Der tunesisch-schweizerische Doppelbürger Taoufik Ouanes ist Anwalt in Tunis und Genf und Autor von Journal21.ch. Mit ihm sprach Heiner Hug.
Der tunesische Präsident Kais Saied hat am Sonntag die Regierung mit Ministerpräsident Hichem Mechichi entlassen und den Ausnahmezustand verhängt. Die Tätigkeit des Parlaments wurde für 30 Tage ausgesetzt.
Journal21: Taoufik Ouanes, will sich der Präsident zum Alleinherrscher aufschwingen?
Taoufik Ouanes: Sicher nicht. Der Präsident, ein einstiger Professor für Verfassungsrecht, ist ein vernünftiger Mensch, eine moralische Institution. Aber er hatte keine andere Wahl, als die Regierung zu entlassen.
Weshalb nicht?
Tunesien steht am Abgrund. Die Institutionen funktionieren nicht mehr. Das Land ist pleite, der Schuldenberg enorm. Es gibt keinen Tourismus mehr, keine Arbeit, keine Investitionen. Der Internationale Währungsfonds weigert sich, Geld zu zahlen. Die Pandemie hat die Lage unerträglich gemacht. Täglich kommen 200 bis 300 Menschen ums Leben. Einige von ihnen sterben auf den Parkplätzen vor den Spitälern. Es fehlt an Spitalbetten, die Toten werden neben den Abfalleimern gelagert, es fehlt an Sauerstoff. Nur 7 Prozent der Bevölkerung sind geimpft. Es fehlt an Geld, um Impfstoff zu kaufen. Es gibt kaum mehr Masken. Die Regierung hat völlig versagt. Sie verwaltet und regiert das Land auf die schlimmstmögliche Art.
Deshalb brach am 25. Juli, am «Tag der Republik», der Volkszorn los. Es war wie ein Dampfkessel, der explodierte. Tausende gingen auf die Strassen und demonstrierten gegen die Regierung und bejubelten den Präsidenten, der die Regierung abgesetzt hat.
Dominiert wird die Regierung von der islamistischen Ennahda-Partei. Ist sie an allem schuld?
Die Ennahda ist generell inkompetent und bis auf die Knochen korrupt. Zusammen mit religiösen und rechtsaussen stehenden Parteien hat Ennahda im Parlament die Mehrheit. Auch die Regierung wird von den Islamisten dominiert.
Die Ennahda bezeichnet die Absetzung der Regierung als Putsch.
Ob das ein Putsch ist, darüber kann man diskutieren. Artikel 80 der Verfassung erlaubt es dem Präsidenten, aussergewöhnliche Massnahmen zu treffen, wenn das Land in Gefahr ist. Ob das Vorgehen des Präsidenten nun als Putsch bezeichnet wird oder nicht, ist zweitrangig. Das Land ist in Gefahr, die Institutionen funktionieren nicht mehr. Tunesien steht am Abgrund. Das Land ist unregierbar geworden.
Ennahda sagt, der Präsident habe verfassungswidrig gehandelt. Er hätte den Ministerpräsidenten und den Parlamentspräsidenten informieren sollen, dass er die Regierung absetzen will.
Ob nun die Absetzung der Regierung verfassungsmässig oder nur zum Teil verfassungsmässig war, ist zweitrangig. Der Präsident hat sowohl den Ministerpräsidenten als auch den Parlamentspräsidenten angerufen und sie darüber informiert, dass er – wie es ihm die Verfassung erlaubt – aussergewöhnliche Massnahmen ergreifen werde. Wir wissen nicht, ob er diese Massnahmen im Detail beschrieben hat. Es war eine formelle, nicht substantielle Konsultation.
Ich möchte eine Anekdote erzählen. Vorgestern versuchte Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi ins Parlament zu gelangen. Das Tor war verschlossen, dahinter stand ein Soldat. «Ich verlange Zutritt, wir verteidigen die Verfassung», sagte der abgesetzte Parlamentspräsident. Der Soldat antwortete: «Wir verteidigen die Nation.» Das sind die beiden Denkschulen: Die einen stellen sehr legalistisch die Verfassung über alles, auch wenn das Land vor die Hunde geht. Für die anderen gilt es, die Nation zu retten.
Auch Beamte dürfen nicht mehr in ihre Büros zurück.
Mit gutem Grund. Die Justizministerin hatte ihr Ministerium mit einem dicken Dossier unter dem Arm verlassen – ein Dossier, das sie verschwinden lassen wollte und das offenbar Beweis für korrupte Machenschaften ist. Armee-Angehörige beschlagnahmten die Dokumente.
Was ist der Präsident für ein Mann?
Er ist grundehrlich. Er gehört keiner Partei an, er hatte keine politische Erfahrung. Doch er wurde 2019 mit sensationellen 73 Prozent der Stimmen gewählt, weil er kein Blender ist, weil er die Probleme beim Namen nennt. Man stelle sich vor, er erhielt 73 Prozent, obwohl er kein Geld hat und keinen Parteiapparat, der ihn unterstützte. Er wurde gewählt, weil die Menschen in Tunesien genug vom politischen Hickhack hatten – vor allem auch, weil sie genug von der islamistischen Ennahda-Partei hatten, die zehn Jahre regierte und keine Strukturreformen zustande brachte und das Land wirtschaftlich ins Chaos führte. Die jetzige Pandemie ist der Ausdruck für die völlige Unfähigkeit der Regierung.
Wie islamistisch ist die Ennahda-Partei?
Frères musulmans soft – eine gemässigte Ausgabe der Muslimbrüder. Sicher ist sie nicht radikal wie al-Kaida oder der Islamische Staat. Sie hat enge Verbindungen zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Er war denn auch der erste, der die Absetzung der Regierung verurteilte. Die Partei versucht langsam, alle Institutionen, auch die Armee und die Polizei, zu unterwandern.
Wieso wurde auch das Büro des katarischen Satelliten-Fernsehsenders al-Jazeera gestürmt und geschlossen?
Al-Jazeera betreibt seit Jahren eine Pro-Ennahda-Berichterstattung. Der Präsident sah offenbar die Gefahr, dass der Fernsehsender die Bevölkerung zu Protesten aufruft.
Was macht der Präsident jetzt mit seiner Macht?
Der Ausnahmezustand ist auf 30 Tage befristet, allerdings ist eine Verlängerung möglich. Kais Saied hat das Parlament «eingefroren», absetzen kann er es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht. Ich nehme an, dass er demnächst einen neuen Ministerpräsidenten ernennt. Der Präsident ist Jurist mit Haut und Haaren. Er weiss, dass die jetzige Situation nicht lange so dauern darf. Er will das Land voll und ganz wieder auf verfassungsmässige Strukturen stellen und will sicher kein autoritäres Regime aufziehen. Er hat jetzt die grosse Aufgabe, schnell Resultate zu liefern. Vor allem muss er die Corona-Pandemie endlich in den Griff bekommen und die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Die Zeit drängt, das Volk ist aufgebracht, zu Recht aufgebracht. Schnelles Handeln ist jetzt wichtig. Die nächsten Wahlen sind in drei Jahren. So lange kann man nicht warten.
Neben Protesten gab es viel Zustimmung für den rigorosen Schritt des Präsidenten.
Auf den Strassen, so auf der Avenue Bourguiba in Tunis, jubelten Tausende dem Präsidenten zu. Auch das Militär steht hinter ihm. Und sogar die sehr starken Gewerkschaften unterstützen ihn grundsätzlich in seinem «Putsch» – allerdings verlangen sie, dass man ihnen sagt, wie es jetzt weitergeht. Beliebt ist Saied vor allem auch bei der Jugend.
Und wie verhalten sich die Islamisten von Ennadha?
Das ist jetzt die grosse Frage. Werden sie zu Protesten und gar zu Gewalt aufrufen? Ich hoffe, dass kein Blut fliessen wird, denn dann brechen alle Dämme. Nicht zu vergessen, dass Tunesien noch immer ein Ziel von Terroristen ist.
Und wenn es zu Aufruhr, gar zu Strassenschlachten und Gewalt käme, bestünde dann nicht die Gefahr eines Militärputsches?
Diese Gefahr besteht, wenn auch die Armee in Tunesien sehr schwach ist. Das ist sie seit der Unabhängigkeit des Landes. Das hat seinen Grund. Schon Präsident Habib Bourguiba fürchtete einen Militärputsch und tat deshalb alles, damit die Armee nicht allzu stark würde. Der vor gut zehn Jahren gestürzte Präsident Zine el-Abidine Ben Ali tat das Gleiche aus gleichem Grund.
Doch die Gefahr geht primär nicht von der Armee aus, sondern von möglichem Blutvergiessen in den Strassen. Dann haben alle verloren. Auch der Präsident. Die nächsten Tage werden entscheidend sein, ça passe ou ça casse.