Lasst uns feiern, trotz allem», titelten die Leitartikler der «Washington Post» am Tag, als Joseph Robinette Biden Jr. vor dem Kapitol in Washington DC als 46. Präsident der Vereinigten Staaten um 11.47 Uhr seinen Amtseid ablegte. Grund zum Feiern hatte die Nation in der Tat: Nur zwei Wochen zuvor hatte an selber Stelle ein wütender Mob die Grundfesten der amerikanischen Demokratie zu erschüttern versucht und nur wenig hatte gefehlt, es wäre ihm gelungen.
Es war ein böses Erwachen für all jene, die geglaubt hatten, so etwas könne bei ihnen nicht passieren. «So sind wir nicht», hiess es bald – in Verkennung der Realitäten im Lande und unter Ausblendung der eigenen Geschichte. Nicht umsonst waren mehr als 20’000 Nationalgardisten der Hauptstadt stationiert, um Attacken wie jene einheimischer Terroristen am 6. Januar zu verhindern. Wer aber schaudernd von Washington DC als einer Stadt im Kriegszustand sprach, war wohl noch nie, wie ein libanesischer Autor bemerkte, in einem richtigen Krieg gewesen.
Doch Amtseinsetzungen sind nicht der Anlass, um Skepsis zu äussern oder Trübsal zu blasen. Gefragt sind Optimismus, Pathos und hochfliegende Rhetorik. Joe Biden enttäuschte diesbezüglich nicht, obwohl er es in seiner Rede nicht versäumte, zumindest indirekt all die Zerstörung anzusprechen, die sein Vorgänger während der letzten vier Jahre angerichtet hatte. «Das ist der Tag Amerikas», sagte Joe Biden zu Beginn seiner Rede: «Das ist der Tag der Demokratie.»
Und als hätte Hollywood den Festakt mitinszeniert, brach nach leichtem Schneegestöber die Sonne durch die Wolken und liess die Kuppel des Kapitols vor einem blauen Himmel in blendendem Weiss erstrahlen – eine perfekte Bühne für Stars wie Lady Gaga, Jennifer Lopez oder Garth Brooks. Vergessen in diesem Moment die böse Definition amerikanischer Politik durch einen Berater Bill Clintons: «Washington ist Hollywood für hässliche Menschen.»
Der grosse Abwesende in Washington DC war Donald Trump. Der Noch-Präsident hatte am Morgen mit First Lady Melania das Weisse Haus verlassen, um ein letztes Mal den Helikopter «Marine One» und danach den Jumbo-Jet «Air Force One» zu besteigen und nach Palm Beach (Florida) ins güldene Exil zu fliegen. «Wir lieben euch», rief er seinen Anhängern auf dem Militärflugplatz Joint Base Andrews zu: «Wir werden in irgendeiner Form zurück sein.»
Als der Jet abhob, schepperte Frank Sinatras «My Way» aus den Lautsprechern: «And now the end is near ...». Was für ein abrupter Wechsel, wunderte sich ein Kommentator auf CNN: «Noch am Morgen sitzest du im Weissen Haus, bist der mächtigste Mann der Welt und am Nachmittag hockst du am Swimming Pool in Mar-a-Lago.»
Kein Wunder hatte Donald Trump in einer kurzen Rede vor dem Abflug seine Errungenschaften noch etwas anders gesehen, als ein Kolumnist der «New York Times» dies gleichentags tat. Thomas L. Friedman schloss, das schreckliche Experiment sei vorbei: «Leute, wir haben soeben etwas wirklich verrückt Furchtbares überlebt: vier Jahre eines Präsidenten ohne Scham, unterstützt von einer Partei ohne Rückgrat, verstärkt von einem Fernsehsender ohne Integrität, jeder von ihnen Verschwörungstheorien verbreitend ohne Wahrheit, direkt in unsere Hirne transportiert von sozialen Netzwerken ohne Ethik – das Ganze angeheizt von einer Pandemie ohne Erbarmen.»
Joe Biden ist jedenfalls ein willkommener Kontrast zu Donald Trump, politisch erfahren, empathisch, integer. Wer ihn kennt, glaubt ihm, dass es ihm in erster Linie um sein Land und nicht um sich selbst geht. Seine Amtszeit wird keine Reality Show werden, in der es mehr um Applaus als um Leistung geht. Er weiss, was ihn erwartet, wenn er eine infame Pandemie besiegen und eine gespaltene Nation heilen will. Wenn er Rassismus und Extremismus den Nährboden entziehen und gemeinsame Ideale und Ziele erreichen will. Wenn er die lahmende Wirtschaft beleben und Amerikas Stellung in der Welt stärken will.
Der «uncivil war» müsse enden, forderte der neue amerikanische Präsident in seiner Rede an die Nation: «Einheit ist der Weg vorwärts. Und wir müssen diesem Moment als Vereinigte Staaten von Amerika begegnen. Wenn wir das tun, so versichere ich euch, dass wir nicht versagen werden.»
Und an die Adresse seines Vorgängers gerichtet, den er allerdings nicht beim Namen nannte, sagte Joe Biden: «Die Politik muss kein Buschfeier sein, das alles zerstört, was sich ihm in den Weg stellt. Nicht jede Meinungsverschiedenheit muss Anlass für einen totalen Krieg sein. Und wir müssen eine Kultur ablehnen, in der Fakten manipuliert und sogar hergestellt werden.»
Noch am Nachmittag nach seiner Amtseinsetzung wollte der 78-jährige Präsident dann beginnen, das toxische Erbe seines Vorgängers zu sanieren. Anschliessend an einen Besuch des Soldatenfriedhofs in Arlington (Virginia) unterzeichnete er im Weissen Haus seinen Beratern zufolge 17 Exekutivordern, Memoranden und Proklamationen in Sachen Corona-Bekämpfung, Umweltschutz, Einwanderung, Wirtschaftshilfe und Förderung von Diversität.
Es war für Joe Biden der Start zu einem ehrgeizigen Unterfangen, dessen Gelingen noch ungewiss ist und nicht zuletzt von der Kooperationsbereitschaft der republikanischen Partei abhängt. Hollywood wüsste, wie es geht. Die Traumfabrik produziert gern amerikanische Helden, gefilmt vor flatternden Sternenbannern und umschmeichelt von patriotischer Musik: «America the Beautiful». Doch wenn die Vereinigten Staaten derzeit etwas brauchen, so ist es wieder mehr Realität. Fiktionen gibt und gab es genug.