Vor knapp zehn Jahren entführte eine jihadistische nigerianische Miliz 276 Mädchen. Von fast 100 von ihnen fehlt noch immer jede Spur. In Erinnerung an die Verschleppten hat die französische Künstlerin Prune Nourry Terrakotta-Köpfe angefertigt, die in Lagos ausgestellt sind.
Die Verstecke der Radikalislamisten werden im Nordosten Nigerias vermutet. Dort haben Soldaten einige wenige der Entführten aufgespürt und in Sicherheit gebracht. Einige trugen Babys im Arm. Es wird vermutet, dass die Väter dieser Kinder Mörder sind.
Die radikalislamistischen Entführer gehören der Terrororganisation «Boko Haram» an, die vor allem im Norden und Osten Nigerias wütet. Die Miliz soll etwa 35'000 Menschen ermordet haben. Zwei Millionen wurden in die Flucht getrieben.
Vergewaltigt, gesteinigt
Die entführten Mädchen sind längst keine Mädchen mehr. Sie waren bei ihrer Verschleppung vor zehn Jahren 15 bis 18 Jahre alt. Einigen wenigen gelang nach Jahren der Gefangenschaft die Flucht. Sie erzählen, dass viele misshandelt und mehrmals am Tag vergewaltigt wurden. Einige wurden zwangsverheiratet oder getötet. Die Agentur AP zitiert eine Geflüchtete, die sagt, Boko Haram steinige Gefangene zu Tode. Einige der jungen Frauen seien von einem gepanzerten Auto zerquetscht worden. Drei seien gestorben, als bei ihrer Flucht eine Landmine explodierte.
Die Sekundarschülerinnen waren in der Nacht vom 14. auf den 15. April 2014 aus der Government Secondary School in Chibok entführt worden. Sie wurden gezwungen, auf Lastwagen zu steigen. Die Schule, die die Mädchen besucht hatten, gehörte der pazifistisch-protestantischen «Church of the Brethren». Soldaten, die die Schülerinnen bewachen sollten, waren von den Milizionären überwältigt worden.
In den folgenden Jahren gelang es 16 Mädchen zu fliehen. Im Oktober 2016 wurden nach Verhandlungen 21 entführte Mädchen nach zweijähriger Geiselhaft dem Roten Kreuz übergeben. Im Mai 2017 liess Boko Haram erneut 82 junge Frauen frei. Im Austausch dafür liess die nigerianische Regierung festgenommene Terroristen frei.
Die Entführung der Sekundarschülerinnen im nordwestnigerianischen Chibok im Bundesstaat Borno war nur eines der spektakulärsten Verbrechen von Boko Haram. Die Organisation, die im Norden Nigerias einen islamistischen Staat errichten will, setzt sich für die Einführung der Scharia in ganz Nigeria ein und will westliche Bildung verbieten. Der Name «Boko Haram» wird von einigen als «Bildung ist Sünde» übersetzt. Die Bevölkerung bezeichnet die Terroristen als «nigerianische Taliban». Die Gruppe unterhält Verbindungen zu Al-Kaida und zu den somalischen Al-Shabaab-Terroristen.
Bruch mit der Gesellschaft
Gegründet wurde Boko Haram in den 1990er Jahren vom Prediger Mohammed Yusuf, der im salafistischen Milieu agierte. Eine feste Struktur erhielt die Miliz allerdings erst nach der Jahrtausendwende. Schon bald erhielt die Gruppe auch die Unterstützung einiger nigerianischer Politiker.
Die meisten Anhänger der Gruppe jedoch, vor allem Koranschüler, brachen mit der Gesellschaft, die sie als «unrein» bezeichnen. Nahe der Grenze zur Republik Niger errichteten sie ein fundamentalistisches Lager, das sie «Afghanistan» nannten und das von den Behörden nicht geduldet wurde. Daraufhin griffen die Koranstudenten eine Polizeistation in Kanama nahe der Grenze zu Niger an, erbeuteten Waffen und riefen in der Gegend einen unabhängigen islamistischen Staat aus. Die Armee zerstörte das Lager, mehrere Fundamentalisten kamen ums Leben.
Kampf gegen Christen und «ungläubige Moslems»
Seither mordet Boko Haram und terrorisiert weite Landstriche, die bis nach Tschad, Niger und Kamerun hineinreichen. Ziel von Bombenanschlägen sind vor allem Christen. Schon 2016 schätzte die Weltbank, dass der Terror Schäden von fast sechs Milliarden Dollar angerichtet hat. Immer wieder werden Schule und Verwaltungsgebäude überfallen und Polizeistationen und sogar Gefängnisse zerstört.
Angegriffen wurden auch das Polizeihauptquartier und ein Uno-Gebäude in der Hauptstadt Abuja, Pubs, christliche Kirchen, Bankfilialen, Zeitungsredaktionen, Telefonmasten, Busstationen. 2012 forderte Boko Haram alle Christen im Norden Nigerias auf, die Region schleunigst zu verlassen. Täten sie das nicht, würden sie getötet. Waffen erhielt die Terrorgruppe offenbar aus libyschen Beständen. Immer wieder wurden Schüler und Schülerinnen entführt, misshandelt, getötet. Im Februar 2014 begann die nigerianische Luftwaffe, Stellungen von Boko Haram zu bombardieren.
Insgesamt verübten die Boko-Haram-Terroristen laut nigerianischen Angaben mehrere hundert Überfälle und Anschläge, bei denen Menschen starben. Unter den insgesamt 35’000 Toten sollen sich neben Christen auch viele Schiiten und «ungläubige Moslems» befinden.
«Bring Back Our Girls»
Um die entführten Mädchen ist es still geworden. Die Eltern der noch Festgehaltenen beklagen, dass die nigerianischen Behörden nichts zur Befreiung der jungen Frauen tun. «Die Behörden versagen», erklärt auch Amnesty International.
Unter dem Slogan «Bring Back Our Girls» versuchen nicht nur Eltern auf die Behörden einzuwirken. Sie werfen der Regierung vor, die 98 jungen Frauen, die sich noch in der Gewalt der Terroristen befinden, «abgeschrieben» zu haben. Schon 2015 forderte der Uno-Menschenrechtsrat bei einer Sitzung in Genf Nigeria auf, mehr für die Freilassung der jungen Frauen zu tun. Zahlreiche Persönlichkeiten versuchten Druck auf die nigerianische Regierung auszuüben, unter anderem Michelle Obama. In den sozialen Medien werden Petitionen unterschrieben, immer wieder finden Demonstrationen statt.
Im Kampf gegen Boko Haram scheint die nigerianische Armee machtlos. Sie befindet sich in einem desolaten Zustand. Oft müssten die Soldaten wochenlang auf ihren Sold warten. Das wirkt sich auf Moral und Disziplin aus. Zudem ist erwiesen, dass Offiziere und Soldaten mit den Terroristen zusammenarbeiten. Auch die Militärs gehen nach Angaben von Amnesty International oft brutal mit der eigenen Bevölkerung um. Diese fürchte das Militär oft ebenso wie Boko Haram.
Eine Vermutung von Beobachtern in Abuja ist, dass einige der entführten jungen Frauen sich im Laufe der Jahre arrangiert haben und jetzt in eheähnlichen Verhältnissen mit den Entführern zusammenleben.
Laut Amnesty haben die Eltern der noch entführten Mädchen die Hoffnung fast aufgegeben, ihre Töchter jemals wieder zu sehen.