Lieber Bundesrat: Irgendwann reisst der Geduldsfaden! Die Haltung des Bundesrats in Sachen Rahmenabkommen ist kontraproduktiv. Abwarten und Tessiner Merlot trinken mag für Bundesrat Ignazio Cassis Gültigkeit haben. Doch für unser Land ist diese Haltung nicht zukunftskompatibel.
Die Fundamentalopposition der SVP gegen ein EU-Abkommen irgendwelcher Art scheint den zuständigen Bundesrat in eine Art Schockstarre versetzt zu haben. Doch mehr als zwei Jahre nach dem eigenmächtigen Abbruch der Verhandlungen mit der EU werden die «Kollateralschäden» dieser überhasteten, aber folgenschweren Übung immer sichtbarer. Wenn der Bundesrat aus Angst vor dem eigenen Stimmvolk zögert, wartet, taktiert oder «Verhandlungsfortschritte» ankündigt (wie immer man dem sagen will), sei ihm in Erinnerung gerufen: Es gibt auch Mannen und Frauen in diesem Land, die vorwärtsblicken! Wer rückwärtsgerichtet in die Zukunft schreitet und seit Jahrzehnten vom «schleichenden Beitritt in die EU» warnt, soll dort verharren, wo er vor 30 Jahren stand.
Wann reissen die Geduldsfäden?
«Die lange Dauer der laufenden Sondierungsgespräche EU-Schweiz strapaziert die Geduldsfäden in der EU», schrieb die NZZ im September 2023. Dem wäre beizufügen, dass das Gleiche auch für viele Schweizerinnen und Schweizer gilt. Seit Bundesrat Ignazio Cassis im Mai 2021 über Nacht eigenmächtig und unverständlicherweise die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU abbrach, sind 29 Monate vergangen. Seither schütteln wir den Kopf, hören wenig Konkretes aus Bern und müssen feststellen, dass wir jeden Monat Einbussen erleiden – finanzielle, moralische, mentale.
Unsere Staatssekretärin Livia Leu hatte – bevor sie im Frühling 2023 ihren Rücktritt vom EU-Verhandlungsdossier verkündete – während 15 Monaten zehnmal mit Vertretern der EU-Kommission verhandelt. Die Gespräche mit der EU würden durch diesen Rücktritt nicht beeinträchtigt, liess der Bundesrat verlauten. Könnte man das auch so interpretieren, dass, wo keine Resultate realisiert werden, auch nichts Substanzielles beeinträchtigt werden kann? So oder so, Bundesrat Ignazio Cassis versprach zu jenem Zeitpunkt, einen neuen Anlauf zu nehmen, um ein neues Verhandlungsmandat mit der EU zu lancieren. Die Zeit sei reif, die bilaterale Blockade mit der EU zu durchbrechen, äusserte er sich dezidiert. Seither sind fünf Monate vergangen …
Noch eine Schlappe
Anfang September 2023 vermeldeten die Medien, dass sich Grossbritannien und die EU nach dreijährigen Verhandlungen über die Teilnahme des Nicht-EU-Landes am Forschungsprogramm Horizon Europe geeinigt hätten. Ab sofort können sich die britischen Forscher wieder um Fördergelder bewerben und sich an Projekten beteiligen.
Nun muss man wissen: Das Forschungsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union (EU) ist das weltweit grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm und das ambitionierteste derartige Programm in der Geschichte der Europäischen Union. «Innovation dank Kooperation» mit einem geplanten Budget von 94 Milliarden Euro dauert von 2021 bis 2027.
«Die Schweiz bleibt draussen», konstatierte die NZZ einst trocken. Was heisst das? Nach dem Ausschluss aus dem Horizon-Programm im Jahr 2021 müssen die Schweizer Universitäten neue Wege von Allianzen mit europäischen Universitäten suchen. «Der vollständigen Einbindung in Horizon Europe oder Erasmus können diese jedoch nicht das Wasser reichen» (SWI swissinfo.ch). Das heisst nichts anderes, als dass unsere ambitionierten Nachwuchsforschenden durch den Rauswurf aus dem EU-Programm ausgebremst sind. Für sie ist das ein veritables Debakel. Es ist deshalb mehr als verständlich, dass unsere Universitäten auf einen Wiederanschluss an Horizon Europe drängen.
Für die Schweizer Forschungs- und Bildungsgemeinschaft war der selbstverschuldete Rauswurf aus Horizon Europe ein schwerer Schlag, denn Brüssel stuft die Schweiz seither als nicht assoziiertes Drittland ein, was den Zugang zu Forschungszuschüssen und Finanzierungen stark einschränkt.
Bilateraler Weg infrage gestellt
Mit dem Verhandlungsabbruch von Mai 2021 riskiert der Bundesrat mittelfristig den bisher vom Volk mehrfach bestätigten und erfolgreichen bilateralen Weg mit der EU. Swissmem, der führende Verband für KMU und Grossfirmen der Schweizer Tech-Industrie, schreibt denn auch, dass die Schweizer Industrie zwingend auf einen möglichst hindernisfreien Zugang zum Europäischen Binnenmarkt und auf stabile Beziehungen zur EU angewiesen sei (swissmem.ch). «Nichts tun ist keine Option – Bundesrat muss rasch handeln», schrieben die Verantwortlichen von Swissmem – damals, im Mai 2021 …
Matthias Leuenberger, Präsident des Pharma- und Chemieverbands Science Industries mit rund 74'000 Angestellten – einer Branche, die für die Schweiz volkswirtschaftlich zentral ist –, hoffte im Juni 2023 auf eine baldige Einigung der Schweiz mit der EU. Er betonte, «die Folgen eines Scheiterns würden unterschätzt» (NZZ). Leuenberger rief in Erinnerung, dass geregelte Beziehungen zur EU und insbesondere der Standort Basel für Forschung, Entwicklung und Produktion grosse Bedeutung hätten. Das müsse unbedingt so bleiben.
Auch Stefan Brupbacher, Verbandsdirektor der Maschinenindustrie, sorgt sich um die Zurückstufung der Schweiz bei EU-Programmen in der Forschung oder der Raumfahrt. «Die Verunsicherung ist bei allen Firmen gross, denn EU-Staaten sind mit fast 60 Prozent unserer Exporte der grösste Absatzmarkt. Man sieht die Wolken am Horizont und fragt sich zunehmend frustriert, wann der Bundesrat endlich eine Lösung findet» (NZZ).
In einem Interview in Zusammenhang mit der anstehenden Strompreiserhöhung äusserte sich Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen, im Tages-Anzeiger: Eine weitere Folge des Verhandlungsabbruchs sei das Problem, dass die Schweiz deshalb kein Stromabkommen mit der EU hat. Dieses wäre für unsere Versorgungssicherheit sehr wichtig.
Weiter wie bisher? Nein!
Sagen wir es klar und deutlich: Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist zurzeit nicht geklärt. Trotz der aus Bern immer wieder abgefeuerten Nebelpetarden sehen wir doch klar, dass die EU auf der bisherigen Basis nicht weitermachen wird.
Wir haben also ein gravierendes, strategisches und fundamentales Problem. Während der letzten neun Jahre hat Bern sechs Spitzendiplomaten «verheizt». Es bleibt unbestritten, dass die Schweiz in der EU mitmachen will, ja wirtschaftlich muss. Doch wer bei einer Partie mitspielen will, muss deren Regeln akzeptieren. Bisher habe ich noch keine Fussball-WM erlebt, bei der eines der Teams die Offside-Regeln für sich als nicht gültig erklärte (und damit durchgekommen wäre).
Nun haben wir im Bundesrat zwei bestandene SVP-Männer, neuerdings eine Frau aus SVP-Gnaden und einen passiven FDP-Arzt – da dürfte unausgesprochen ein Teil des strategischen Problems seinen Ursprung haben. Ist das mehr als eine Spekulation? Das Problem wird sich nach dem Erdrutschsieg der SVP am Wahlsonntag vom 22. Oktober 2023 noch vergrössern.