Wer glaubt denn ernsthaft, das könne es geben, heutzutage, einen einzigen Text, in dem sich die Einwohner eines Landes repräsentiert fühlen, ein einziges Lied, das identitätsstiftend wirken würde? Nationale Preis- und Lobgesänge mit ihren einfachen Melodien und ihren meist unsäglichen Texten – schwülstig, pathetisch auf jeden Fall, des öfteren auch noch bedrohlich, martialisch – haben ja gewiss nichts Völkerverbindendes an sich, ganz im Gegenteil: sie sind geeignet, dumpfe nationalistische Empfindungen zu stärken.
Um ihre abschreckende, auch lächerliche Wirkung zu studieren, gab es 2014 einen ganzen Sommermonat lang, bemerkenswertes Anschauungsmaterial. Man brauchte sich nur in die Fussball-WM einzuschalten und dem täglichen Ritual vor den Spielen in den brasilianischen Stadien zuzuschauen, den 22 Gesichtern, den 22 Mündern, die teils enthusiastisch, teils, verklemmt, teils trotzig zusammengekniffen, immer (und zum Glück) ganz unverständlich etwas in den Raum schmetterten, murmelten, flüsterten, auf das sie stolz sein wollten oder sollten, während es in den einsatzbereiten Beinen und Füssen nur so zuckte.
Vielleicht sollte man die von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (sie verwaltet das Rütli und organisiert die dort stattfindender Bundesfeier) jetzt angeregte Diskussion um eine neue Nationalhymne doch nutzen, vielleicht sollte man sie um den ketzerischen Gedanken erweitern, wie es denn wäre, wenn man die unzeitgemässe Nationalhymne abschaffen und durch ein paar schöne, unprätentiöse Volkslieder in allen Landessprachen ersetzen würde?