Hans Holbein der Jüngere, Star der Frankfurter Ausstellung «Renaissance im Norden», frappiert mit einer Intensität der Personendarstellung, die ihresgleichen sucht. Er ist als Maler dem auf der Spur, was andere die «Menschwerdung des Menschen» genannt haben.
Es gibt viele Gründe, weshalb Kunstmuseen wichtig sind. Einer davon ist das umwerfende Erlebnis, das sich beispielsweise beim Wandern durch die Bildersäle der Academia in Florenz einstellt – eine Erfahrung, die auch in vielen anderen kunsthistorischen Sammlungen ähnlich auf einen wartet. Was man in der Gemäldesammlung der Academia erleben kann, ist das epochale Hervortreten der Individualität. Nicht als unvermittelter Bruch mit der älteren Kunst kommt sie zur Erscheinung, sondern als Entwicklung: Sachte, aber unaufhaltsam geht der Übergang vom Spätmittelalter zur Frührenaissance voran wie das Aufspringen von Knospen in einer Zeitraffer-Aufnahme.
Was wird denn nun anders in dieser besonderen Zeit? Das Interesse am Individuum bricht sich Bahn. Angelegt ist es schon in der spätmittelalterlichen Goldgrundmalerei. Einzelne Gestalten mit markanten Charakterzügen finden hier bereits Eingang in die strengen Bildkonventionen. Zwar bleiben die Figuren noch steif und ungelenk, aber in manchem Gesicht scheint etwas auf, das mehr sein will als ein schematischer Typus.
Das Interesse am Individuum bricht sich Bahn – ein kulturhistorisches Wunder: eine Revolution, die sich in Nuancen äussert.
Um diese Erneuerung zu beobachten, die in Italien begann und sich zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitete, kann man statt nach Florenz auch nach Frankfurt reisen, wo im Städel Museum zurzeit die «Renaissance im Norden» gefeiert wird. Die Ausstellung befasst sich mit dem virulenten Kunst-Hotspot, der sich in den Jahren um 1500 in Augsburg entwickelt hatte. Das leise Hervorbrechen der Individualität lässt sich da exemplarisch studieren.
Zu besichtigen ist in Frankfurt ein kulturhistorisches Wunder: eine Revolution, die sich in Nuancen äussert. Aus dem reichen Anschauungsmaterial, welches das Städel bietet, sei hier die Gegenüberstellung von Hans Holbein dem Älteren (um 1465–1524) und seinem Sohn Hans Holbein dem Jüngeren (1497 oder 1498–1543) herangezogen, und zwar mit je einem Madonnenbild.
Madonnensujets waren selbstverständlich (wie übrigens die meisten Bildthemen) stark konventionalisiert. Trotzdem wird in der Gegenüberstellung deutlich, wie gewaltig die Malweise des jüngeren Holbein im Vergleich zu jener seines Vaters sich weiterentwickelt hat.
Die ältere, etwa 1499 entstandene Bildtafel zeigt die kunstvolle Verfeinerung eines Madonnen-Schemas. Nicht um eine bestimmte Frau und ihren Säugling geht es, sondern um die Darstellung des religiösen Themas von Maria und Jesus und damit um die urmenschliche Mutter-Kind-Situation. Das Bild geht zu Herzen, und Maria ist auf anrührende Weise schön – doch eine persönliche Identität hat ihr der Maler nicht verliehen. Dazu ist sie zu sehr typisiert, idealisiert, ein galant-religiöses Model für das grossbürgerliche Augsburg.
Die Madonna, die Hans Holbein d. J. für den Basler Bürgermeister ein Vierteljahrhundert später geschaffen hat, erscheint hingegen als eine wirkliche Person: eine ins Nachdenken versunkene Frau, der eine Ahnung vom Schicksal ihres Kindes ins Gesicht geschrieben ist. Als Bildthema gehört zwar auch dies zur religiösen Konvention, aber die malerische Realisation macht daraus den persönlichen Schmerz dieser bestimmten Frau. Ihre Individualität sprengt als Erscheinung einer neuen Sicht des Menschen das konventionalisierte Setting des Gemäldes.
Die Nuance, welche die Ausdrücke dieser beiden Madonnengesichter unterscheidet, verkörpert die gewaltige geistig-kulturelle Umwälzung, die sich in den Jahren um 1500 abgespielt hat und die wir mit den Begriffen Renaissance und Humanismus bezeichnen. So vielfältig und vielschichtig dieser Vorgang ist, geht es in seinem Kern doch stets um die menschliche Individualität, die Einmaligkeit und Würde der Person – oder eben: um die Menschwerdung des Menschen.
In der Umwälzung, die sich um 1500 abgespielt hat, geht es im Kern um die menschliche Individualität, die Einmaligkeit und Würde der Person.
Das geistige Bild des Menschlichen wurde da gewissermassen neu entworfen. Obschon die gesellschaftlichen Verhältnisse noch für lange Zeit und vielfach bis heute hinter der kühnen humanistischen Vision zurückgeblieben sind, wurde mit der Erfindung der Individualität eine Idee in die Welt gesetzt, die sich nicht mehr beseitigen lässt. Individuen sind gemäss dieser neuen Sicht Unikate im Kosmos. Diese einmalige Würde ist den Menschen immer voraus und kann ihnen als Möglichkeit selbst dann nicht abgesprochen werden, wenn sie mit Füssen getreten wird oder wenn Menschen ihre eigene Würde verraten und verachten.
Hat die Renaissance der Individualität und Menschenwürde namentlich in der bildenden Kunst Gestalt gegeben, so wurde das neue Selbstverständnis des Menschen etwa zur gleichen Zeit im Humanismus als intellektuelles Ethos ausgeformt. Erasmus von Rotterdam (geboren 1466, 67 oder 69, gestorben 1536 in Basel), Universalgelehrter und führender Humanist, gilt als einer der Wegbereiter der europäischen Aufklärung. Holbein d. J. und Erasmus sind sich in Basel begegnet, und Holbein hat ihn mehrfach porträtiert.
Erasmus nutzte die herausragenden Qualitäten des jungen Holbein, der mit 18 Jahren von Augsburg nach Basel gekommen war, um mit gemalten und gedruckten Bildnissen sein Image als Gelehrtenfürst europaweit zu verbreiten. Die Beziehung war für beide förderlich. Auch dürfte Erasmus seinen Porträtisten auf Jan van Eyck und andere Niederländer hingewiesen und so dafür gesorgt haben, dass Holbein d. J. neben Einflüssen der italienischen Frührenaissance auch solche der altniederländischen Kunst und besonders des Naturalismus van Eycks in seine Malweise aufnahm. So hat Holbein van Eycks Meisterwerk Lucca-Madonna gekannt; der Einfluss dieses Vorbilds ist seiner Solothurner Madonna deutlich anzusehen.
Das Erasmus-Porträt von 1523 zeigt den Humanisten in würdevoller Pose. Auf seinem klugen Gesicht liegt eine leise Spur von Schalk und Ironie. Erasmus war ein radikaler Denker, der wie wenige die geistigen und gesellschaftlichen Beschränkungen seiner Zeit durchschaut hat. Darin war er konsequenter und luzider als sein Zeitgenosse Luther; anders als jener aber war er abwägend und vorsichtig. Erasmus wusste stets einzuschätzen, welche geistige Unabhängigkeit er sich wann und wo leisten konnte, ohne das eigene Leben zu riskieren und ohne Gefahr zu laufen, einen gewaltsamen und unkontrollierbaren Umsturz heraufzubeschwören. Diesen schlauen und überlegenen Geist hat Holbein d. J. kongenial erfasst. Sein Gemälde ist einerseits die treffsichere Charakterisierung einer grossen Persönlichkeit, andererseits eine unverhohlene Parteinahme für die Sache des Humanismus.
Ein spätes Werk Holbeins d. J. ist das Rundbild des Simon George of Cornwall, entstanden in der Zeit 1535–1540. Holbein war – übrigens auf Erasmus’ Vermittlung – nach London gegangen und dort Hofmaler Heinrichs VIII. geworden.
Der junge Adlige hat das Porträt vielleicht zum Zweck einer Brautwerbung in Auftrag gegeben. Holbein zeigt ihn nach links schauend im Profil und setzt ihn leicht links der Mitte ins Kreisformat – eine ungewöhnliche Platzierung, die zwar den Federschmuck am Barett unbeschnitten lässt, dafür aber den Eindruck erweckt, die Person strebe aus dem Bild hinaus. Trotz der stillen Geste des Porträtierten verleiht ihm Holbein so eine jugendliche Dynamik.
Holbein, um die vierzig, blickt auf den jungen Simon George, der vor einer Lebensentscheidung steht. In einem indifferenten tiefblauen Raum stehend, schaut dieser vor sich hin. Da ist nichts, was seinen Blick festhält. Er ist mit sich allein. Ob die Verbindung mit der Auserkorenen zustande kommt, ist offen. In Simons Gesicht, von dem man wegen der Profilposition wenig zu sehen bekommt, spiegeln sich bange Erwartung, ein bisschen Wagemut und eine Spur Scheu. Holbein zeigt keinen Draufgänger, sondern einen sensiblen jungen Mann, der sich entschlossen hat, seine Zukunft in die Hand zu nehmen. Entstanden ist ein feinsinniges Bild, aus dem jenes Gemenge von Ungewissheit und Zuversicht spricht, dem Simon ausgesetzt ist – genau wie viele junge Menschen in vergleichbaren Lebenssituationen.
Holbeins Menschen sind kohärente Personen und wirken unmittelbar glaubhaft.
In Holbeins Porträts sind nicht nur Charakterzüge ausgelotet, sondern auch Lebenssituationen erfasst. Seine Menschen sind kohärente Personen und wirken unmittelbar glaubhaft: Ja, so wird der grosse Erasmus in seiner Basler Studierstube gesessen haben; so kann man sich den nicht weiter bekannten Adligen Simon George, der heiraten will, vorstellen. Und selbst bei konventionell vorgeformten Darstellungen wie Madonnenbildern ist beim jüngeren Holbein nachzufühlen, was die Mutter Jesu bewegt. Die Bilder lassen ahnen, was den Porträtierten durch den Kopf und das Herz geht, und sie sind uns darin nicht fremd.
Städel Museum, Frankfurt am Main: Renaissance im Norden. Holbein, Burgkmair und die Zeit der Fugger
bis 18. Februar 2024
Katalog erschienen bei Hirmer