sieht für sich keine Zukunft. Die Jugendarbeitslosigkeit in Bosnien liegt bei 65%. Viele junge gut ausgebildete Bosnier finden keinen Job, weil es im wirtschaftlich brach liegenden Bosnien kaum freie Stellen gibt. Zudem werden die wenigen freien Stellen durch Vetternwirtschaft oder gegen Bezahlung vergeben.
Social Networks
Selbst an den Universitäten ist Korruption bei der Absolvierung von Prüfungen und selbst für das Erlangen von Abschlüssen üblich. Trotz all dieser Missstände sind die Jugendlichen mit allen digitalen Phänomen der Cyber-Welt vertraut und vollständig in der modernen Social-Media Welt von Facebook und Twitter angekommen. Wie es auch schon während des arabischen Frühlings zu beobachten war, nutzen auch die Jugendlichen in Bosnien alle Social-Media-Kanäle, um sich zu informieren, Informationen viral zu verbreiten und vor allem, um sich zu organisieren.
Facebook-Gruppen der Solidarität schossen wie Pilze aus dem Boden, und die Hashtags „#Protesti“ und „#Tuzla“ verbreiteten sich rasend schnell auf Twitter. Die viralen Phänomene der sozialen Plattformen gehörten zu den Katalysatoren, die zu den landesweiten Protesten beigetragen haben.
Dass die Gewalt rasch auf Sarajevo und andere Städte übergriff, zeugt aber von einer weit verbreiteten allgemeinen Enttäuschung, die sich nicht an einem einzigen Anlass festmachen lässt, sondern die allgemeine gesamtgesellschaftliche Frustration aufzeigt. Diese Frustration übergreift alle ethnischen Grenzen. Der existenzielle Abgrund betrifft alle zerstrittenen Ethnien und könnte jene sogar einen.
Verschärftes Krisenbewusstsein in Bosnien
Die Bosnier wollen den gut bezahlten Saboteuren ihrer Gegenwart und Zukunft nicht länger zusehen. Ihr Widerstand zeigt, dass die penetrante Ethnisierung der Verfassung und der gesamten politischen Kaste endgültig gescheitert ist. In Anbetracht der ungemeinen komplizierten Lage Bosniens, die von unzähligen Faktoren beeinflusst wird, ist der „bosnische Frühling“ nicht mit den Demonstrationen der arabischen Welt, die zu Umstürzen der jeweiligen Regimes geführt haben, gleichzusetzen.
Der wahre bosnische Frühling besteht darin, dass die Proteste aufzeigen, wie sehr es zu einer Bewusstseinserweiterung in der bosnischen Gesellschaft gekommen ist. Dagegen kommt keine ethno-nationalsozialistischer Rhetorik mehr an. Wie Slavoj Zizek in seinem Kommentar im "Guardian" richtig aufzeigte: Es scheint so, als ob die Bosnier endlich die wahren Feinde und Hauptverantwortlichen für ihre Misere gefunden haben. Mit dem Abbrennen der Präsidialamtes in Tuzla haben die Demonstranten ein Exempel statuiert. An dessen Mauern hat jemand das passende Motto des Aufstandes gesprüht: „Stop Nacionalizmu“.