Das Gros der Schweizer Politiker klammert sich an Strohhalme in der EU-Verlautbarung, um dem Volk immer noch den Glauben an den bilateralen Weg vorgaukeln zu können. „Der bilaterale Weg ist immer noch möglich“. (Bundesrätin Widmer-Schlumpf). „Möglich“ tönt beruhigend, aber in diesem „möglich“ schwingt ungesagt mit: der bilaterale Weg ist schwierig geworden. „Möglich“ lässt sogar die Möglichkeit offen, dass er unmöglich wird, oder uninteressant, inakzeptabel. „Auch die Schweiz hat ihre Trümpfe“, „sie muss nur selbstbewusst auftreten“ (Kommentare): Der bilaterale Weg ist noch lange nicht am Ende.
Der bilaterale Weg: ohne Zukunft?
Ähnlich wie das „möglich“ der Bundesrätin tönt es bei „verschiedenen Bundesräten“ (NZZ): „Die EU stellt den bilateralen Weg nicht grundsätzlich in Frage“. Auch für die FDP steht der bilaterale Weg weiterhin im Vordergrund, aber sie bestätigt expliziter: „Die Schweiz steht am Anfang von schwierigen Verhandlungen“. „Weiter auf dem bilateralen Weg, später muss vielleicht einmal über den EU-Beitritt diskutiert werden“, sagt sogar die europafreundliche GLP in ihrem Parteiprogramm, und die Abschaffung der in ihrer Energiesteuer-Initiative vorgesehenen Mehrwertsteuer macht den EU-Beitritt unmöglich, denn in der EU ist sie obligatorisch.
Ähnlich inkonsequent die SP: Sie tut so, wie wenn sie stramm für den EU-Beitritt wäre, aber ihre Forderungen nach Binnenmarkt-inkompatiblen Ausnahmen zum Schutz der Schweizer Arbeitnehmer vor Konkurrenz aus der EU nehmen diesem Postulat alle Glaubwürdigkeit. Mit ihren (SP) parteipolitisch ausgerichteten und sogar (GLP) berechtigten Forderungen sind auch sie trotz beitrittsfreundlicher Grundhaltung realitätsblind.
Kern der EU-Forderungen
Denn realitätsblind sind diese Verlautbarungen mit grösster Wahrscheinlichkeit allesamt. Zwar ja, das oberste EU-Organ – gegenüber Drittstaaten ist das der Ministerrat, der am 20.Dezember die negative Antwort auf die Schweizer Vorschläge festgezurrt hat –, hat Verhandlungen nicht ausgeschlossen, und an dieses Wort knüpft der verkrampfte Schweizer Optimismus seine Hoffnungen: In Verhandlungen ist ja alles möglich, sogar dass die EU nachgibt.
Aber alle dem Ministerrat nahen Brüsseler Beobachter sind sich einig: Seine Antwort ist diplomatisch höflich und die EU-Sprecher suchen die härtesten Kanten abzuschleifen, aber dass er von seinen wesentlichen Forderungen abrücken wird, scheint ausgeschlossen. Von kleinen Nebenkonzessionen abgesehen heisst der Kern: Die Schweiz hat sich sämtlichen Regeln des EU-Binnenmarktes zu unterziehen, sie hat auch deren innerhalb der EU beschlossenen Weiterentwicklungen automatisch oder mindestens schnell und garantiert nachzuvollziehen und in ihr Recht einzufügen, alles andere verschafft den Schweizer Unternehmen inakzeptable Privilegien gegenüber ihren EU-Konkurrenten.
Brüsseler Originalton
Originalton EU-Ministerrat: „...notwendig, einen geeigneten Rahmen zu finden, der für alle bestehenden und künftigen Abkommen Anwendung findet. Dieser Rahmen sollte unter anderem einen rechtlich verbindlichen Mechanismus für die Anpassung der Abkommen an den sich entwickelnden EU-Rechtsbestand enthalten.“ „Die Schweiz steht durch ihre Teilnahme am Europäischen Binnenmarkt nicht nur in einem bilateralen Verhältnis zur EU, sondern ist auch Teilnehmerin an einem multilateralen Projekt.“
Der letzte Satz trifft in subtiler Sprache den Kern unseres Problems mit der EU. Nicht wir haben den Binnenmarkt geschaffen, allein die EU! Und zwar mit einem Instrument, welches wir vehement ablehnen und als Hauptgrund betrachten, ihr nicht beizutreten: Mehrheitsabstimmungen! Abstimmungen, denen sich auch die Schweiz zu unterziehen hätte, wenn sie in die Minderheit gerät. Was für ein Horror! Aber ohne Mehrheitsabstimmungen wäre der Binnenmarkt nie zustandegekommen, doch profitieren von ihm wollen wir einewäg! Gelegentlich liest man in Leserbriefen sogar, wir hätten ein Recht auf Teilnahme, und die EU-Bedingungen seien eine Erpressung.
Nichtspieler Maul halten!
„Nichtmitspieler Maul halten“, „wenn ich in einem Klub bin muss ich auch seine Regeln einhalten“: Diese Sprüche gelten bei uns diskussionslos. In unserem Verhältnis zur EU gelten sie aber plötzlich nicht mehr! Wir wollen in den Binnenmarkt des Brüsseler Klubs, aber seine Regeln wollen wir nicht nachvollziehen! Das hat uns die EU in den bilateralen Abkommen sogar gewährt, ohne dazu verpflichtet zu sein.
Nach zwanzig Jahren hat sie nun genug davon. O-Ton EU-Ministerrat: “...der Ansatz der Schweiz, an der Politik und den Vereinbarungen der EU über sektorielle Abkommen in immer mehr Bereichen ohne eine horizontale institutionelle Vereinbarung teilzunehmen, hat seine Grenzen erreicht und muss überdacht werden.“ Mit der „horizontalen institutionellen Vereinbarung“ meint die EU den garantierten Nachvollzug neuer Binnenmarktregeln durch die Schweiz in allen bestehenden und zukünftigen bilateralen Abkommen.
Das Volk soll es nicht merken
Das ist die Realität. In der subtilen Wortwahl unserer massgeblichen Kreise entdeckt man sogar, dass sie das zu sehen beginnen. Der EWR- und sogar der EU-Beitritt unterliegen seit dieser Woche nicht mehr dem absoluten Denkverbot. Auf intellektueller Ebene werben Akademiker und Ex-Diplomaten wie alt Staatssekretär Franz Blankart seit Monaten für eine Neubewertung des EWR. Dieser bisher als Tabu behandelte Europäische Wirtschafts-Raum wurde diese Woche von politischen Exponenten vorsichtig als denkbare, vielleicht nötige, vielleicht sogar bessere Alternative zum Bilateralismus erwähnt. Dem Unwort „EU-Beitritt“ begegnet man in den neuesten Debatten nicht mehr als undenkbar-negativem Begriff sondern kurz und neutral.
Die meisten Sprecher dieser massgeblichen Kreise getrauen das aber nur in so schüchternen Ausdrücken anzudeuten, dass es das Publikum nicht merkt: „längere Verhandlungen...“, „immer noch möglich...“ „Die EU macht lediglich gewisse Vorbehalte“ (Widmer-Schlumpf)“: das ist schon sträflich verniedlichend. Unsere Politiker haben den Bilateralismus dem Volk so penetrant als Königsweg vorgegaukelt, dass sie ihn nun verbal nicht sofort verlassen können. Das Volk hat aber ein Recht zu erfahren, und zwar jetzt, dass dieser Weg nach seriöser Beurteilung aller Fakten wahrscheinlich am Ende ist und wir die Alternativen EWR und EU-Beitritt sachlich diskutieren müssen, wenn wir unsere Wirtschaft nicht vom Binnenmarkt, einem existentiellen Exportmarkt, abschnüren wollen.
Das SVP-EU-Monster gibt es nicht
Noch ein Wort zur SVP! Sie ist als einzige Partei konsequent gegen die Zumutungen der EU. Dazu hat sie in unserer Demokratie jedes Recht. Nur erklimmt ihr Präsident Toni Brunner in seiner Reaktion den Gipfel der Realitätsblindheit. Als guter Sohn seines Ziehvaters Blocher hat er dessen Wort vom “Kolonialvertrag“ leicht variiert: Ein Nachgeben würde uns „satellisieren“.
„Die EU“, die diktiert, satellisiert und kolonisiert, die gibt es aber nicht, sie existiert nur in der Panikphantasie von SVP und AUNS. Sämtliche Gesetze der EU werden zwischen dem EU-Ministerrat und dem EU-Parlament ausgehandelt, also von den demokratisch gewählten Ministern und EU-Abgeordneten jedes Mitgliedlands, in einem Prozedere, das aufs Haar der schweizerischen Differenzbereinigung zwischen Nationalrat und Ständerat gleicht. Die EU-Kommission, welche sich Blocher & Co. als autoritären Diktator in Brüssel vorstellen, darf diesen zwei obersten Organen der EU nur Textvorschläge für diese Gesetze machen und muss sie dann auf Verordnungsstufe ausführen, wenn EU-Parlament und Ministerrat sie abgeändert und in demokratischen Mehrheitsabstimmungen beschlossen haben.
Das kolonial-satellisierende EU-Monster, welches von oben herab Befehle erteilt, gibt es nicht, die zwei obersten Organe der EU sind von ihren 27 Mitgliedvölkern demokratisch gewählt. Sind sie ihre eigenen Satellisierer? Sind ihre demokratisch gewählten EU-Unterhändler ihre Kolonisatoren? „Nur die allergrössten Kälber wählen ihre Metzger selber“, hheisst es bei Brecht. Für Brunner und Blocher sind 500 Millionen Europäer solche Kälber.