Schon vor seinem fünfzigsten Lebensjahr hat Francisco de Goya (1746–1828) alles erreicht. Er ist Erster Hofmaler von Gnaden König Karls IV. und verfügt über profitable Beziehungen zu Adel und Klerus. Als Hecht im Madrider Karpfenteich behauptet er sich im erbarmungslosen Gerangel um Status und Aufträge. Mehr als das: Er geniesst den Ruf eines Meisters von Weltrang.
Der Meister in der Krise
Doch Mitte der 1790er-Jahre beginnen sich sein Leben und seine Kunst zu verdunkeln. Goya zieht sich allmählich von öffentlichen Stellungen zurück. Eine nicht sicher diagnostizierte Krankheit raubt ihm das Gehör. Manche Deuter bringen Goyas Lebenskrise in einen Bezug zur unglücklichen Liebschaft mit der Herzogin von Alba, die er mehrfach porträtiert hat (so Lion Feuchtwanger in seinem letzten Roman „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“).
In einer Bleivergiftung oder einer Mésaillance die Gründe der künstlerischen Wende zu suchen, führt wohl eher ins Reich der Legenden. Weniger spekulativ ist es, zur Erklärung des Umbruchs die gesellschaftlichen Realitäten und politischen Entwicklungen Spaniens am Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen.
Das Land war zu jener Zeit eine heruntergewirtschaftete einstige Grossmacht, ein rückständiges Agrarland am Rand Europas. Ein Drittel seiner Bewohner – Adel und Klerus – liess sich vom Rest aushalten. Neben dem schwachen König schossen Günstlingswirtschaft und Intrigen ins Kraut. Das Volk war ungebildet und sollte es nach dem Willen der Oberen bleiben. Jede kritische Regung oder was einer solchen ähnlich sieht wurde von der Inquisition abgewürgt. Gleichzeitig geschahen in anderen europäischen Nationen geistige, wirtschaftliche und politische Aufbrüche von revolutionären Ausmassen; Spanien jedoch verharrte in bleierner Stagnation. – Wie sollten derartige Verhältnisse einen scharfen Beobachter und hellwachen Geist wie Goya nicht in eine Krise stürzen!
Spätestens ab 1800 bekommen die bei ihm bestellten Porträts eine sarkastische Schärfe. Statt der von den Auftraggebern erwünschten Grossartigkeit zeigt Goya zunehmend schonungslos die Gewöhnlichkeit, ja Dürftigkeit der Hoheiten. Man schaue sich bloss den hohlen Prunk und die dümmlichen Gesichter auf dem Prachtgemälde „Die Familie Karls IV.“ (1800–01) an!
Künstlerische Befreiung
Etwas vor diese Zeit, vermutlich in die Jahre 1796/97, fällt die Entstehung der Caprichos, der achtzig Bätter umfassenden Serie von Radierungen mit Aquatinta. Goya betritt mit diesem Werk Neuland, und zwar gleich in dreifacher Hinsicht: Er streift erstens die Fesseln der Auftragsmalerei ab und wird zum autonomen Künstler; zweitens findet er seine Sujets nicht mehr in höfischen und kirchlichen Konventionen, sondern in der kritischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Missstände; und drittens führt er die Druckgraphik technisch und künstlerisch mit der Kombination von Radierung und Aquatinta auf ein nie dagewesenes Niveau von Virtuosität und Ausdruckskraft.
Das Capricho (oder Capriccio) ist eine vor allem in der Musik gebräuchliche Form. Als Laune, Schrulle oder Phantasie ist sie der gewollte Verstoss gegen klassische Regeln, eine freie und verspielte Ausdrucksweise, zwar mit künstlerischem Anspruch, aber ausserhalb des festen Formenkanons. Im Blick auf die Inhalte von „Los Caprichos“ erscheint diese Titelsetzung reichlich verharmlosend. Kein Wunder, denn Goya hatte vor allem wegen der Macht der Inquisition durchaus Gründe, den aufrührerischen Charakter seiner Druckgraphiken zu kaschieren.
Auf dem ersten Blatt porträtiert Goya sich selbst. Er ist vornehm gekleidet und trägt den Zylinder, das damals aufkommende Accessoire des selbstbewussten Bürgertums. Im Halbprofil ist Goyas indignierter Ausdruck erkennen. Das Titelbild der Caprichos macht eine klare Ansage: Ich, Francisco de Goya, berühmter Künstler und freier Geist, halte euch hier den Spiegel vor, in welchem ihr eure Machenschaften, Unsitten und Torheiten, eure Beschränktheit und Niedertracht zur Kenntlichkeit verzerrt vor Augen geführt bekommt.
Subversion unter der Fuchtel der Inquisition
Das Verzerren dient gleichzeitig dem Blossstellen von Missständen und dem Schutz des Künstlers. Indem er die Überzeichnung deutlich macht, nimmt er eine gewisse Narrenfreiheit in Anspruch, die durch die Konvention der Karikatur ein Stück weit gedeckt ist. Ob ihm das im Fall eines inquisitorischen Verfahrens viel geholfen hätte, erscheint allerdings fraglich. Nicht zufällig lässt sich der Verkauf der 1799 aufgelegten dreihundert Exemplare äusserst zögerlich an. Ganze 27 Serien finden ihre Käufer. Für die meisten Kunstfreunde sind die aufrührerischen Graphiken anscheinend allzu heisse Ware.
Die Caprichos nehmen alle Stände und Schichten aufs Korn. Viele der achtzig Blätter prangern Unmündigkeit und Aberglauben des Volkes an. Es gibt in diesem Gesellschaftspanorama weder idealisierte Leitbilder noch einen unverdorbenen Naturzustand. Den Frauen gilt Goyas besondere Aufmerksamkeit. Er zeigt sie als gekaufte Bräute, als Geschundene (unverheiratete Schwangere wurden ins Gefängnis geworfen), als in unglücklicher Ehe an einen Mann Gekettete. Doch er sieht sie nicht durchwegs als Opfer. Als Prostituierte rupfen sie die Männer wie Federvieh und jagen die Ausgeplünderten von dannen. Als Hexen sind sie mächtig und durchaus subversiv.
Geschlechtertypen sind für Goya nicht in Stein gemeisselt. So verschieben sich die Rollen in vielschichtiger Art auf Blatt 9 „Tántalo“: Der gegen die Götter frevelnde König Tantalos wird in der griechischen Mythologie in einer Weise bestraft, dass er zur sprichwörtlichen Verkörperung des unerfüllbaren Begehrens wird. Im Capricho 9 ist Tántalo der alte impotente Mann, der die erstorbene Sinnlichkeit der schönen jungen Frau nicht zu wecken vermag. Männliches Erobern fällt flach, dem Tántalo bleibt nur das weibische Jammern. Eine zusätzliche Rollenumkehr liegt in der deutlichen ikonographischen Anlehnung ans Motiv der Pietà, bei dem die trauernde Maria den toten Christus auf dem Schoss hält.
Die Caprichos sind durchsetzt mit Referenzen zu Bildtypologien der abendländischen Tradition, aber auch zu volkstümlichen Motiven wie jenem der verkehrten Welt. Da tragen Menschen die Stühle auf dem Kopf oder die Esel reiten auf den Menschen – bildstarke Sarkasmen über das Verkehrte, das Goya mit seinen Radierungen blossstellt.
Aufklärung und ihre Nachtseite
Thematisch ist der Bogen weit gespannt. Vor allem in der ersten Hälfte der Serie geht es um Missstände im Alltag, Erniedrigung und Ausnützung des Volks, menschliche Bosheit und Grausamkeit. Im zweiten Teil finden sich vermehrt skurrile, oft surreale Motive, die auf gesellschaftliche Verhältnisse oder philosophische Sichtweisen Bezug nehmen: Es geht um die Ausnützung des leichtgläubigen Volks durch den Klerus, um die Verdummung durch Gerüchte und die Einschüchterung durch Spitzel. Blatt 75 prangert das Verbot der Ehescheidung an, und Nummer 69 deutet gar auf den Horror von Kindsmissbrauch in religiösen Milieus hin.
In der Mitte der Serie befindet sich das berühmteste Blatt mit dem ins Bild integrierten Titel „El sueño de la razon produce monstruos“. Über dem am Tisch eingeschlafenen Mann schwirrt unheimliches Nachtgetier. Die übliche Übersetzung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ drückt den Umstand aus, die Vernunft entspreche lediglich dem Wachzustand des Menschen und habe somit keine Macht über den Schlaf, beziehungsweise das Unbewusste. Im übertragenen Sinn meint diese Lesart aber auch, jedes Nachlassen der Aufklärung überlasse das Terrain den Ungeheuern des Obskurantismus.
Da „sueño“ sich auch mit „Traum“ übersetzen lässt, kann der Titel auch anders gelesen werden: Es ist gerade der Traum der Vernunft – im Sinne von: die Illusion einer vollständig vernunftgeleiteten Existenz –, welcher nur um so mehr die Monster aufflattern lässt. Die unterschiedlichen Lesarten passen alle zur Weltsicht der „schwarzen Romantik“, die im späten 18. Jahrhundert als Nachtseite der Aufklärung eine starke Faszination ausübte.
Goya hat dieses Capricho 43 ursprünglich als Titelblatt vorgesehen. Dies lässt darauf schliessen, dass es sich auch bei dem darauf dargestellten Schläfer um ein Selbstporträt handelt – hier nicht im Sinn einer physiognomischen Eigendarstellung, sondern als Illustration seiner geistigen Situation. Mit diesem Hintergrund bekommt das ikonische Blatt eine zusätzliche Brisanz: Goya versteht sich als aufgeklärter Mensch, der von den Monstern der Verdunkelung heimgesucht wird.
Symbolische Revolution
Das Museum Oskar Reinhart in Winterthur besitzt nicht nur einen 1799er Erstdruck von „Los Caprichos“, sondern auch Erstdrucke der beiden anderen druckgraphischen Zyklen Goyas, „Desastres de la Guerra“ (1810–14, Erstdruck 1863) und „La Tauromaquia“ (1814–16, Erstdruck 1816). Die Caprichos sind in Winterthur zurzeit vollständig, die beiden anderen Serien je mit einer Auswahl von acht Blättern zu sehen.
Die „Desastres“ sind die erste Kriegsdarstellung der Kunstgeschichte, die völlig frei ist von Heroismus und Propaganda. Drastisch schildert sie die Schrecken der napoleonischen Kriege und das Leiden der Opfer. Goyas Graphiken kennen keine historische Sinngebung, ja noch nicht einmal eine Parteinahme. Sie zeigen die Gräuel beider Seiten ungeschminkt und brandmarken den Klerus als Kriegstreiber. Es verwundert kaum, dass der Zyklus erst lange nach Goyas Tod gedruckt wurde.
„La Tauromaquia“ hält zum einen Szenen aus Stierkämpfen fest, wie sie tatsächlich stattgefunden haben. Darüber hinaus sind die Blätter Sinnbilder des Daseinskampfs und verschlüsselte politische Statements. Goya hat im Stier die Verkörperung des einfachen Volks gesehen. Wenn er die Serie mit einem Bild enden lässt, das einen über den Torero obsiegenden Stier zeigt, so wird man daraus ein politisches Bekenntnis ablesen können. Es holt die in Spanien ausgebliebene Revolution symbolisch nach.
Goya – Meister der Druckgraphik, Museum Oskar Reinhart, Winterthur, noch bis 30. Juli 2017