Am 25. Juli hat der tunesische Präsident Kais Saied die islamistische Regierung gestürzt und das Parlament suspendiert. Dieser Schritt wird laut jüngsten Umfragen von 86 Prozent der Bevölkerung unterstützt.
Der tunesisch-schweizerische Doppelbürger Taoufik Ouanes ist Anwalt in Genf und Tunis sowie Autor von Journal21. Mit ihm sprach Heiner Hug.
Journal21: Toaufik Ouanes, einige bezeichnen das Vorgehen des Präsidenten als Militärputsch. Wie sehen Sie das?
Taoufik Ouanes: Dem Präsidenten schlägt zur Zeit eine eigentliche Solidaritätswelle entgegen. Sein Vorgehen wird von einer überwältigenden Mehrheit der Tunesierinnen und Tunesier gutgeheissen – auch von den Wirtschaftsverbänden, den Gewerkschaften, den gemässigten Parteien und der Jugend. Und auch vom Militär. Man kann doch nicht von einem Militärputsch sprechen, nur weil das Militär sein Vorgehen auch unterstützt. Ich betone „auch“. Das ist kein Militärputsch, das ist der Versuch eines legal gewählten Präsidenten, die Demokratie zu retten und sie von korrupten und unfähigen Kräften zu säubern. Die Gegner des Präsidenten sind es, die den Begriff Militärputsch hinausposaunen; damit wollen sie ihm schaden.
Man darf nicht vergessen, der Präsident griff erst ein, nachdem Tausende auf die Strassen gegangen waren, um gegen die Regierung zu protestieren – eine Regierung, die von der islamistischen Ennahda-Partei dominiert wird. Eine Regierung auch, die das Land in den Ruin gewirtschaftet hat und die Menschenrechte verletzte. Corona mit täglich bis zu 200 Toten hatte dann das Fass zum Überlaufen gebracht.
Das Vorgehen des Präsidenten richtete sich gegen die islamistische Ennahda-Partei. Diese gibt sich als moderat islamistisch. Was ist denn so schlimm an ihr?
Ennahda ist eine religiös moderate Partei. Sie spricht sich unter anderem gegen den Jihad aus. Doch politisch, machtpolitisch, ist sie keineswegs moderat. Vor allem ist sie korrupt und inkompetent. Langsam versucht sie, alle Institutionen zu unterwandern. Der Justizapparat ist schon in den Händen der Islamisten. Jetzt will sie die Macht nicht mehr hergeben und eine Ennahda-Diktatur errichten.
Saudi-Arabien, Katar, die Emirate, Ägypten und andere befürworten das Vorgehen des Präsidenten. Andererseits sind die Türkei und Israel gegen ihn. Der Iran schweigt. Welche Haltung nehmen die USA ein?
Die USA sind in einer verzwickten Lage. Einerseits sind sie gegen eine islamistische Regierung. Anderseits sind sie gegen einen Präsidenten, der zwar ebenfalls gegen die islamistische Regierung ist, aber auch – und das ist der entscheidende Punkt: gegen Israel.
Wie äussert sich diese anti-israelische Haltung von Präsident Kais Saied?
Er sagt, die Rechte der Palästinenser seien unverhandelbar. Und er bezeichnet es als Hochverrat, dass die Emirate, Marokko, Bahrein und der Sudan auf Trumps Drängen hin Beziehungen zu Israel aufgenommen haben.
Aber können sich die USA gegen einen Präsidenten stellen, der äusserst beliebt ist und im vorletzten Jahr in demokratischer Wahl mit einem Stimmenanteil von 74 Prozent gewählt wurde?
Die USA sind nicht zu beneiden. Da gibt es nicht nur die israelische Lobby, welche die USA drängt, den Präsidenten fallen zu lassen. Es gibt auch die Lobby der Ennahda-Partei. Diese ist in Washington sehr stark. Während der Amtszeit von Präsident Barack Obama konnte sich Ennahda als gemässigte islamistische Kraft in amerikanischen Regierungskreisen profilieren. Diese starke Stellung spielt sie jetzt aus.
Anderseits müssen sich die USA tatsächlich gut überlegen, ob sie einen beliebten, gewählten Präsidenten stürzen wollen – ein Präsident auch, der als total sauber und als moralische Institution gilt.
Was tun jetzt die USA?
Sie haben zunächst Druck auf Kais Saied ausgeübt, das Parlament sofort wieder einzusetzen. Es gab lange Telefongespräche mit Vizepräsidentin Kamala Harris, Aussenminister Antony Blinken und dem nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan.
Mit welchem Ergebnis?
Saied befindet sich in einer extrem schwierigen Lage. Laut der Verfassung kann er das Parlament für 30 Tage lang „einfrieren“. Die Hälfte dieser Zeit ist bald schon um. Er muss also in den nächsten Tagen eine Lösung finden.
Wie könnte die aussehen?
Er könnte die 30-tägige Frist unter Umständen verlängern. Doch verfassungsmässig wäre das schwierig.
Also doch das bisherige Parlament wieder einsetzen?
Nein. Der Präsident braucht ein anderes Parlament, kein korruptes und vor allem kein unfähiges. Doch das bisherige Parlament, das von der islamistischen Ennahda-Partei und zwei Rechtsparteien dominiert wird, kann er laut Verfassung zwar für 30 Tage suspendieren, aber nicht auflösen. Nur die Parlamentarier selbst könnten eine Auflösung beschliessen. Das werden sie sicher nicht tun.
Aber: Bei den Wahlen im vorletzten Jahr wurden die 98 gewählten Ennahda-Parlamentarier erwiesenermassen finanziell von der Türkei und Katar unterstützt. Laut Verfassung ist Wahlkampfhilfe aus dem Ausland verboten, doch der tunesische Rechnungshof (la cour des comptes) hat bisher generös über diese illegalen Parteispenden hinweggesehen.
Der Präsident, ein versierter Jurist, kann nun sagen, die Ennahda-Parlamentarier seien illegal gewählt worden – eben mit illegalen Wahlkampfspenden. Also verlieren sie ihren Status als Parlamentarier. Da das Parlament dann nur noch aus etwa 120 legal gewählten Abgeordneten besteht, ist es nicht mehr beschlussfähig und kann deshalb aufgelöst werden. Dann kann der Präsident vorzeitige Neuwahlen ausschreiben.
Das klingt fast schon abenteuerlich.
Das ist gar nicht so abenteuerlich. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Ein grosser Teil der 120 legal gewählten Abgeordneten steht treu zum Präsidenten. Sie könnten freiwillig demissionieren. Auch dann wäre das Parlament nicht mehr beschlussfähig. Auch dann könnte der Präsident Neuwahlen ansetzen.
Und Ennahda lässt sich das alles gefallen?
Während immer wieder Pro-Saied-Demonstrationen stattfinden, gab es bisher keine öffentlichen Manifestationen von Ennahda. Die Partei hat zu viel Chaos angerichtet. Sie weiss, dass ein riesiger Teil der Bevölkerung sie nicht mehr unterstützt. Sollte die Partei jetzt zu öffentlichen Protesten oder gar zur Gewalt aufrufen, wäre das wohl ein Schuss ins eigene Bein.
Vorgestern haben drei Ennahda-Parlamentarierinnen die Partei verlassen. Parteipräsident Rached al-Ghannouchi ist mehr und mehr umstritten. Ennahda droht zu zerbrechen.
Die Anhänger des Präsidenten verlangen jetzt rasche Resultate. Kann er die überhaupt bringen?
Die wichtigsten Probleme sind wirtschaftlicher und gesundheitspolitischer Natur. Wirtschaftlich ist das Land hoch verschuldet. Vorgestern hat Tunesien den USA 500 Millionen Dollar Schuldgelder zurückgezahlt. Das war wichtig und vertrauensbildend. Denn wäre das nicht geschehen, hätte der Internationale Währungsfonds nichts mehr bezahlt. Dann hätte das Land sehr schnell seine finanzielle Souveränität verloren. Natürlich haben Saudi-Arabien und die Emirate dem Präsidenten finanziell geholfen, diese 500 Millionen zurückzuzahlen. Jetzt gilt es, Vertrauen zu bilden und die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Täglich sterben bis zu 200 Menschen an Corona. Die Situation in den Spitälern ist katastrophal. Es fehlt an allem. Die Leute sterben auf den Parkplätzen vor den Spitälern. Gibt es da schon Anzeichen einer Besserung?
Die internationale Solidarität ist wunderbar. Viele Staaten, auch die Schweiz, Deutschland und die USA, liefern Impfstoff und Sauerstoffflaschen. Doch es gibt viel zu tun.
Stimmt es, dass ein Ennahda-Lobbyist versuchte, die USA zu bewegen, keinen Impfstoff an Tunesien zu liefern?
Leider stimmt das. Der in den USA lebende Ennahda-Politiker und Lobbyist Radwan Masmoudi verlangte, dass man keinen Impfstoff an Tunesien verkauft. Masmoudi leitet in den USA die Stiftung „Islam und Demokratie“ und ist in Washington sehr gut vernetzt. Sein Ziel war es, in Tunesien ein sanitären Chaos anzurichten, damit der Präsident stürzt. Seine Taktik wurde bekannt und kam in Tunesien sehr schlecht an. Masmoudis schmutziges Spiel hat der Partei sehr geschadet.
Könnte es sein, dass die Beliebtheit des Präsidenten rasch verblasst, wenn er nicht schnell Ergebnisse liefert?
Er spielt mit hohem Einsatz, aber er hatte keine andere Wahl. Er schwimmt im Moment auf einer Popularitätswelle. Das muss er schnell in Resultate ummünzen. Er muss die Menschenrechte respektieren, ebenso die Meinungs- und Pressefreiheit. Und vor allem muss er jene, die ihm kritisch gesinnt sind, überzeugen, dass er keine Diktatur will sondern eine funktionierende Demokratie, die nicht von korrupten Unfähigen dominiert wird.