Nun hat also ein „Europäischer Rat“, die Gipfelkonferenz der 27 EU-Regierungschefs, für das neue Rahmenbudget der nächsten sieben Jahre einstimmig einen Kompromiss gefunden. „Rahmenbudget“, was heisst das?
Vor sieben Jahren bemerkten die EU-Mitgliedstaaten, dass ihr jährliches Seilziehen um Einjahresbudgets die EU-Finanzen über einige Jahre gesehen einem Zickzackkurs unterwarf, und sie suchten eine über längere Sicht konstante Budgetpolitik. Daraus ist 2007 ihre Technik des „EU-Rahmenbudgets“ entstanden, verwandt mit der helvetischen Schuldenbremse: Alle sieben Jahre legen sie den EU-Ausgaben ein Korsett für die nächsten sieben Jahre an, welches die jährlichen Budgets nicht überschreiten darf. Auf den Vorschlag für 2014 bis 2020 haben sich jetzt die 27 EU-Länder in einer 24stündigen Marathonsitzung geeinigt. Ein Beschluss ist es aber noch nicht, denn ihm muss noch das EU-Parlament zustimmen, wo die ersten Kommentare seines Präsidenten und der vier grössten Fraktionen ein grosses Fragezeichen setzen.
Einigung! Unmöglich, aber wahr!
Die journalistischen Berichte und Kommentare über diesen Marathon waren säuerlich mit dem Leitmotiv: Das war ein Feilschen der 27 Mitgliedstaaten um nationale Vorteile ohne Vision für eine gemeinsame EU-Zukunft. Verdient der Marathon dieses Urteil? Betrachten wir ein paar Fakten.
Erstens: Vor dem Marathon hatten die Zeitungen vermutet, eine Einigung sei unmöglich: Die Kluft zwischen Premier Cameron, der eine drastische Kürzung des Budgets, und Frankreichs Präsident Hollande, der mehr Ausgaben zur Konjunkturstimulierung verlangte, sei unüberbrückbar. Faktum: Sie einigten sich. Die EU ist noch handlungsfähig.
24 Stund, aber nei!
Zweitens: Dass es zur Einigung zwei Gipfeltreffen brauchte und das zweite davon 24 Stunden dauerte, beschrieben die Medien so, als ob das aussergewöhnlich und ein weiteres Krisenzeichen sei. Faktum: Auch das Rahmenbudget 2007-2013 war nicht in der ersten Sitzung und nicht an einem Tag zustandegekommen. Wo der EU-Vertrag, wie heute nur noch in Budget-, Steuer- und Kulturfragen, Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten vorschreibt, ist eine Marathonverhandlung der einzige Weg, um zu Beschlüssen zu kommen, die von der Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedstaats abhängig sind. Mit diesem Veto blockiert jeder den Abschluss, bis er darin auch seine nationalen Belange wiederfindet. Dafür sind zwei Treffen und 24 Stunden wohl kein Luxus. 2013 unterscheidet sich hierin nicht von der EG-Praxis seit sechzig Jahren, als der Zwang zur Einstimmigkeit noch die Regel und nicht die Ausnahme war.
Demokratiedefizit? Im Prinzip nein, aber...
Drittens: Eine Mehrheit des EU-Parlaments kann diesen Kompromiss ablehnen. Pauschal könnte also von einem „Demokratiedefizit“ nicht gesprochen werden.
Teildefizite gibt es aber. Der EU-Vertrag verleiht dem EU-Parlament je nach Themenkategorie ein manchmal mit dem Ministerrat gleichberechtigtes, manchmal aber auch schwächeres demokratisches Mitwirkungsrecht. Für viele Themen gilt die „Mitentscheidung“, bei der die nach öffentlicher Debatte in Abstimmung eruierte Mehrheitsmeinung des Parlaments gleichberechtigt neben die des Ministerrates tritt und im Fall von Meinungsverschiedenheit eine Verhandlung mit diesem beginnt, die aufs Haar der schweizerischen Differenzbereinigung zwischen National- und Ständerat gleicht.
In Budgetfragen gilt aber nur das „Zustimmung“ genannte Mitwirkungsrecht: Das Parlament kann zum Ministerratsentscheid nur pauschal Ja oder Nein sagen, aber keine Änderungsvorschläge oder ein eigenes Budget vorbringen. Hier liegt Potential für die Verringerung der EU-Demokratiedefizite.
Nun aber: Da der Ministerrat ohne das Parlament keinen Budgetbeschluss durchsetzen kann, muss er ja doch mit den Abgeordneten verhandeln. Das Parlament scheint also mit der Drohung seines Vetos einen starken Druck auf Zugeständnisse der Mitgliedsländer ausüben zu können. Aber das hat wieder einen Haken: Der Zwang zur Einstimmigkeit, wie er in Budgetfragen vorgeschrieben ist, macht den Ministerrat zu einem nur noch schwer umzustimmenden Schwergewicht. Mit der Ablehnung eines in wochenlangem Feilschen aufs kleinste austarierten Kompromisses zwänge das Parlament die 27 Länder, diesen über den Haufen zu werfen und wochenlang über einem neuen Kompromiss zu brüten. Es bekäme das Image eines Querulanten.
Dennoch entschlossen
Das EU-Parlament scheint diesmal dennoch entschlossen, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Die Kritik des Parlamentspräsidenten und der wichtigsten Fraktionen am Kompromiss war so kategorisch, dass sie ihm nicht mehr zustimmen können, ohne das Gesicht zu verlieren. Solche Dilemmas löst die EU wie anderswo mit Verhandlungen hinter den Kulissen, in denen die 27 Regierungen ein paar Konzessionen machen, welche die Parlamentarier dann als Erfolg verkaufen können. In dieser Richtung hat der Präsident des Europäischen Rates Van Rompuy dem Parlament schon „Flexibilität“ zugesichert: Es könne für diese sieben Jahre einzelne Posten und Budgetjahre hin- und herschieben. Der verhandlungserprobte Belgier spürt also doch ein gewisses Gewicht des Parlaments und will ihm goldene Brücken bauen, wohl sogar nach diskreter Konsultation der Regierungschefs.
Ambivalente Kompromisse
Viertens: Nicht umsonst ist das EU-Parlament mit dem Kompromiss inhaltlich unzufrieden. Die Abgeordneten sind traditionell proeuropäischer als die Regierungen, unter anderem deswegen, weil die EU-Mäkler unter den Wählern gar nicht zur Urne gehen in ihrem Glauben an die Demokratiedefizit-Mär „meine EU-Abgeordneten haben in Brüssel sowieso nichts zu sagen“. Resultat: eine seit vielen Jahren proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament. Sie plädiert aus Prinzip für höhere EU-Ausgaben.
Dem entgegen haben die Regierungschefs den Siebenjahresrahmen gekürzt. Nur leicht zwar, aber es ist ein Schock: Das hat es in sechzig Jahren noch nie gegeben: die Kürzung eines EU-Budgets gegenüber dem Vorjahr! Am Gipfel sass einer, dem die ganze EU nicht mehr passt, Premier David Cameron. Neben ihm waren auch Proeuropäer seinem Sachargument zugänglich, dass auch die EU den Gürtel enger schnallen müsse, wenn sie das schon von ihren Mitgliedstaaten verlange. Präsident Hollande wusste, dass man ihm vor aller Öffentlichkeit den schwarzen Peter zuschieben würde, wenn er auf der Erhöhung des Budgets bestanden hätte, und gab beim globalen Budgetrahmen nach.
Das konnte er, weil ihm die Kollegen mit einigen Budgettricks punktuelle Vorteile für Frankreich zuschoben. Cameron hatte ganz Europa eingehämmert, das EU-Budget dürfe nicht erhöht werden, wenn die Staaten sparen müssten, und kann nun in London triumphierend verkünden, er habe sich in Brüssel durchgesetzt. Aber die Kürzung ist lange nicht so drakonisch, wie er forderte. Umgekehrt wurde jenen Chefs, die lautstark für Ausgabenwachstum zwecks Konjunkturstimulierung plädiert hatten, mit ambivalenten Kompromissen ermöglicht, das Gesicht zu wahren: Innerhalb des gekürzten Gesamtbudgetrahmens wurden einzelne Posten aufgepumpt, die der heimkehrende Regierungschef als nationalen Erfolg verkaufen kann. Hollande kann auf die von ihm geforderte Subventionierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit verweisen, der belgische Regierungschef di Rupo auf 130 Millionen Euro für zwei schwer vom industriellen Exodus getroffene Regionen, die Briten, Dänen, Schweden, Deutschen und Österreicher auf den Rabatt ihrer Einzahlungen in die EU-Kasse...
Scheinheilige Tricks
Wie scheinheilig diese Tricks sind, zeigt ein Beispiel aus Belgien. Di Rupo schanzte auch einige Millionen für spezielle Agrarausgaben heraus und rühmte sich damit vor seiner Presse. Aber noch gleichentags protestierte heftig der flämische Bauernverband. Er hatte in seine Rechnung auch das von di Rupo unerwähnt gelassene Rahmenbudget einbezogen und fand: Dieses kürzt die bisherigen Agrarausgaben der EU, fast die ganze Einnahmenquelle ihrer Landwirte, nicht nur global, sondern auch degressiv, sie sollen bis 2020 Jahr für Jahr zurückgehen. Das, sagen die wütenden Flamen, bringt uns einen Verlust von 850 Millionen Euro, und damit könnten wir nicht überleben. Europa auferlegt uns immer mehr Pflichten für den Umweltschutz, will aber nicht dafür bezahlen.
Angst vor Reformen
Versuch eines Fazits: Die bissigen Kommentare über diesen Gipfel haben einiges für sich. Schlimm ist nicht das Feilschen, wo es ums Geld geht, wird in Demokratien überall gefeilscht. Aber der Kompromiss übertüncht eine tiefe Spaltung in der EU über die Strategie, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen. Sparen oder die Wirtschaft stimulieren und dafür weitere Defizite anhäufen? Cameron bestreitet sogar die Nützlichkeit der EU überhaupt für alles, was über den Binnenmarkt hinausgehe. Die Proeuropäer unter den Regierungschefs, in der Antikrisenstrategie selber gespalten, haben die Konfrontation mit ihm diesmal noch vermieden, weil sie die EU nicht ohne Budget lassen können. Aber sie wagen nicht, ihren Völkern die bittere Budgetrealität zu zeigen, die einen Reformschock auslösen könnte; sie vernebeln sie mit Image-Tricks.
Von einem Impuls für den Aufschwung Europas aus seinem Kriseln ist nichts zu spüren. Die Debatten triefen von Krämergeist. Die Divergenzen unter 27 Mitgliedsländern, die sich für wichtige Beschlüsse immer noch Einstimmigkeit aufzwingen, bremsen oder blockieren jeden bedeutenderen Fortschritt. Es bleibt abzuwarten – und zu hoffen, ob bzw. dass sich jene Länder, die seit letztem Jahr Frustration mit diesem Zustand signalisieren, zu einem stärkeren EU-Kern zusammenschliessen.