Die neueste, per Extrablatt an alle Haushalte der Schweiz verschickte Verfassungsinitiative der SVP gibt vor, unsere Bundesverfassung hochhalten und die Selbstbestimmung der Schweiz verteidigen zu wollen. Sie bewirkt das Gegenteil von dem, was sie angeblich möchte - und schadet der Vertrauenswürdigkeit unseres Landes.
Eine Selbstverständlichkeit
Die Bundesverfassung (BV) ist selbstverständlich unsere höchste Rechtsquelle - wie in jedem demokratischen Rechtsstaat. Volk und Stände als oberster Souverän haben diese erlassen und entscheiden über Änderungen daran. Die neue Bestimmung, die die Initiative in Art. 5 Abs. 1 einfügen möchte, „Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft“, ist daher unnötig.
Die Initianten geben das Gegenteil allein vor, um sich als die präsentieren zu können, die unsere Bundesverfassung im Gegensatz zu allen anderen Schweizerinnen und Schweizer hoch halten. Diese zerstören unsere Demokratie und wollen in die EU, ist ihr Refrain.
BV auch Quelle der Geltung des Völkerrechts
Auch der angebliche Mangel an Selbstbestimmung der Schweiz wird allein vorgetäuscht, um sich für diese einsetzen zu können. Als Feind unserer Selbstbestimmung wird das Völkerrecht und werden „fremde Richter“ in Verkennung der geltenden Rechtslage gemäss unserer Bundesverfassung hingestellt: Die Schweiz bestimmt im einzelnen selbst, welches Völkerrecht für sie gilt und welches nicht. Das Völkerrecht ist vorab Vertragsrecht. Es gilt für die Schweiz somit nur, wenn sie einen entsprechenden bi- oder multilateralen Staatsvertrag unterzeichnet und nach den Regeln unserer BV ratifiziert hat, d.h. wenn die Bundesversammlung und nötigenfalls das Volk diesen als unser (!) Recht angenommen haben, so dass wir das selber bestimmen.
Es ist auch unsere durch Volk und Stände erlassene Bundesverfassung und nicht irgendeine ausländische Macht, die Bund und Kantone verpflichten, das Völkerrecht zu respektieren. Die Bundesverfassung ist daher auch die Quelle für die Geltung des Völkerrechts in der Schweiz und so auch insoweit unsere höchste Rechtsquelle. Wäre das im Übrigen nicht so, könnten die Initianten gar nicht mit ihrer Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung versuchen, das ändern, und das Völkerrecht als nicht mehr verpflichtend erklären zu wollen.
Verträge wären nicht mehr zu halten
Die Initianten lassen die geltende Vorschrift (Art. 5 Abs. 4 BV) „Bund und Kantone beachten das Völkerrecht“ unverändert stehen. Neben diese möchten sie jedoch folgende Bestimmung stellen: „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“. Damit verpflichtete sich die Schweiz zwar nach wie vor, Völkerrecht zu befolgen, erklärte aber gleichzeitig, es aufgrund von Bestimmungen in unserer Bundesverfassung auch jederzeit missachten wollen zu können. Beachtet man, dass Völkerrecht vornehmlich Vertragsrecht ist, bedeutete das, dass die Schweiz völkerrechtliche Verträge abschlösse und sich damit auch verpflichtete, diese zu halten. Im gleichen Atemzug wollte sie aber solche Verträge ausdrücklich auch nicht halten können.
Dass das in einer zivilisierten Welt höchst verwerflich und auch zwischen friedlich zusammen lebenden Staaten und ihren Bevölkerungen gänzlich unhaltbar ist, muss jeder Schweizerin und jedem Schweizer klar sein. Unsere vielfältigen Staatsverträge sind gerade für uns als wenig mächtiger Staat in einer globalisierten Welt und Wirtschaft unerlässlich, weshalb wir im ureigensten Interesse weiterhin als Vertragspartner vertrauenswürdig bleiben müssen. Unser eigenes Landesrecht kann dem Völkerrecht - als Vertragsrecht und auch seinem übrigen Charakter als für alle Staaten in gleicher Weise geltendes Recht gemäss – grundsätzlich nicht vorgehen; das würde bedeuten, dass ein Vertragspartner letztlich seine eigenen, nicht aber die im Vertrag übernommenen Regeln sollte gelten lassen können, was dem Sinn eines Vertrages und dem Rechtscharakter des Völkerrechts diametral widerspräche.
Kein Grund- und Menschenrechtsschutz durch unsere nationalen Richter
Schliesslich sollen gemäss der Initiative nur noch „völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstand, für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend“ sein. Damit wäre insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), bei der das heutige Staatsvertragsreferendum noch nicht galt, durch unsere Richter nicht mehr gegenüber Bundesgesetzen anwendbar. Da neben dem Völkerrecht im entsprechenden Art. 190 BV nur die Bundesgesetze, nicht aber die Bundesverfassung als massgebend erklärt werden, führte dies zum völligen Fehlen eines richterlichen Rechtsschutzes gegen Eingriffe in die Grund- und Menschenrecht jedes Einzelnen durch Bundesgesetze in der Schweiz.
Dass die als höchste Rechtsquelle sonst hochgepriesene Bundesverfassung in der Rechtsanwendung nach geltendem Recht nicht anwendbar, sondern die Bundesgesetze dieser vorgehen, stört die Initianten in widersprüchlicher Weise nicht. Das führt bekanntlich dazu, dass das Bundesgericht auch verfassungswidrige Bundesgesetze anwenden muss und Rechtsuchenden allenfalls in ganz stossender Weise erklären muss, sie hätten durchaus Recht, könnten aber nicht Recht erhalten. Diese empfindlichste Rechtsschutzlücke in unserem Rechtsstaat füllt die EMRK weitgehend aus, weil sie die meisten Grundrechte unserer Verfassung ebenfalls garantiert und weil sie den Bundesgesetzen gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts vorgeht, ja wegen des dargelegten Charakters des Völkerrechts vorgehen muss, was auch die Bundesversammlung so befolgt und jüngst bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative implizit bekräftigte.
Würde die EMRK nun nach dem Willen der Initianten aber als durch unsere Gerichte nicht mehr anwendbar erklärt, könnten diese und in letzter nationaler Instanz das Bundesgericht nicht mehr jede Person vor unzulässigen Eingriffen durch Bundesgesetze in ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten schützen. Wenn die Initianten erklären, die Menschenrechte, und auch die EMRK, würden nach wie vor gelten, so entspricht dies deshalb jedenfalls so nicht der Wahrheit. Denn dazu gehört wesentlich, das diese auch gerichtlich geschützt sein müssen, was gemäss der Initiative in der Schweiz gegenüber Bundesgesetzen nicht mehr der Fall wäre. Die EMRK würde zwar nach wie vor gelten, dürfte durch unsere Gerichte aber nicht angewendet werden!
Keine eigenen, aber „fremde“ Richter und keine Garantie der Selbstbestimmung
Gemäss der Volksinitiative, die den Titel „Schweizer Recht statt fremde Richter“ trägt, könnte - solange die EMRK nicht gekündigt wird, und das verlangt die Initiative nicht und wollen die Initianten jetzt ausdrücklich doch nicht, - damit pikanterweise ausgerechnet allein noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) jede und jeden von uns in unseren Grund- und Menschenrechte schützen. Die EMRK gibt, gerade wenn die Schweizer Gerichte den Grund- und Menschenrechtschutz gegenüber Bundesgesetzen nicht mehr gewähren könnten, den Personen aus dem Vertragsstaat Schweiz das Recht, sich mit einer Beschwerde an den EGMR in Strassburg zu wenden. Weil dieses Recht mit der Initiative gemäss ihrem entscheidenden Wortlaut nicht aufgehoben wird, schaltete diese die Schweizer Richter aus und beliesse ganz entgegen ihrer Bezeichnung die „fremden Richter“.
Zu guter Letzt ist festzuhalten, dass es das Völkerrecht ist, dass den Staaten und gerade der neutralen Schweiz ihre Souveränität und Unabhängigkeit nach aussen – ohne die, die gegen innen keinen wahren Sinn hat, - garantieren, weshalb die Selbstbestimmungsinitiative mit ihrer Verabschiedung vom Völkerrecht auch insoweit das Gegenteil von dem erreichen würde, was sie vorgibt, schützen zu wollen.
Dass deren Initianten den 200. Jahrestag des völkerrechtlichen Schutzes der Neutralität durch den Wiener Kongress grossartig feiern – was ja recht ist -, gleichzeitig aber das Völkerrecht verteufeln können, ohne das der Widerspruch tatsächlich bemerkt würde, sagt über den wirklichen Zustand der Fundamente unserer direkten Demokratie viel mehr aus als die vielen Bücher und Beiträge dazu in jüngster Zeit.