Die Krise des Euro ist die brennendste von allen, aber nicht die einzige. Sie hat die anderen Krisen ans Licht gezogen – und ist jetzt auch ihr Opfer, denn die anderen: mutlose EU-Politiker, Europamüdigkeit überall, ein Schwall von unberechtigten Anti-EU-Clichés und über allem die plötzlich sichtbaren Verschiedenheiten zwischen den nationalen Gewohnheiten der EU-Ländern hemmen ihre Lösung. Dieses Mengelmus von Krisen und Problemen kann den Frieden wieder kaputtmachen, den uns die europäische Integration geschaffen hat. Europa kann wieder in Nationalismus und in die Kriege zurückfallen, von denen wir uns erlöst wähnten.
Blind. Seit zwanzig Jahren
Eine Leserin schreibt mir, die EU sei „blind für die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede der europäischen Länder“. Richtig! Aber so apodiktisch stimmt das nicht. Vierzig Jahre lang haben die Völker die EG geschätzt, ihre nationalen Traditionen wurden nicht berührt. Bis zum unüberlegten Vorhaben 1993, über diese Länder eine gemeinsame Währung zu stülpen, hat die EG/EU mit breitester Zustimmung nur die wirtschaftlichen Grenzen zwischen den Ländern abgebaut, nicht die kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede. Sie baute einen Binnenmarkt auf, und seine Millionen Konsumenten waren schnell überzeugt, dass ein freier Markt viel vorteilhafter ist als ein Konglomerat von Ländern, die ihre Grenzen besseren Produkten verschliessen. Ohne die nichtwirtschaftlichen Unterschiede einzuebnen, haben der Handel ohne Grenzen, die Arbeitnehmer-Freizügigkeit, die Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit – die vier Freiheiten des gemeinsamen Marktes – ihren wettbewerbsfähigen Unternehmen riesige Marktvorteile und ihren Arbeitnehmern zwei Generationen lang ungeahnte Verdienstmöglichkeiten verschafft.
Der Bürger versteht nur nicht, dass dazu Harmonisierungen nötig sind: Er regt sich auf über „Gleichmacherei“ und „Einmischung aus Brüssel“ und fragt „mit welchen Lappalien beschäftigen die sich eigentlich?“ Das sind drei der vielen Clichés, welche die EU heute in einen Dampf von Missmut einhüllen und ihre Entschlusskraft lähmen. Aber ohne Harmonisierungen gäbe es keinen Binnenmarkt! Auch die läppischste Brüsseler Norm ersetzt 27 nationale Normen und erlaubt den Exporteuren, den grossen Markt mit einem einzigen Produkt zu beliefern anstatt jedes 27 verschiedenen Normen anpassen zu müssen.
Die gemeinsame Währung - ein Spaltpilz!
Bei näherem Zusehen stimmt es nicht einmal, dass der Euro die Unterschiede zwischen den Ländern eingeebnet hat. Im Gegenteil! Er verschaffte ihnen einen Raum, in dem sie sich austoben konnten! Wer dieses Paradox versteht, versteht die Euro-Krise.
2002 kamen die Euro-Münzen und -Banknoten in die Hände von 300 Millionen Euro-Bürgern. Die grosse Unzufriedenheit kam erst mit dem Ausbruch der Krise. In seinen ersten Jahren erntete der Euro nur Lob. Man musste nicht mehr mit sieben nationalen Währungen im Portemonnaie durch Europa reisen. Und der Euro erlaubte es den Völkern, ihre seit Jahrhunderten gewachsenen Traditionen und Gewohnheiten in einem grossen Raum ungehemmt auszuleben! Das überforderte ihn, das hatten seine Schöpfer nicht gesehen. Ab 2008 wurden die Verwerfungen sichtbar, welche das Verschmelzen von nationalen Unterschieden unter einem einzigen Währungsdach anrichtete.
Denn mit einer Währung, die man mit einem Dutzend anderen Ländern teilt, hatten die Rückschläge gefehlt, welche leichtsinnige nationale Währungspolitiken mit Zahlungsbilanzdefiziten und Zahlungsbilanzkrisen bestrafen. Jetzt konnten die Länder sie mit den billigen Krediten überbrücken, die ihnen das internationale Ansehen des Euro verschaffte, und im Rausch dieses Kreditbooms übersahen sie, dass ihre Wirtschaft immer schwächer wurde, immer weniger wettbewerbs- und exportfähig.
Griechenland, Zypern, Italien, Spanien, Portugal hatten sich bisher mit einer legeren Mischung aus Vetternwirtschaft, Korruption, Steuerschummeleien, Leben auf Kredit, aber auch mit einem uns Nordländern fehlenden Familien- und Clan-Zusammenhang, mit Freundes- und Nachbarschaftshilfe, mit Improvisations- und Anpassungskünsten in nationalen Gewohnheiten eingerichtet, die vom disziplinierten Betragen von Deutschen und Schweizern abstechen. Auch in Griechenland starb niemand vor Hunger. Auch so kann ein Volk leben. Mit weniger Disziplin aber mit jener fröhlichen Spontaneität, die uns in den Süden zieht, um ein paar Wochen Ferien von unserer Disziplin zu geniessen.
Der Euro enthemmt
Nach dem Verschwinden der volkswirtschaftlichen Korrekturmechanismen.konnten sich diese lockeren Gewohnheiten dank billigen Euro-Krediten austoben. Die Griechen leisteten sich Budgetdefizite bis zu 15 Prozent. Sogar die Iren liessen sich zu einer horrenden Bankenblase verführen. Die fremdenverkehrsverwöhnten Spanier bauten Hotels und Ferienhäuser, welche Bauruinen blieben, als wegen der Krise die deutschen Käufer und Touristen nicht mehr kamen, mangels Einnahmen konnten die Kredite nicht mehr zurückbezahlt werden und trieben die Banken einem nationalen Konkurs entgegen. Alles, weil der Euro dank dem Schwergewicht Deutschland diesen Staaten, ihren Bürgern und den internationalen Kreditgebern vorspiegelte, Euro-Kredite könne man auch zu billigen Zinsen leihen, es werde immer noch rentieren. Hätte eine Bank höhere Zinsen verlangt, holte der Kunde den Kredit einfach in einem anderen Euro-Land.
Alles das hätten nationale Zahlungsbilanzkrisen rechtzeitig enthüllt und die Länder viel früher zur Korrektur gezwungen: Abwertung, Verbilligung der Exportprodukte und Verteuerung der Einfuhr. Zur Austerity! Aber einer Austerity, an der man selber schuld war! Der Euro überkleisterte diese Verirrungen. So lange, bis die Zinsen für die auf dem internationalen Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite in astronomische Höhen stiegen, als den Kreditgebern dämmerte, dass ganze Staaten vor dem Bankrott standen. Und jetzt gings schnell in eine seit 1929 nie mehr gesehene Riesenkrise: Die seriöseren Euro-Mitglieder fühlten sich gezwungen, die leichtsinnigen Partner mit Milliarden und Austerityzwang über Wasser zu halten, um die Euro-Zone vor einer katastrophalen Kettenreaktion zu retten.
Doch noch auf Jahre hin haben sie keine Gewähr, dass Rettung und Gesundung gelingen. Der Euro muss manchmal von einem Tag auf den anderen mit Milliarden-Improvisationen gerettet werden. Die Euro-Zone kann noch lange platzen. Eine Angstvorstellung für die EU, für Europa und für die finanzielle Welt.
Gefährliche Maelströme im EU-Raum
Und nun bedroht dieser Euro-Schlamassel die ganze EU. Die Budgetsanierung, welche die Nordländer verlangen, führt im Süden zu Massenentlassungen, Massenarbeitslosigkeit und einer Verarmung, die ohne die Fazilitäten des Euro viel früher gestoppt worden und viel schwächer ausgefallen wäre und die heute diese Massen auf die Strassen und zum Streiken treibt. Jetzt schreiben sie aber die „Austerity“ dem Machtwort der Nord-Länder zu und vergessen, dass nur deren Milliarden sie vor dem Bankrott ihres Landes retten. Dann wäre ihre Verarmung wäre noch viel grösser.
Verhängnisvoll! Jetzt tauchen alte, längst überwunden geglaubte nationale Vorurteile wieder auf. „Die Deutschen, diese Nazis“. Angela Merkel in Karikaturen mit den Zügen Hitlers ausgestattet. Im Norden die Clichés von „diesen arbeitsscheuen Mittelmeertypen, denen wir mit unseren schwerverdienten Milliarden helfen sollen“. Spontan entstehende Parteien von Wutbürgern erzielen Wahlerfolge in Italien, Griechenland, Spanien, aber auch im Norden, in Deutschland, Holland, Österreich und sogar im Nicht-Euro-Land England, das mit dem Gedanken spielt, aus der EU auszutreten. Diese kollektiven Ressentiments können zu Maelströmen anschwellen, die die EU zerreissen. Sie gefährden die Grundstimmung, dass man in einem gemeinsamen Projekt zur friedlichen Einigung zusammengehört.
Dieses Erschlaffen der Integrationsbewegung kann die EU aus einem grossen politischen Einigungsprojekt zu einem nur noch kommerziellen Grossmarkt kastrieren oder, schlimmer, es wieder in seine separaten Staaten aufdröseln. Die vielleicht in fünfzig Jahren nationalistisch aufgehetzt wieder Krieg gegeneinander führen.
Und was tun die Politiker?
Die Euro- und EU-Politiker werkeln an einem Flickwerk für den Euro, für die Schulden-, Budget- und Banken-Krisen. Zum Teil nicht einmal schlecht, aber mit blossen Retuschen am Finanzsystem werden sie dem Mengelmus der Krisen nicht beikommen. Sie müssen sie von Grund auf anpacken. Europa besteht nicht nur aus Ländern, die wirtschaftlich vereinigt werden können, sondern auch aus tiefen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Traditions- und Gewohnheits-Unterschieden in diesen Ländern. Die Euro-Krise hat sie enthüllt. Die EU hat sich noch nie gefragt, wie sie mit diesen Unterschieden umgehen soll. Jetzt muss sie sie anpacken. Sie braucht eine Generalüberholung. Früher standen in solchen Miseren immer wieder Visionäre und Politiker auf, die sie mit neuen Ideen und Zielen weiterbrachten. Auch jetzt?