Am 15. April 1954, dem Gründonnerstag, publizierte die „Kölnische Rundschau“ einen Text von Heinrich Böll mit dem Titel „Auferstehung des Gewissens“. Darin kritisierte er, dass zu jener Zeit im deutschen Schulunterricht keine Aufklärung über die Verbrechen der Nazis, insbesondere gegenüber den Juden, stattfinde. Wörtlich heisst es in dem Beitrag: „Unsere Kinder wissen nicht, was vor zehn Jahren geschehen ist. Sie lernen die Namen von Städten kennen, mit denen sich ein fader Heroismus verbindet: Leuthen, Waterloo, Austerlitz, aber von Auschwitz wissen unsere Kinder nichts.“
Gegen den „erhobenen deutschen Zeigefinger“
Das Zitat liest man in einer neuen Biographie von Jochen Schubert über Heinrich Böll, die vor kurzem im Blick auf den 100. Geburtstag des Schriftstellers erschienen ist. Es deutet an, welche Defizite in Sachen „Vergangenheitsbewältigung“ den damals noch jungen westdeutschen Nachkriegsstaat überschatteten und wie sehr ein ursprünglich stark katholisch geprägter Moralist wie Heinrich Böll unter solchen Zuständen gleichzeitig litt und sich empörte.
Auf ein anderes Beispiel von Bölls moralischem Engagement hat dieser Tage die Wochenzeitung „Die Zeit“ aufmerksam gemacht. Sie publizierte einen 1972 geschriebenen und bisher nicht veröffentlichten Brief Bölls an den Anwalt Horst Mahler, Mitbegründer der linken Terror-Organisation RAF, die damals mit ihren blutigen Anschlägen die deutsche Öffentlichkeit in Atem hielt. Böll wurde in den siebziger Jahren insbesondere von der Springer-Presse verdächtigt, zur sogenannten Sympathisanten-Szene der RAF zu gehören und deshalb scharf unter Beschuss genommen.
Der jetzt veröffentlichte Brief an Mahler belegt aber unzweideutig, dass Böll sich ideologisch von keiner Seite vereinnahmen liess. Ihm ging es in erster Linie darum, selbstgerechte Posen und undifferenzierte Schwarzweiss-Malereien im politischen Diskurs anzuprangern – und zwar auf allen Seiten, selbst bei seinem Freund und Schriftstellerkollegen Günter Grass. An den damals im Gefängnis sitzenden RAF-Apologeten Horst Mahler (später ist er zum Rechtsradikalen mutiert) schrieb er: Eines habe er, Mahler, mit seinen Gegnern gemeinsam: „den hoch erhobenen deutschen Zeigefinger, und dieser hoch erhobene Zeigefinger verbindet Sie auch mit Günter Grass, den Herren Filbinger, Genscher, Sternberg und wie sie alle heissen mögen“.
Ehrlich aber naiv?
Böll litt schwer an der Unvollkommenheit der westdeutschen Nachkriegsverhältnisse. Er war mehr als sechs Jahre als einfacher Soldat im Krieg gewesen – von seinen traumatischen Erfahrungen, die er als bodenlose Sinnlosigkeit erlebte, zeugen die jetzt publizierten Kriegstagebücher. Er hatte auf einen konsequent moralischen und gesellschaftlichen Neuanfang der Bonner Republik gehofft.
Deshalb war er enttäuscht und entrüstet über den von der Adenauer-Regierung vorangetriebenen Beitritt zur Nato, die Schaffung der Bundeswehr, die innenpolitische Einflussnahme der katholischen Kirche, die anfänglich weitherum praktizierte Verdrängung der Hitler-Vergangenheit, den Kalten Krieg und später die westliche Nachrüstung bei den atomaren Mittelstreckenraketen in Europa. 1976 erklärten Böll und seine Frau ihren Austritt aus der katholischen Kirche.
Einige seiner Protesthaltungen sind schon damals von verschiedener Seite als Ausdruck eines zwar ehrlichen, aber politisch allzu naiven Idealismus kritisiert worden. Bei einigen Themen hat die reale spätere Entwicklung seine düsteren Prognosen widerlegt. So hat die von Adenauer zielstrebig forcierte Einbindung der Bonner Republik in das westliche Verteidigungsbündnis die spätere Wiedervereinigung Deutschlands keineswegs verhindert – ganz im Gegenteil, wie man inzwischen weiss. Den Fall der Berliner Mauer 1989 und die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten hat der 1985 verstorbene Böll indessen nicht mehr erlebt – gerne wüsste man, wie er darauf reagiert hätte.
Elend und Verlorenheit der ersten Nachkriegsjahre
Auch das prominente Engagement des Schriftstellers gegen den von der Regierung Schmidt „erfundenen“ Nato-Doppelbeschluss hat später genau zu dem Ergebnis geführt, das die Nato als Ziel deklariert hatte: Die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenwaffen in Ost- und Westeuropa.
Ebenso ist die fehlende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, über die Böll sich in den 1950er Jahren zu Recht beklagte, später überzeugend korrigiert worden – nicht allein, aber in erheblichem Masse eine Folge der 68er-Proteste. Böll hat zu dieser Wendung durch seine bewegenden Erzählungen und Romane über das Elend der kleinen Leute und die innere Verlorenheit der ersten Nachkriegsjahre (eine Art Gegenrealität zur sich ebenfalls ausbreitenden Wirtschaftswunderstimmung) zweifellos Wesentliches beigetragen.
Politisch-moralische Unbestechlichkeit
Was Heinrich Böll in der alten Bundesrepublik ungeachtet des zeitweiligen Kesseltreibens der Springerpresse gegen ihn in der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit weitherum zur moralischen Instanz machte, war sein aufrichtiger Wille, sich auf keinen Fall von irgendeiner ideologischen Seite vereinnahmen zu lassen, seine politische Unbestechlichkeit. So exponierte er sich zwar in seinen Werken als hartnäckiger Kritiker der vorherrschenden bürgerlich-konservativen Grundstimmung in den Nachkriegsjahren und der seiner Meinung nach allzu eng mit den politisch-wirtschaftlichen Machtgremien verbandelten katholischen Amtskirche.
Doch nicht minder deutlich zerpflückte er die Zustände in der DDR. In einem von Schubert zitierten Brief begründete er 1961 die Absage an den Autor Stephan Hermlin, der ihn zum DDR Schriftstellerkongress nach Weimar eingeladen hatte, wie folgt: „Sie und ihre Kollegen sind denn doch zu sehr Funktionär, Sie wären es nicht mehr, wenn Sie mit der gleichen Verve Ulbricht kritisieren könnten, wie wir A. (Adenauer) kritisieren, vielleicht möchten Sie U. (Ulbricht) nicht kritisieren – gut, aber das macht die Sache noch schlimmer.“
Erfolgsautor in der Sowjetunion
Während des Kalten Krieges zählte Böll in der Sowjetunion zu den am meisten publizierten und gelesenen ausländischen Autoren. Doch diese Popularität und sein intensives Interesse für Russland und dessen Kultur verleiteten ihn in keiner Weise dazu, die repressiven Praktiken des Sowjetregimes zu verschweigen oder zu verharmlosen. Es war gewiss kein Zufall, dass Alexander Solschenizyn, der prominenteste Regimegegner, 1974 nach der Ausweisung aus der Sowjetunion bei seiner Ankunft in Frankfurt darum bat, zunächst den mit ihm befreundeten Schriftstellerkollegen Böll zu besuchen.
Als ein leuchtendes Beispiel von Bölls persönlichem Mut und seiner Hilfsbereitschaft steht auch sein Einsatz als Fluchthelfer für die tschechoslowakische Pianistin Jaroslawa Mandlova. Böll war vom tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes eingeladen worden. Auf der Rückreise von Prag versteckte er die Frau eines bereits im Westen wohnenden tschechischen Bekannten im umgebauten Citroën der Familie Böll und schmuggelte sie so über die Grenze.
Reich-Ranickis Urteil
Wie steht es mit der heutigen Aktualität und Relevanz von Bölls Werken? Danach wurde vor zehn Jahren auch der inzwischen verstorbene Grosskritiker Marcel Reich-Ranicki in der FAZ gefragt. Dessen Antwort: Zwar sei Böll einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit gewesen. Doch seine Romane seien „mittlerweile allesamt in Vergessenheit geraten“. Literarisch wertvoller seien einige seiner kürzeren Geschichten wie etwa „Wanderer, kommst du nach Spa …“. Kurz, man werde Böll wenig lesen, „doch wird man sich an ihn sehr wohl erinnern“.
Stimmt das? Dass Bölls Name und seine Persönlichkeit weit über den deutschen Sprachbereich hinaus nach wie vor ein positiv besetzter Begriff ist, der für Menschlichkeit und sanfte Eigensinnigkeit steht, ist kaum zu bestreiten. Literatur hat ja nicht allein mit Stilfragen, sondern auch mit inhaltlicher Relevanz und gelegentlich mit zeitgeschichtlichen Denkwürdigkeiten zu tun – auch wenn das manche Puristen anders sehen. Wahrscheinlich werden Bölls Werke heute tatsächlich weniger gelesen als zu seinen Lebzeiten. (Aber gilt Ähnliches nicht auch für andere einstmals bekannte Nobelpreisträger der Nachkriegszeit?) Ob eines seiner bekanntesten Bücher, „Gruppenbild mit Dame“ (1971), ein „Meisterwerk“ und die „Krönung seines bisherigen Oeuvres“ darstellt, wie die Schwedische Akademie 1972 für die Verleihung des Literaturnobelpreises formulierte, erscheint heute beim Wiederlesen ziemlich zweifelhaft.
Politisch-gesellschaftliche Einsichten
Doch andere Werke wie die Erzählungen „Entfernung von der Truppe“ (1964), „Ende einer Dienstfahrt“ (1966), eventuell auch der Roman „Ansichten eines Clowns“ (1963) sowie die „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (eine Erzählung über die Methoden der Boulevard-Presse) können mit ihren anarchistisch grundierten, ironisch und melancholisch erzählten Geschichten aus der deutschen Nachkriegswirklichkeit auch auf heutige Leser eine durchaus fesselnde Wirkung entfalten. Voraussetzung ist allerdings, dass man sich für die politisch-gesellschaftlichen Zustände und Gefährdungen jener Zeit interessiert. Wer sich darauf einlässt, wird die seither eingetretenen Entwicklungen im ehemals geteilten Deutschland umso höher einzuschätzen wissen. Jochen Schuberts neue Biografie über Heinrich Böll vermittelt dank ihrem Faktenreichtum vielerlei Anstösse zur Einsicht in solche Umbrüche.
Jochen Schubert: Heinrich Böll. Biografie. Theiss-Verlag, Darmstadt 2017, 344 Seiten.