Die Debatte über das selbstbestimmte Lebensende wird seit Jahrzehnten heftig geführt. Bislang gehörte Deutschland zu den Ländern, die vor dem selbstbestimmten Tod vergleichsweise hohe Hürden errichtet haben. Nur in hoffnungslosen Fällen sollte ein Patient sterben dürfen, indem zum Beispiel lebensverlängernde Massnahmen abgebrochen wurden. Aber auch das war noch heikel. Im Zweifelsfall konnten Ärzte oder medizinisches Personal wegen unterlassener Hilfeleistung juristisch belangt werden.
Der Wille des Einzelnen oder seiner Angehörigen brach sich bislang an dem Tabu, das den Tod umgab: Er durfte nicht mit Absicht herbeigeführt werden. Es waren nicht nur die Kirchen, die hinter diesem Tabu standen. Auch die deutsche Geschichte lehrte, dass allzu schnell Dämme brechen, wenn menschliches Leben bewertet und bei negativem Ergebnis schlicht und einfach beendet wird.
In den letzten Jahrzehnten hat sich aber ein anderes Prinzip mehr und mehr durchgesetzt: der Wille des Einzelnen. Die damit verbundene Selbstbestimmung hat Vorrang vor religiösen oder gesellschaftlichen Normen. Juristen sprechen diesbezüglich von „Mehrheitsmeinungen“. Dagegen steht das neue Prinzip, das der der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin in unüberbietbarer Klarheit formuliert hat: „Die Selbstbestimmung ist Trumpf“ – also gerade entgegen „Mehrheitsmeinungen“.
Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht jetzt im Sinne der Autonomie gegen Mehrheitsmeinungen festgelegt, dass der Wille zur Beendigung des eigenen Lebens an keine Bedingungen geknüpft wird. Es braucht keine Gutachter mehr, die den Wunsch vor dem Hintergrund des Todestabus beurteilen und eventuell abweisen.
Damit hat das Bundesverfassungsgericht einen Damm eingerissen, den Juristen und Ethiker über Jahrzehnte verteidigt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Tod zu einer blossen Option im Rahmen der Autonomie des Einzelnen gemacht.
Wenn aber die Optionen, zu leben oder in den Tod zu gehen, im Zeichen der Autonomie gleichwertig werden, kann die Verteidigung des eigenen Rechts auf das Leben einen bitteren Beigeschmack bekommen. Denn wenn jemand nur noch Ressourcen verbraucht, ohne erkennbaren Nutzen zu stiften, kann er seine Existenz vor den Zahlenden kaum rechtfertigen. Mindert er nicht die Lebensmöglichkeiten seiner Angehörigen, die für ihn aufkommen müssten? Und auch die Kassen werden die Frage zu stellen wissen, ob er nicht einen Beitrag zur Eindämmung der Kostenexplosion leisten könnte. Er steht vor einer Beweislastumkehr: Er muss den Nutzen seines Lebens gegen den Nutzen seines Todes rechtfertigen.
1998 wurde das „sozialverträgliche Frühableben“ zum Unwort des Jahres. Der Bremer Chirurg und Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar hat diesen Begriff in einem Radiointerview verwendet. Schon damals sah er in aller Klarheit, dass ohne übergreifendes Todestabu die Kosten-Nutzen-Abwägungen in den Vordergrund treten. Nicht, dass er es beklagt hätte.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht einen schwerwiegenden Fehler gemacht, indem es so tut, als bewege sich die „Selbstbestimmung“ ausserhalb dieser Kosten-Nutzen-Kalküle.
Die Selbstbestimmung ist ein Ideal, mehr nicht. Die Lebenserfahrung lehrt, dass Abhängigkeiten weitaus machtvoller sind als die beschworene Autonomie. Der Wunsch, noch einige Zeit zu leben, wird recht bald als Altersstarrsinn denunziert werden. Wer wird noch leben wollen, wenn ihm vorgerechnet wird, wie viel mehr junge Leute an seiner Stelle mit viel grösseren Erfolgsaussichten behandelt und betreut werden könnten?
Das sind schwierige Fragen, aber ganz sicher wird es bald Apps geben, die bei der Berechnung des Lebensrestwerts helfen.