Schon der Titel der Ausstellung „Gefeiert und verspottet – Französische Malerei 1820–1880“ ist eine Aufforderung zur Stellungnahme. Gelangt man nach Umgehung der Baustelle (die Kunsthaus-Erweiterung ist am Entstehen) in den Bührle-Saal, so merkt man bald, dass hier ein grosser Test veranstaltet wird.
Ein selten hinterfragtes generelles Urteil soll in einem ergebnisoffenen Verfahren überprüft werden. So erhebt denn die Ausstellung die Frage, ob eigentlich das Verdikt plausibel sei, das kunstgeschichtliche Expertise und globaler Kunstmarkt heute über die damals als massgeblich betrachtete „akademische“ Malerei verhängen. Fällt der einstige Mainstream im Direktvergleich mit den heute hoch gepriesenen Rebellen jener Zeit – späte Romantiker, Naturalisten, Realisten, Impressionisten, Plein-air-Maler – tatsächlich ab? Ist ein Meissonier weniger gut als ein Manet, ein Gérôme unwichtiger als ein Courbet? Und ist ein Fantin-Latour uninteressant, weil er konventionell gemalt hat?
Massstäbe des Pariser Salons
Für die Bewertung der französischen Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts gab es eine autoritative Instanz. Im Rahmen des Pariser Salons, einer jährlich stattfindenden staatlichen Kunstmesse, wurden die Künstler quasi zertifiziert und die Massstäbe der Kritik geeicht. Wer hier nur schon zugelassen oder gar ausgezeichnet wurde, stand in der Hierarchie des Kunstbetriebs oben.
Der Salon folgte in seiner Wertung einem strengen akademischen Code. Bildgegenstände, Malweise, Stil und Darstellungskonventionen waren faktisch normiert. Als „schön“ und als „gute Kunst“ galten Gemälde, Grafiken und Skulpturen mit heroischen, mythischen, gravitätischen, bedeutungsvollen, edlen oder heiteren Sujets. Die Ausführung hatte in traditioneller Art kunstgerecht, handwerklich perfekt und – auch bei phantastischen Szenen – in der Wirkung „naturgetreu“ zu sein.
Die Stars, die im Pariser Salon reüssierten, bewegten sich durchwegs im Rahmen dessen, was die Kunstakademien dozierten. Der so als „gültig“ deklarierte Stil entsprach auch durchaus dem gängigen Geschmack. Doch früh im 19. Jahrhundert begannen einzelne Künstler nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Sie entwickelten individuell geprägte Ideen von Kunst, bewegten sich weg vom festgelegten Kanon der Sujets, malten im Freien, experimentierten mit ungewohnten Kompositionen und machten zunehmend das künstlerische Gestalten als solches zum eigentlichen Thema ihrer Bilder. Die meisten dieser Neuerer wurden vom Pariser Salon abgelehnt, manchmal gar als Nichtskönner verhöhnt.
Es ist die bekannte Geschichte: Das Genie wird verkannt, das Revolutionäre verworfen, die neue Kunst geächtet. Nur wenige erkennen den Epochenbruch, und Generationen später erst bekommen sie Recht. Nun gelten die Rebellen von damals als Wegbereiter einer Moderne, ihre Werke werden als Gipfel der Kultur verehrt.
Um das Glatteis einen Bogen machen
Wer mit dieser Geschichte im Kopf den Bührle-Saal des Zürcher Kunsthauses betritt, wird möglicherweise genau das sehen, was er oder sie erwartet: belanglose Artistik bei den – wie es dann heisst – „völlig zu Recht vergessenen“ akademischen Malern hier, kühne Aufbrüche starker Künstlerpersönlichkeiten bei den einst verpönten Neuerern dort.
Die Auswahl der rund hundert gezeigten Werke ist jedoch nicht darauf angelegt, stereotype Vorstellungen zu bedienen. Mit offenen Augen und ausreichend Zeit, um auch die instruktiven Saaltexte und Bildlegenden zu lesen, kann man um das Glatteis der simplen Zuordnungen einen Bogen machen. So durch die Ausstellung wandernd, hin und her Vergleiche anstellend und Nuancen entdeckend wird man das schematische „akademische Kunst versus Wegbereiter der Moderne“ bald hinter sich lassen.
Auf der einen Seite haben die gegen die starren Salon-Konventionen aufbegehrenden Künstler oft nur einzelne der akademischen Regeln geritzt, andere aber beibehalten – Corot ist ein Beispiel dafür (Bild ganz oben). Manche der Rebellen fanden mit ihren neuen Kunstauffassungen und Bildsprachen nach und nach auch Anerkennung bei Kritik und Publikum. Die Vorstellung vom abrupten Bruch mit dem Mainstream geht in den meisten Fällen an den tatsächlichen kunsthistorischen Entwicklungen vorbei. Auf der anderen Seite hat die akademische Kunst durchaus auch packende, spannungsvolle Werke hervorgebracht. Vieles, was da so pauschal etikettiert und vergessen wurde, ist die Wiederentdeckung unbedingt wert.
Sehen ohne Schubladen
Schematische Zuweisungen können kulturellen Vorgängen nie gerecht werden. Die gängigen historischen und stilistischen Einteilungen sind stets behelfsmässige Konstruktionen. Sie sollen die Verständigung und Orientierung erleichtern. Das komplexe Wirken der vielfältigen Einflüsse in der und auf die Kunst jedoch lässt sich mit Sammelkategorien wie „akademisch“ und „modern“ nicht abbilden. So wie die Kunst der Renaissance nicht mit einem Knall aus dem Mittelalter hervorgebrochen ist, hat es auch keinen klaren Schnitt gegeben zwischen Salon-Künstlern und Neuerern im 19. Jahrhundert. Kunst in Schubladen zu ordnen, dient ihrem Verständnis nicht.
Dies theoretisch zu wissen, ist eines; es an ausgestellten Werken selber zu sehen, etwas ganz anderes. Der Test, den die Ausstellung im Kunsthaus anstellt, ist einer mit der Wahrnehmung der Besucherinnen und Besucher. Wer nur herausfindet, dass Manet besser ist als Meissonier und dass Fantin-Latour uninteressant, weil konventionell ist, hat ihn nicht bestanden.
Kunsthaus Zürich: Gefeiert und verspottet – Französische Malerei 1820–1880, noch bis 28. Januar 2018