In wenigen Tagen, am 1. September, werden in Thüringen und Sachsen neue Landtage gewählt. Drei Wochen später, am 22. September, sind die Stimmbürger in Brandenburg aufgerufen, über das künftige Landesparlament zu entscheiden. Für alle drei ostdeutschen Bundesländer sagen die Meinungsumfragen schon seit Monaten dramatische politische Erdrutsche voraus.
Wenn nicht in beträchtlichen Teilen der Wählerschaft – sozusagen in letzter Minute – doch noch der kühle, von Vernunft gesteuerte Verstand die Oberhand gegenüber geradezu aberwitziger Wut über «die da oben» zurückgewinnt, dann wird die sich selbst als «Alternative für Deutschland» bezeichnende, am äussersten rechten Rand des Parteienspektrums agierende AfD mit um die (und sogar über) 30 Prozent Stimmen-Anteilen überall zur stärksten Kraft gekürt werden.
Als «konkret rechtsextremistisch» eingestuft
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Erstmals seit der (1933 bei demokratischen (!) Wahlen legitimierten) Hitler-Diktatur mit ihrer unfassbaren Mord-Maschinerie und der katastrophalen deutschen Kriegs-Niederlage würde sich in drei deutschen Bundesländern rund ein Drittel der Wählerschaft erneut hinter jene Kräfte stellen, die nicht nur vom Verfassungsschutz als «konkret rechtsextremistisch» eingeordnet werden, sondern deren führende Köpfe inzwischen ganz offen eine Sprache führen, wie sie auch im Nationalsozialismus üblich war. Natürlich heisst das nicht, dass wirklich alle überzeugte oder möglicherweise auch nur «angehauchte» neue Nazis wären, die in den thüringischen, sächsischen und brandenburgischen Stimmkabinen ihr Kreuzchen bei der AfD machen werden. Vermutlich werden die meisten als Begründung angeben, «aus Protest gegen die da oben» so gewählt zu haben.
Es ist ja leider wahr, dass die Berliner Ampel-Regierung ein katastrophales Bild abgibt. Ursprünglich angetreten mit dem Anspruch, eine «Fortschrittskoalition» zu sein, besteht mittlerweile die noch einzig verbliebene Gemeinsamkeit im gegenseitigen Überbieten an politischen Widersprüchen und sogar persönlichen Beleidigungen. Im Grunde, und angesichts dieses Zustandes, wäre eigentlich jeder weitere rotgrüngelbe «Regierungs»-Tag einer zu viel. Wenn – ja, wenn nicht diese (unsere!) Gesellschaft bereits in beträchtlichen Ausmassen von dem Glaubens-Virus befallen wäre, dass ausgerechnet von jenen Leuten das Heil zu erwarten sei, die – offen und erklärtermassen – das «ganze verrottete System» abschaffen möchten. Womit die Demokratie gemeint ist.
Eine Überzeugung wankt
Stimmungen, sagen selbst die Meinungsforscher mahnend, seien noch keine Stimmen. Demnach könnten die Auszählungen der Landtags-Wahlscheine durchaus noch Überraschungen zeitigen. Trotzdem – angesichts der ja nicht erst aktuell, sondern im Grunde bereits seit ein paar Jahren festzustellenden Tendenz in Richtung rechts und irrational dürfte sich kaum noch etwas Entscheidendes ändern. Und das macht nicht nur ratlos, sondern zugleich tief betroffen. Denn es bringt eine Überzeugung ins Wanken, die sich in der Gesellschaft über die Jahrzehnte seit der Nazi-Katastrophe immer mehr verfestigt zu haben schien. Dass nämlich dieses demokratische System, mühsam von den westlichen Siegern erlernt, das Beste ist, was Deutschland und den Deutschen passieren konnte. Ein politisches System – gepaart aus bürgerlichem Gemeinsinn, Strebsamkeit, Friedfertigkeit nach innen und aussen, Toleranz und dennoch stets bereit, den Feinden genau dieser Tugenden entschlossen die Stirn zu bieten.
Jeder, dem Wut, Ärger oder Unverstand über in der Tat genügend ärgerliche politische Vorgänge nicht völlig den Blick vernebelt haben, müsste daher doch erkennen, dass in dieser von Irrsinns-Kriegen, unfassbaren Terrortaten und blindwütigem Zurückschlagen sowie von Hunger, Elend und Ungerechtigkeiten gequälten Zeit dieses Land geradezu wie eine Insel der Glückseligkeit aus einem von Chaos gepeitschten Meer herausragt. Dass Deutschland natürlich keine solche Insel ist, bedarf an sich keiner Erklärung. Selbstverständlich gibt es auch hierzulande Probleme – grosse Probleme sogar. Die brutale, wohl islamistisch gesteuerte Mordtat von Solingen ist nur ein Zeugnis dafür. Und richtig ist ebenso, dass die Berliner Politik in zentralen Bereichen kläglich versagt hat. Auch wenn es natürlich ebenfalls stimmt, dass die Migrations-Krise – das drängendste Thema seit Jahren – nicht national zu lösen, sondern im günstigsten Fall nur über eine gemeinsame europäische Kraftanstrengung abzumildern ist, bedarf es entschlossener eigenerer Kraftakte. Stattdessen verrennen sich Sozial- und Freidemokraten im Verein mit den Grünen in der geradezu abenteuerlichen Fehleinschätzung, die Zukunft von Staat und Gesellschaft läge auf Politikfeldern wie Wahlfreiheit bei Namen oder Geschlechtsbestimmung, bei Tempo 100 auf Autobahnen, bei der Verhunzung der Sprache als wichtigstem Kulturträger durch Sternchen, Über-, Unter- und Schrägstrich-Vorschriften …
Dummheit der einen, Gewinn der anderen
Klar schafft so etwas Unmut. Schon der wortgewaltige Reformer Martin Luther gab einst von der Kanzel der Schmalkaldener Stadtkirche den Pfaffen mit auf den Weg, sie sollten «dem Volk aufs Maul schauen». Allerdings fügte er hinzu, das heisse nicht, dem Volk «nach dem Munde zu reden». Es hat freilich nicht den Anschein, als hätten Olaf Scholz, Christian Lindner, Robert Habeck und das ganze übrige regierungsamtliche Fussvolk (die christdemokratische Opposition sei hier, ausnahmsweise, ausgelassen) Luthers einfache Weisheit verstanden. Drum kam es, wie es kommen musste: Das Versäumnis (vielleicht auch die Dummheit) der einen, ist logischerweise stets der leicht erreichte Gewinn der anderen. Klar, dass AfD und die mittlerweile sogar aus dem Stand heraus schier unglaubliche zweistellige Popularitätsquoten erreichende Ein-Frau-Bewegung namens «Wagenknecht» höchst erfolgreich in den Teichen fischen, die von den demokratischen Kräften vernachlässigt wurden. Und noch immer werden.
Der politische Irrationalismus ist keineswegs nur ein ostdeutsches Phänomen. Es ist dort halt eben nur deutlich ausgeprägter als im Westen. Und es ist für besorgte Demokraten nicht zuletzt wegen der bevorstehenden Landtagswahlen in den drei östlichen Bundesländern so bedrängend. Nicht erst in den vergangenen Monaten, in denen die AfD vor allem zwischen Weser und Oder in der Wählergunst quasi durch die Decke schoss, haben sich ungezählte kluge und weniger kluge Zeitgenossen auf Erklärungssuche begeben. Da hat es, logisch, auch viele kluge und weniger kluge Antworten gegeben. Nur – keine führt an der Tatsache vorbei, dass in der Wiedervereinigungszeit 1989/90 die damalige DDR der damaligen Bundesrepublik freiwillig und begeistert beigetreten ist. Und nicht etwa überfallen und annektiert worden war. Natürlich sind bei der Bewältigung des Einigungswerkes Fehler begangen worden. Unter dem seinerzeitigen, für Heutige unvorstellbaren, Zeitdruck waren solche unvermeidlich. Aber noch einmal: Die Menschen in der DDR, zumindest die erkennbare Mehrheit, wollten das andere System. Und nun will man eine Partei an die Spitze gelangen lassen, die eben dieses System zum Teufel jagen möchte!?
Ohne Bindungen an Parteien
Es wären nicht die ersten Wahlen in Ostdeutschland, in denen Logik eigentlich mit kleinem «l» geschrieben werden müsste. Obwohl die Bürger mit den Ergebnissen zumeist gut gefahren waren. Sie hatten auch Glück mit den jeweiligen Ministerpräsidenten. Thüringen und Sachsen mit den (westdeutschen) Christdemokraten Bernhard Vogel und Kurt Biedenkopf, Brandenburg mit dem (ostdeutschen) SPD-Mann Manfred Stolpe. Kein Wunder, dass in den, nach der Wiedervereinigung 1990 neu gegründeten, eigentlich traditionell eher sozialdemokratisch geprägten Bundesländern Thüringen und Sachsen die CDU jahrelang mit Wahlsiegen aufwarten konnte, die eher an SED-«Ergebnisse» zu DDR-Zeiten erinnerten. In jenen Jahren bekannte sich dort selbst der letzte Briefträger zur CDU. In Brandburg geschah, nur andersfarbig, Ähnliches.
Als freilich später die Trauben höher hingen, flogen die Herzen (und Kreuzchen auf den Stimmzetteln) der Mehrheitswähler – ruckizucki – fast genauso unisono hinüber zum christdemokratischen Erzfeind – zur SED-Nachfolgepartei Die Linke. Und nun, am 1. und 22. September, scheint Die Linke – in Thüringen aktuell immerhin den Ministerpräsidenten stellend – sogar Gefahr zu laufen, von eben diesen Wählern unter die für den parlamentarischen Einzug entscheidende 5-Prozent-Marke gedrückt und praktisch pulverisiert zu werden.
Nur Parolen und hohle Phrasen
Diese Vorgänge zeigen zumindest, wie partei- und gesellschaftspolitisch lose die Bindungen der Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge an staatliche, gewerkschaftliche oder kirchliche Institutionen sind. Sicher, locker geworden sind die ehemals festen Bindungen im Westen auch, aber sie sind – zumindest in Restbeständen – immer noch vorhanden. Doch können unerfüllte Wünsche an die Politik, Wut und Ärger etwa über den missglückten Entwurf eines Heizungsgesetzes, fassungsloses Kopfschütteln über den Versuch, von oben herab und am überdeutlichen Mehrheitswillen der Bürger vorbei der Republik sprachlich völlig unnatürliche neue Schreibregeln (Gender-Deutsch) aufdrücken zu wollen – reicht das als Rechtfertigung dafür, dass bedenklich grosse Teile der Wählerschaft offenkundig bereit sind, den eigenen Verstand an der Garderobe abzugeben und blindlings nur noch Parolen nachzulaufen? Nicht nur Parolen, sondern vielfach sogar blossen hohlen Phrasen?
Um zu erkennen, dass die deutsche Migrationspolitik von der beim Flüchtlingsansturm 2015 selbstverliebt gefeierten deutschen «Willkommenskultur» bis zur lange Zeit praktisch völlig unkontrollierten Einreise und Asyl-Beantragung auf Dauer nicht gut gehen konnte, hätte es weder der AfD noch der Wagenknecht-Bewegung bedurft. Rufer in der Wüste gab es genügend. Keine Gesellschaft der Welt hält es aus, überfordert zu werden. Dennoch ist es, andererseits, einfach drollig, den Vorstellungen der politischen AfD-Rechtsaussen und jenen der Wagenknecht-Freibeuter zu folgen, das Problem könne national – also «par ordre du mufti» aus Berlin – behoben werden. Wobei der raketenhafte Aufstieg der erst vor einem halben Jahr gegründeten Bewegung namens «Bündnis Sahra Wagenknecht» (BSW) selbst altgedienten Politikbeobachtern den Atem raubt. Zwischen 13 und 18 Prozent werden ihr in Sachsen bzw. Thüringen vorhergesagt. Dazu noch die 30 Prozent und mehr für die AfD! Lieb Vaterland, magst ruhig sein? Nein, überhaupt nicht. Was tun sich die Deutschen eigentlich selbst an? Und warum?
Kühl bis in die Haarspitzen
Tatsächlich hat es in Deutschland so eine Erscheinung wie Sahra Wagenknecht, die Ehefrau des ehemaligen (und dann von der sozialdemokratischen Fahne gegangenen) SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, noch nie gegeben. Kühl bis in die Haarspitzen und in jeder Situation total kontrolliert, hat sie nicht nur ihr Polit-Orchester, sondern vor allem auch die Landtagswahlkämpfe allein und total auf sich selbst zugeschnitten. Dabei steht sie persönlich weder in Erfurt, noch in Dresden, noch in Potsdam zur Wahl. Die jeweiligen eigentlichen Spitzenkandidaten sind weitestgehend unbekannt und haben wohl auch wenig zu sagen. Darüber hinaus kommen die zentralen Wahlkampfthemen auf der Landesebene überhaupt nicht vor. Denn dafür sind die Länder gar nicht zuständig – vornehmlich für die Aussenpolitik, zu der natürlich auch die Migrationsproblematik zählt. Weiter, die in der Nato beschlossene, von Wagenknecht und Co. abgelehnte, erneute Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen betrifft ausschliesslich Westdeutschland, hat mithin weder mit Thüringen etwas zu tun noch mit Sachsen, noch mit Brandenburg.
Hier treffen sich denn auch die beiden Politikfelder namens AfD und Wagenknecht. Ihr Kern: Sie bieten nichts an, sondern bedienen im Prinzip allein das Gefühl des Dagegenseins, des Protests, der Skepsis gegenüber «denen da» und einer «Irgendwie-Anti-Haltung» zu den Etablierten. Das gilt besonders für den Osten und bestimmt damit wohl auch den Ausgang der bevorstehenden Landtagswahlen. Dass die wirtschaftliche Entwicklung vor allem in Thüringen und Sachsen mit ihren «Leuchttürmen» Erfurt, Jena, Eisenach, Dresden und Leipzig deutlich nach oben zeigt – was soll’s? Die Gefühlswelt will den Protest. «Da rast der See und will sein Opfer haben», schrieb einst Friedrich von Schiller in seinem Wilhelm Tell. Welche Opfer würde es am Ende wohl kosten, wenn – ungeachtet berechtigter Ärgernisse und Sorgen – in Deutschland die Verteidigung von Demokratie, kühler Verstand und nüchterne politische Abwägung zwischen Freiheit und «Führer befiehl» auf der Strecke blieben?