Über theoretische Physik kursiert folgender Witz: Sie hat grundsätzlich nichts mit der Realität oder ähnlichem Unsinn zu tun. Sie distanziert sich davon durch abstrakte Modelle und Gedankenexperimente.
Das Modell ist nicht die Realität
Solche Selbstironie spiegelt ein Selbstverständnis, das mit einer gewissen erkenntnistheoretischen Reife korrespondiert, damit also, dass die moderne Physik nicht nur beispiellos abstrakte Gedankenflüge kennt, sondern auch ebenso beispiellose Abstürze und Grundlagenkrisen durchmachen musste. Sie ist, könnte man sagen, gerade durch diese Höhen- und Tiefenerfahrungen in ihrer jüngeren Geschichte zu einer Disziplin gereift, die wohl am illusionsfreiesten mit den eigenen Erkenntnisansprüchen umzugehen weiss.
Ein derartiger Umgang mit sich selbst schlüge auch der Ökonomie gut an. Ein wachsendes Terrain der Wirtschaftswissenschaften wird zum Anwendungsfeld von mathematischen Modellen sowie von Statistik und Computersimulation. Was überhaupt nicht gegen diese Methoden spricht!
Nur ist ein Markt kein Labor, in dem sich alles unter kontrollierten Bedingungen halten lässt. Es scheint bei vielen Ökonomen eine alte Binsenweisheit vergessen zu gehen: Die Karte ist nicht das Gelände, das Modell nicht die Realität. Schlimmer, es scheint sich eine Unkultur der Selbstgefälligkeit zu etablieren, die in der verhängnisvollen Attitüde eines Modell-Fetischismus kulminiert: Wenn das Modell nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, umso schlimmer für die Wirklichkeit.
Umgang mit der Klassik
Ein entscheidender Unterscheid zwischen Physik und Ökonomie zeigt sich im Umgang mit ihrer Klassik. Die sogenannt klassische Physik gilt als überholt, oder sagen wir vorsichtiger: in einen spezifischen Geltungsbereich verwiesen. In der Ökonomie behauptet sich dagegen die Klassik in Gestalt des sogenannten neoklassischen Paradigmas.
Man hört dies ausgerechnet von Physikern, welche in die Ökonomie überwechselten. Jean-Philippe Bouchaud zum Beispiel ist Mitbegründer der sogenannten Ökonophysik, die wirtschaftliche Phänomene mit den Methoden der theoretischen Physik studiert. In einem fanalartigen Essay nahm er 2008 in der Zeitschrift «Nature» das neoklassische Paradigma aufs Korn:
«Klassische Ökonomie basiert auf sehr starken Annahmen, die schnell zu Axiomen werden, zum Beispiel: Die Rationalität wirtschaftlicher Akteure (die Voraussetzung, dass jeder solche Akteur – ob Privatperson oder Firma – immer im Interesse der Profitmaximierung handelt); oder: Die ‚unsichtbare Hand’ (Akteure handeln in der Verfolgung ihrer eigenen Interessen stets zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen); oder: Markteffizienz (Marktpreise spiegeln immer getreu alle Informationen über die Marktgüter). Ein Ökonom sagte mir einmal zu meinem Erstaunen: ‚Diese Konzepte (wie Rationalität oder Gleichgewicht) sind so stark, dass sie jegliche Beobachtung überflüssig machen.’»
Genau das charakterisiert geschlossene Weltanschauungen. Ökonomie, so verstanden, ist ein quasi-religiöses Glaubenssystem. Und Ökonomen sind seine Priester.
Der Markt ist kein wirtschaftliches Gas
Bouchaud fordert aus diesem Grund eine stärkere Durchdringung – eine «Revolution» – der Ökonomie und der Finanzwissenschaften mit naturwissenschaftlichem und ingenieuralem Denken. Genau dies halte ich für einseitige Diät. Selbst wenn sich die Ökonomie quasi durch eine «Physikalisierung» ihrer Modelle auf Vordermann bringen liesse, sollte man prinzipielle Unterschiede nicht aus den Augen verlieren.
Exaktheit ist immer erkauft durch Abstriche – Idealisierungen und Abstraktionen – am Objekt. Zur Stärke der Physik gehört, dass sie in der Modellierung physikalischer Phänomene eigentlich wenig über die «Akteure» eines System wissen muss, um verlässliche Aussagen zu machen: Eine Handvoll Eigenschaften von Molekülen genügt, um das gesetzmässige Verhalten eines Gases zu erklären.
Gelegentlich scheint es, als sähen Ökonomen in Grössen wie dem Preis einer Option oder dem Zinssatz etwas Analoges zur Temperatur oder Wärmeleitfähigkeit in der Physik. Ein Markt aber ist kein wirtschaftliches Gas; seine Akteure sind meist viel eigenwilliger als Moleküle, ihre Zustandsvariablen lassen sich nicht a priori festlegen. Und deshalb muss man, wenn man hier «gesetzmässiges» Verhalten beobachten will, mit diesem Eigenwillen – und zwar nicht bloss mit jenem «axiomatischen» Egoismus des Homo oeconimicus – rechnen. Paradox formuliert: Man muss mit dem Unberechenbaren rechnen.
Das macht andere als bloss quantitative Methoden notwendig, Methoden, wie wir sie aus den Sozialwissenschaften kennen. So ist zum Beispiel nur schon das Geld nicht einfach quantitatives Zahlungsmittel. Die schwindelerregenden immateriellen Abstraktionen heutiger Finanzgeschäfte täuschen nicht darüber hinweg, dass Geld seinen Ursprung in der «sozialen Materie» hat, in den vielgestaltigen Transaktionen der Menschen. Und hier spielen humane Faktoren wie Vertrauen, Gier, Angst, Nepotismus, Machtwillen eine entscheidene Rolle, nenne man sie nun irrational oder anders. Mit einem Wort: Es geht hier um die «revolutionäre» Einsicht, dass die Ökonomie eigentlich eine Sozialwissenschaft, Teil der Anthropologie ist.
Don’t let the Nobel prize fool you
Jüngst erschien im «Guardian» ein Artikel des holländischen Journalisten Joris Luyendijk mit dem provokativen Titel «Don’t let the Nobel prize fool you. Economics is not a science.» – Natürlich ist die Ökonomie eine Wissenschaft. Luyendijk meint etwas anderes. «Science» hat im Englischen die Bedeutung von exakter Wissenschaft, wie Physik und Chemie. Ein Nobelpreis in Ökonomie erzeugt also den Eindruck, diese Wissenschaft sei vom Schlage der Physik oder der Chemie.
Das ist nicht nur falsch, sondern lässt unter Laien, ja, auch unter Vertretern der Ökonomie selbst das Bild einer Wissenschaft entstehen, die objektive und verlässliche Aussagen und Voraussagen über das wirtschaftliche Geschehen macht. Dabei haben uns die Ökonomen mit ihren Instrumenten und Prognosen, könnte man sagen, in der letzten Zeit oft genug in den Dreck gefahren.
Das liegt indes nicht primär an ihren Instrumenten, sondern am Selbstverständnis der Zunft. Jede Disziplin hat ihr Portfolio an prognostischen Erfolgen und Misserfolgen. Und jeder Disziplin ist es unbenommen, sich mit dem exakten Werkzeug auszurüsten, von dem sie sich Erfolge verspricht. Aber jede Disziplin operiert, je nach ihrem Untersuchungsobjekt, auch unter spezifischen und sehr verschiedenen methodischen Bedingungen. Und diese Bedingungen zu reflektieren macht den Reifestatus aus.
Eine Ethnologie der Wirtschaftsakteure
Hinzu kommt ein weiteres. Alan Greenspan, einer der Architekten der Finanzmarkt-Deregulierung und Modell-Aficionado, sagte vor einem Kongressausschuss nach dem Crash 2008: «Ich machte einen Fehler in der Annahme, das Selbstinteresse von Organisationen, speziell von Banken, sei so geartet ist, dass es sie am besten dazu befähige, ihre Aktionäre und deren Eigenkapital zu schützen.» Das heisst, in Greenspans Modell fand die Möglichkeit keinen Platz, dass Banker ihre eigenen Banken auf Grund setzen können.
Dabei hätte ihm eine der raren finanzanthropologischen Feldstudien leicht sagen können, dass in den Banken seit ein paar Dekaden eine Kultur der Null-Jobsicherheit, des Hire-and-Fire und der Null-Loyalität vorherrscht, Motto: Wenn du innert fünf Minuten das Büro verlassen kannst, hat dein Job einen Fünf-Minuten-Horizont.
Karen Ho dokumentiert diese Mentalität in ihrem Buch über die Ethnologie der Wall Street eindrücklich. Ähnlich der Finanzsoziologe Vincent Lépinay über das Geschäft mit den neuen strukturierten Finanzprodukten: In seinem Buch kommen auch solche Parameter vor wie die Kaffeepausen und Körpersprache der Börsenhändler. Oder betrachten wir agentenbasierte Modelle. Wenn ihre Simulationen uns sagen, dass Börsenhändler dazu tendieren, es anderen Händlern gleichzutun, stellt dieser Herdentrieb wirklich eine so überraschende Erkenntnis dar? Hätte man sie nicht auch aus direkten Beobachtungen und «Feldstudien» auf den Börsenplattformen gewinnen können? Um die Ökonomie zu verstehen, muss man auch ihre Akteure verstehen.
Vom Erwachsenwerden der Ökonomie
Genau deshalb ist der Vorschlag von Luyendijk beherzigenswert: Wäre es nicht extrem nützlich, den Nobelpreis für Ökonomie zu überholen und ihn für alle Sozialwissenschaften auszusetzen? Denn auf diese Weise kämen heterodoxe und kreative Ansätze zur Geltung, die der Mainstream gewöhnlich zu übersehen beliebt.
Erste Schritte wurden bereits getan. Der Psychologe Daniel Kahneman erhielt 1969 den Nobelpreis für seine unkonventionellen Einsichten in menschliches Verhalten, allerdings eben in Ökonomie. Amartya Sen hat ethische Fragen in die Ökonomie hineingetragen und den Nobelpreis 1998 erhalten. Warum sollte man nicht im gleichen Sinn zum Beispiel die Arbeiten von Richard Sennett, Zygmunt Bauman oder des Schweizer Ökonomen Bruno S. Frey als Werke der Sozialwissenschaften nobilitieren?
Im Grunde ist die Idee von Luyendijk viel revolutionärer als alle Reparaturempfehlungen der Wirtschafts-Ingenieure. Denn würde man sie ernst nehmen, dann bedeutete dies zweierlei. Sie stellten erstens den Menschen, wie er leibt und lebt, ins Zentrum des ökonomischen Universums; und sie lehrten zweitens eine gewisse erkenntnistheoretische Demut in Form eines soliden Verständnisses der Tatsache, dass jegliches Modellieren unzureichend bleibt.
Wer also die Ökonomie durch die Übernahme des mathematischen Werkzeugs auf den Level der exakten Wissenschaften zu bringen und so zu stärken versucht, sollte eine robuste Dosis erkenntnistheoretischer Skepsis mitbringen. Statt dem Drang nachzugeben, zur Physik der Sozialwissenschaften werden zu wollen, sollte die Ökonomie sich selbst als Sozialwissenschaft umdefinieren. Das bricht ihr keinen Zacken aus der Krone. Im Gegenteil: Erst so wird sie erwachsen.