Im 1. Jahrhundert n. Chr. schildert Plinius der Ältere die Erfindung des Zeichnens mit dieser kleinen Erzählung: Eine junge Frau muss ihren Liebsten ziehen lassen, und bevor er weggeht, folgt sie mit einer Kohle den Umrissen seines Schattens auf der Hauswand. So wird sie, die Verlassene, ein Bild von ihm haben.
In dieser reizenden Ursprungsgeschichte steckt eine komplexe Theorie des Bildes. Bilder haben demnach mit Mangel, Verlust und Sehnsucht zu tun, sie vergegenwärtigen etwas Vermisstes. Der Erzähler konnte aber auch voraussetzen, dass seinem Publikum Platons Höhlengleichnis geläufig war. Im 7. Buch des Dialogs «Politeia» lässt dieser den Sokrates, seinen Lehrer, mit dem berühmten Gleichnis die für das abendländische Denken so folgenreiche Ideenlehre erläutern.
Platons Sokrates-Figur also erzählt: In einer schachtartigen Höhle befinden sich Menschen, die ihr ganzes Leben dort als Gefangene verbracht haben. Schlimmer noch, sie sind auf eine Weise gefesselt und an den Boden gekettet, dass sie nur geradeaus an die Höhlenwand schauen können, vor der sie sich befinden. Hinter ihnen lodert ein von einer halbhohen Mauer abgeschirmtes Feuer. Hinter der Mauer verborgene Schattenspieler bewegen ihre Figuren vor dem Licht des Feuers, sodass die Schatten auf die Höhlenwand vor den Gefesselten fallen. Diese halten, da sie nie etwas anderes sehen, die bewegten Schatten für Lebewesen und das ihnen vorgegaukelte Geschehen für die ganze Wirklichkeit.
Vergegenwärtigung des Abwesenden
Platons Pointe läuft darauf hinaus, den philosophisch nicht Gebildeten jegliche wahre Erkenntnis abzusprechen. Was sie sehen und zu wissen meinen, ist nur der schale Abklatsch des Wirklichen. Zu Letzterem, der Ideenwelt nämlich, gelangt der Mensch erst nach mühsamem Aufstieg aus der Höhle ans Tageslicht – eine bildhafte Beschreibung für die philosophische Bekehrung, die aus dem Dunkel der Unwissenheit zur Helle des Seienden und schliesslich zur dessen Gipfel führt: zur Idee des Guten.
Nachwirkungen dieser Ideenlehre stecken in all jenen Philosophien und Ideologien, die der Masse der Nichteingeweihten die Fähigkeit zur Erkenntnis absprechen und eine höhere Einsicht in das Wesen der Welt für sich beanspruchen. Bilder jedoch bleiben grundsätzlich auf der Stufe dessen, was das Höhlengleichnis mit den Schatten an der Wand vergleicht. Sie sind Täuschungen und haben mit der wirklichen Welt nur soviel gemein wie ein Schattenriss mit dem realen Körper.
Auch ohne explizite Anknüpfung an Platons Idealismus ist dem Denken über Bilder in der abendländischen Kultur die Vorstellung von etwas Defizitärem eingeschrieben. Bilder ersetzen demnach lediglich etwas nicht Anwesendes. Seit der Antike steht das Kultbild stellvertretend für die nicht fassbare Gottheit und wird an deren Stelle verehrt. Das Herrscherbildnis vergegenwärtigt die Macht des physisch nicht anwesenden Regenten. Den Platz von Göttern können längst auch populäre Idole einnehmen, und Herrschaft kann durch jede Ballung von Macht, Besitz und Einfluss ausgeübt werden. Bis heute dienen die meisten der in Gebrauch stehenden darstellenden Artefakte zu repräsentierenden Zwecken. Bilder sind Vergegenwärtigungs-Apparate.
Kulturelle Revolution
Dabei ist es allerdings nicht geblieben in der westlichen Bildkultur. Mitte des zweiten Jahrtausends kommt eine neue Dimension ins Spiel, indem Bildwerke auch um ihrer selbst willen geschaffen werden. In der Renaissance gewinnt beim Bildermachen die allmähliche Verwandlung von Handwerkern in Künstler an Boden. Was sie mit ihren Stiften, Pinseln und Meisseln hervorbringen, drückt nun immer deutlicher und radikaler ein schöpferisches Streben aus. Geniale Kreativität verleiht den Werken eine unverwechselbare Handschrift und hebt sie in eine neue Sphäre: Malerei und Bildhauerei werden zur Kunst. Ihre Erzeugnisse sind nicht mehr Schatten von etwas Abwesendem. Sie haben ihren Sinn in sich und stehen für sich selbst. Die Artefakte emanzipieren sich von ihren dienenden Funktionen – eine kulturelle Revolution ohnegleichen.
Nach wie vor aber haben Bildwerke auch repräsentierende Funktionen. In der Vergegenwärtigung von Macht und Status, von sinnstiftenden Mythen und legitimierender Historie sehen adlige, kirchliche und irgendwann auch bürgerliche Auftraggeber deren Sinn. Gleichzeitig aber werden die selbst gesetzten Zwecke der Kunst immer wichtiger. An erster Stelle dieser autonomen Regeln steht seit der Renaissance das Bemühen um naturgemässe Darstellung. Bilder sollen Menschen, Dinge und Geschehnisse wahrheitsgemäss erfassen. Die äussere und die innere Natur, das Wesen, den wahren Sinn des bildlich Dargestellten gilt es zu vermitteln. Das Kunstwerk steht im Dialog mit seinen Themen, Gegenständen und Personen und wird dadurch gewissermassen zu einem beseelten Wesen.
Entdeckung des Schattens
Es ist kein Zufall, dass diese kunsthistorische Umwälzung einher geht mit einer völlig neuen malerischen Behandlung, ja einer eigentlichen Entdeckung des Schattens. Antike und mittelalterliche Kunst kann sich zwar im platonischen Sinn als «Schatten des nicht Anwesenden» verstehen. Sie bildet aber die in der Natur vorkommenden Schatten nicht ab. Wozu auch? Es geht ja nicht um eine integrale Wiedergabe des Sichtbaren, sondern allein um die Repräsentation von Personen samt ihren Insignien und den ikonographisch bedeutsamen Gegenständen. Schattenlos stehen sie in einem Bildraum, der lediglich Hintergrund oder Träger der repräsentierenden Elemente ist. Die Bilder sind nach Konventionen aufgebaut und ausgeführt, man kann sie lesen wie eine Schrift.
Auch wenn diese visuelle Syntax mit der Renaissance nicht einfach verschwindet, so wird das Bild nun doch zur Manifestation eines künstlerischen Willens, der die ikonographischen Elemente in ein der Natur nachgebildetes Ganzes einfügt. Zu diesem integrativen Bildverständnis gehört jetzt erstmals die Beachtung von Lichteffekten, Schattenverläufen, Schattenwürfen. Körper und Gegenstände interagieren in einem Bildraum, der als Schauplatz ausformuliert, perspektivisch gestaltet und physikalisch plausibel beleuchtet ist, sei es durch die Darstellung von natürlichem oder künstlichem Licht.
Von der Theatralik zum existentiellen Ringen
Caravaggio (eigentlich: Michelangelo Merisi, 1571–1610) ist der frühbarocke Virtuose des dynamischen Geschehens im Raum und der extremen Lichteffekte. In seinem Schule machenden Chiaroscuro-Stil sind die Schatten von dramatischer Schwärze, um die hell erleuchteten Stellen umso schärfer herauszuheben – oder umgekehrt: Das Licht ist so grell, damit die Schatten möglichst tief und unheimlich wirken. Vom Barock bis zur Romantik haben sowohl Grosse der Kunst wie auch ungezählte Kleinmeister das Spiel mit dem Düsteren und Dramatischen für theatralische Malereien, Bühnendekorationen und vieles mehr weidlich benutzt.
Eine ganz neue Valenz erhält die Methode der Abschattung in der Porträtmalerei. Seit der Renaissance stehen die Figuren oft vor schwarzem Hintergrund und sind, modelliert von Hell und Dunkel, in präsenter Körperlichkeit ins Bild gesetzt. Im 17. Jahrhundert dann führt Rembrandt das Künstler-Selbstporträt zu neuen Höhepunkten der Ausdruckskraft. Er, der gegen hundert Selbstbildnisse geschaffen hat, verleiht dem Element des Schattens neben den ästhetischen Funktionen der Bildkomposition, der räumlichen Modellierung und der Blickführung des Betrachters noch eine zusätzliche psychologische Dimension. Rembrandt hat sein eigenes Gesicht immer wieder ins Dunkel getaucht und mit dieser paradoxen Inszenierung eine neue Qualität der Präsenz geschaffen.
Die kleine Radierung aus dem MAH Genf ist ein besonders schönes Stück dieses Typs und das Highlight unter den 140 Werken der Ausstellung. Indem die Mimik und vor allem der Blick des Porträtierten im Schatten versinken, ist gerade die wichtigste Partie halb verborgen. Der dieses Gesicht so zu sehen bekommt, ist nun aber nicht zuerst der Betrachter, sondern der Künstler selbst vor dem Spiegel. Mit seinem Blick aus dem und in den Schatten unterzieht er sich einer eindringlichen Selbsterforschung. Erst im Nachhinein beteiligt er den Betrachter des Werks an dieser intimen Begegnung. Wer vor diesem Selbstbildnis steht, wird als Zeuge solch intensiver Befragung nicht unberührt bleiben und sich selber gegenüber vielleicht eine ähnliche Haltung der distanziert-eindringlichen Reflexion einnehmen. Rembrandts Selbstporträts sind gleichermassen Zeugnisse einer unerhörten künstlerischen Kühnheit und eines existentiellen Ringens um Wahrhaftigkeit.
Vom Objekt zur Wahrnehmung
Die Behandlung der Schatten wird in der Malerei 250 Jahre nach Rembrandt erneut zum Indikator eines Umbruchs. Die impressionistische Licht-Malerei bleibt der naturgemässen Darstellung ihrer Sujets verpflichtet, verlegt aber den Fokus weg von den Objekten im Raum zu deren visueller Wahrnehmung durch das Auge. Erheblichen Einfluss haben bei diesem Paradigmenwechsel die Kenntnisse der physikalischen Optik über die Farben des Lichts. Indem die Impressionisten die Flächen auflösen in Partikel oder Pinselstriche, deren Farben sich im Auge des Betrachters erst mischen, machen sie den Sehvorgang in seiner optischen Struktur zum eigentlichen Bildthema.
Eine neue Qualität des Kolorits erreicht der Impressionismus besonders in den abgeschatteten Zonen der Bilder. Wurden Schatten zuvor als Abdunkelung der Eigenfarbe der jeweiligen Objekte wiedergegeben, so wird der impressionistische Blick aufmerksam auf farbliche Interferenzen im Gesichtsfeld. Diese können bei Schatten Komponenten von Objektfarben oder deren komplementäre Valeurs sichtbar machen. Es war die Entdeckung der Impressionisten, dass Schatten nicht nur grauschwarz, sondern lila oder grün sein können, dass sie nicht zwingend dunkel sind, sondern mitunter leuchten.
Claude Monet hat mit solchen Effekten experimentiert und ausgedehnte Versuchsreihen mit immer wieder gleichen Sujets durchgeführt. Er ist der Pionier der Farbwahrnehmung. Zwischen 1870 und 1901 hat er sich mehrfach in London aufgehalten und immer wieder Bildserien von bestimmten Stadtlandschaften angefertigt, so auch von Westminster und der Themse. Von dem Sujet existieren 19 Gemälde, die das Parlamentsgebäude bei unterschiedlichen atmosphärischen Bedingungen wiedergeben.
Die Fondation de l’Hermitage zeigt mit zwei Bildern des Spaniers Joaquín Sorolla einen hierzulande wenig bekannten Exponenten einer impressionistisch beeinflussten Malweise. Mit «Der Schatten der Barke» (1903) hat er, wie der Bildtitel schon sagt, den Schlagschatten eines hinter dem Maler auf dem Strand liegenden Segelboots zum dominierenden Bildgegenstand gemacht. Der von Rumpf, Mast und Segel beschattete Sand spielt farblich in hellem Blau und dunklem Lila (Bild ganz oben). Mit gutem Grund hat das Haus dieses Gemälde zum Schlüsselbild der Ausstellung «Ombres» erkoren. Es setzt das Thema der Schau überzeugend in Szene und kann überdies dazu beitragen, einem zu wenig bekannten Künstler die verdiente Aufmerksamkeit zu geben.
Die impressionistische Befreiung der Schatten von einer bloss graduellen Abdunkelung der Objektfarben ist in den auf diese Stilrichtung folgenden Strömungen des Fauvismus und Expressionismus nicht nur beibehalten, sondern gar noch gesteigert worden. Bald nach dem Übergang zum 20. Jahrhundert richtete sich die Farbgebung viel stärker nach Ausdruckswerten als nach optischen Gesetzmässigkeiten.
Roter Faden durch die Kunstgeschichte
Das Element des Schattens hat die westliche Kulturgeschichte des figurativen Bildes begleitet und ihre Wendungen akzentuiert. Man wird Plinius dem Älteren glauben dürfen, dass es die Beobachtung des Schattenwurfs war, die das bildliche Gestalten vor Urzeiten initiiert hat. Schlagschatten sind ja die stets greifbare Abbildung dreidimensionaler Dinge in zweidimensionaler Form. Damit aber bekam das Bild den Rang des Ab-Bilds, der Re-Präsentation und somit einen unselbständigen Status.
Daraus befreit wurde es erst mit der Erfindung der Kunst. Sie verlieh dem Bild als genialer Schöpfung eine eigene Wesenheit. Der Kunststatus lag begründet in äusserer und innerer Naturgemässheit – was wiederum voraussetzte, Bilder integral und nicht als Zusammenfügungen von Bedeutungssignalen aufzufassen. Hierzu gehörten nun erstmals die Schatten als Bildelemente. Mit der neuen Farbauffassung des Impressionismus schliesslich kam es zu einer koloristischen Befreiung der Schatten, die in den späteren Strömungen der Klassischen Moderne noch gesteigert wurde. Am Ende, wie wir es kennen, gilt in der figurativen Malerei die prinzipielle Gleichrangigkeit aller Bildelemente.
So theoretisch-lehrhaft wie hier in der komprimierten Übersicht präsentiert sich die Schau in der Hermitage zum Glück nicht. Sie zeigt durchaus einen roten Faden, bietet aber wesentlich mehr Aspekte des Themas, ist nicht auf’s Belegen vorgefasster Thesen aus und ermöglicht so jeder Besucherin und jedem Besucher eigene Funde und Entdeckungen.
Fondation de l’Hermitage, Lausanne: Ombres – de la Renaissance à nos jours, bis 27. Oktober
Verantwortlich: Sylvie Wuhrmann, Direktorin der Fondation de l’Hermitage; Aurélie Couvreur, Konservatorin der Fondation de l’Hermitage; Victor I. Stoichita, ordentlicher Professor für Kunstgeschichte der Moderne an der Universität Fribourg
Katalog erschienen bei La Bibliothèque des Arts