Diesmal findet sie in der Montessori-Fachoberschule unter Leitung von Lehrkräften statt, die keine ausgebildeten Historiker sind. Es ließe sich auch kritisch fragen, ob die aktuelle Dramatik für Millionen Menschen im Gefolge des Bürgerkrieges in Syrien mit ihren regionalen Weiterungen oder die Katastrophe der nach Europa übers Mittelmeer flüchtenden Afrikaner nicht die viel näher liegende schulische Aufmerksamkeit hätten finden sollen.
Unbestritten sein sollte dagegen die Legitimität der Wanderausstellung von Ingrid Rumpf aus Pfullingen für den Verein „Flüchtlingskinder im Libanon e.V.“ mit Unterstützung der „Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg“ und dem „Evangelischen Entwicklungsdienst“. Beide Vorläufer im Gasteig 2007 und im Eine-Welt-Haus ein Jahr später fanden die finanzielle Förderung der Stadt. Umso ärgerlicher kommen die publizistischen Breitseiten gegen die Schule daher, die von der Münchner Filiale der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bis zur Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde abgeschossen wurden; die Warnung Charlotte Knoblochs an die Adresse der Schulleitung, dass die Ausstellung verrate, „wes Geistes Kind“ sich dahinter verstecke, ist höchst befremdlich.
Denn mit der partiellen Geschichtsvergessenheit wird unverkennbar der israelischen Verwechslung von Aufklärung („hasbara“) und Agitation („ta’amula“) Vorschub geleistet – ohne eigenen Maßstab oder etwa doch, indem sich die Autorin als Schutzpatronin einer Politik verwendet, die sich in eine geradezu beängstigende internationale Isolierung hineinmanövriert hat? Lässt sich mit einer solchen Argumentation verhindern, dass Benjamin Netanjahu die Felle davonschwimmen? Stimmt es übrigens, dass sich die damalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland in Begleitung von Bundespräsident Christian Wulf in Bethlehem darüber echauffiert hat, niemand habe ihr etwas von den Mauern erzählt, welche die Stadt einkesseln? Und jetzt das?
Hat nicht der politisch unverdächtige Historiker Benny Morris in seiner ausführlichen Untersuchung zum Flüchtlingsproblem einige Zeit später eingeräumt, dass die israelische Regierung die Anweisung gegeben habe, im Oktober 1948 die gesamte arabische Bevölkerung aus Galiläa zu vertreiben, was – so Morris – auf andere Massaker schließen lasse? War es nicht Morris, der nach dem Ausbruch der zweiten „Intifada“ im Herbst 2000 bedauerte, dass damals nicht alle Palästinenser hinausgeworfen wurden?
Mag man der Wanderausstellung eine starke Parteinahme für die Palästinenser vorwerfen, so lassen ihre Gegner selbst, die sich ihrer fachlichen Kompetenz rühmen, jedes historische Gespür für die fragilen zeitgeschichtlichen Kontexte der Flucht und Vertreibung von bis zu 750.000 Menschen aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet und in den Monaten nach der Gründung Israels im Mai 1948 vermissen – mit den Worten eines israelischen Historikers einer „Geburt in Flammen“. Das Land wurde von bürgerkriegsähnlichen Unruhen und Zusammenstößen zwischen Juden, Arabern und Briten geschüttelt, und das ganze Ausmaß des von Deutschland ausgehenden Verbrechens an den europäischen Juden lag offen zu Tage.
Der erste Skandal
Die Verdrängung schwerster Auseinandersetzungen in Palästina, die den Eindruck der bewussten Manipulation von Geschichtskenntnissen nahelegt, ist der erste Skandal. Bemerkenswerterweise lässt die Stadt München die öffentlichen Veranstaltungen wie die „Israel“- und die „Jerusalem-Tage“ unkommentiert durchgehen, trotz der völker- und menschenrechtswidrigen Annexion Ost-Jerusalems und trotz des ungebremsten Vorgehens der israelischen Regierung in der Westbank, auf den Golanhöhen und im Gazastreifen, der seit 2005 abgeriegelt ist. Der religiös-orthodoxe Gershom Gorenberg hat bekannt, dass er „aus einem Israel mit gespaltener Seele“ schreibe. Für ihn ist Jerusalem die „Hauptstadt der Gesetzlosigkeit“. Warum weigern sich die Gegner der Ausstellung, den fundamentalen Widerspruch zwischen dem Besatzungsregime und dem Anspruch Israels als Demokratie zur Kenntnis zu nehmen?
Dazu müssten sie allerdings von ihrem hohen ideologischen Ross absteigen und die Frage beantworten, warum die internationale Diplomatie geradezu verzweifelt auf das Ende des Konflikts hinzuarbeiten sucht. Viel angenehmer erscheint es den Widersachern der Ausstellung, mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu hantieren. Es erspart nicht nur den Blick in die überaus reichhaltige israelische Literatur zum Scheitern des „Friedensprozesses“, sondern das Ausweichmanöver ist auch darauf angelegt, die gesamte israelische Friedensszene als unzuverlässig zu diskreditieren.
Es gehört zur Tragik der arabischen Bevölkerung, dass die Briten ihre Führung nach dem Großen Arabischen Aufstand seit 1936 in die Verbannung schickten und ihre Reste aus den städtischen Mittel- und Oberschichten, Angehörige der freien Berufe, Geschäftsleute und Lehrer nach dem UN-Teilungsplan vom November 1947 die ersten waren, die das Land verließen. Infolgedessen ließen es sich die Regierungen Ägyptens, Jordaniens und Syriens nicht nehmen, den Arabern Palästinas die Mitsprache bei den Entscheidungen über die Zukunft ihres Landes vorzuenthalten. Ja, sie zogen mit dem Ziel in den Krieg, die Entstehung Israels militärisch zu verhindern und sich das Territorium einzuverleiben. Bis heute sind die Palästinenser Spielball arabischer und israelischer Interessen geblieben. Die Mehrheit von ihnen fühlt sich nach wie vor als Flüchtlinge, auch wenn sie wie im Falle Jordaniens die Staatsbürgerschaft erwerben konnten.
Der UN-Teilungsplan vom November 1947
Im Gegensatz zu üblichen Vermutungen spielte in den UN-Debatten um den Teilungsplan die Shoah fast keine Rolle, nur der sowjetische Botschafter Andrej Gromyko begründete damit die Zustimmung Moskaus. Der in Tel Aviv Soziologie und Geschichte lehrende Moshe Zuckermann hat bemerkt, dass die Gründung Israels nach Auschwitz zu einer historischen Notwendigkeit wurde.
Nach Verabschiedung der Teilungsresolution begannen auf Anweisung des „Arab Higher Committee“ neue Unruhen. In ihrem Bericht vom 16. Februar 1948 informierte die eigens berufene „Commission on Palestine“ den Sicherheitsrat, dass
„sich mächtige arabische Interessen innerhalb und außerhalb Palästinas der Resolution der Vollversammlung widersetzen und offen daran mitwirken, mit Gewalt die darin enthaltende Regelung zu ändern“.
Im zweiten Bericht vom 10. April 1948 hieß es:
„Der arabische Widerstand gegen den Plan der (General-)-Versammlung hat die Gestalt organisierter Bemühungen seitens starker arabischer Elemente innerhalb und außerhalb Palästinas angenommen, die Durchführung (der Resolution) zu verhindern und ihre Ziele durch Drohungen und Akte der Gewalt einschließlich wiederholter Invasionen in das palästinensische Territorium zu hintertreiben.“
Für den in London lehrenden Historiker Avi Shlaim beliefen sich die Überlebenschancen des entstehenden Staates im günstigsten Fall auf fünfzig Prozent. Der aus Hannover gebürtige Friedensaktivist Uri Avnery erinnerte sich, dass er sich mit seinen Kameraden im Mittelteil des Frontverlaufs verzweifelt der ägyptischen Armee entgegengeworfen habe. Vom Kommandanten der Eliteeinheit „Palmach“ Yitzhak Sadeh ist, als er eine junge abgezehrte Frau erblickte, die ein deutsches Vernichtungslager überlebt hatte und auf deren Hüfte die Worte eingebrannt waren „Nur für Offiziere“, der Schwur überliefert:
„Ich umarme meine Schwester und sage ihr, dass es hier Platz für dich gibt. Hier lieben wir dich. Für mich bist du schöner als jede Schönheit, heiliger als alles Heilige... Du wirst meine Braut sein, unsere Mutter. Vor diesen meinen Schwestern knie ich nieder, und wenn ich mich erhebe, fühle und weiß ich, dass ich für diese meine Schwestern stark und mutig bin, ich werde sogar grausam sein. Für dich – alles – alles.“
In Israel, dem 56 Prozent des Territoriums Palästinas zugesprochen wurden, hätte die Bevölkerung zu 46 Prozent aus Arabern bestanden.
Der zweite Skandal
Niemand käme bei uns auf die Idee, die Geschichte Israels ohne Hinweise auf die Shoah und deren identitätsstiftende Bedeutung für seine jüdische Bevölkerung zu deuten, hat der frühere Bundestagsabgeordnete und langjährige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah Christian Sterzing im Juni 2012 bei der Eröffnung der „Nakba“-Ausstellung in Köln ausgeführt. Gleiches müsse für das Narrativ der Katastrophe für die Palästinenser gelten. Ohne die volle Würdigung beider Erzählungen durch die jeweils andere Seite wird die Verständigung beider Völker ausbleiben, obwohl sie aufgrund des gemeinsam beanspruchten Territoriums und ihrer Geschichte seit über hundert Jahren aufeinander verwiesen sind.
Bedauerlicherweise werden noch immer allzu häufig auf dem schwierigsten Feld des deutschen Selbstverständnisses nach 1945 systematisch angelegte Studien in der politischen Bildung leichtfertig vergeben. Damit bleibt das Bewusstsein einer Vorstellung verhaftet, dass Juden und Araber, Israelis und Palästinenser nicht zusammenleben können. Diese Auffassung ist der zweite Skandal, den verweigerte Lernprozesse transportieren. „Frieden, Frieden, und kein Frieden“ (Jer. 6,14).