Hedy und Arthur Hahnloser spielten im frühen 20. Jahrhundert als Förderer damals avantgardistischer Malerei eine eminente Rolle. Sie haben grossen Anteil daran, dass Winterthur zur Kunststadt von Weltgeltung wurde. Nun sind ihre Schätze in die Villa Flora zurückgekehrt.
Das Haus war ursprünglich Familiensitz der Bühlers, einer Textilindustriellenfamilie. Seit bald zweihundert Jahren steht es an der Tösstalstrasse etwas ausserhalb des historischen Kerns von Winterthur. Es ist ein grossbürgerliches, aber durchaus nicht mondänes Anwesen. Hier zogen die frischvermählten Hedy Hahnloser-Bühler (1873–1952) und Arthur Hahnloser (1870–1936), ein Augenarzt, kurz vor der Jahrhundertwende ein. Ein Teil der Villa diente zunächst als Praxis und Klinik, die übrigen Räume als Privatwohnung.
Nachdem 1907 die Augenklinik in ein neu eröffnetes Privatspital verlegt werden konnte, verschafften die freiwerdenden Räume dem Paar die Möglichkeit, ihrer gemeinsamen Leidenschaft nun mit vollem Einsatz zu frönen: aktuelle Kunst sammeln, ein offenes Haus für Künstler und Kunstbegeisterte führen, der heftig umstrittenen zeitgenössischen Kunst Wege in die Öffentlichkeit bahnen.
Wie hoch die Wogen gingen im Streit um heute als kanonisch geltende Kunst, kann man sich kaum mehr vorstellen. Und es war nicht allein das kunstfremde Publikum, das sich über van Gogh, Manet, Cézanne, die Impressionisten, Hodler, Vallotton und andere echauffierte. Auch in Fachkreisen der Kunstwelt tobten epische Kämpfe.
Das 19. Jahrhundert hatte durch die Akademisierung künstlerischer Schulung ein strenges Korsett von Normen hervorgebracht, das die europäische Kunstpraxis regierte und den Publikumsgeschmack nachhaltig prägte. Bildwerke mussten demnach formal in altmeisterlicher Manier naturalistisch ausgeführt und in ihrem Gehalt würdevoll und erhaben sein. Was diesen Anforderungen nicht genügte, war keine Kunst – Punkt.
Erst vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Ahnung, als wie ungeheuerlich die Bilder etwa eines van Gogh empfunden werden konnten: Da tritt plötzlich der Pinselstrich als Bildelement in Erscheinung. Farben und Formen erlangen ein Eigenleben! Die Leinwand erzeugt nicht mehr die Illusion des räumlichen Blicks, sondern ist als bemalte Fläche aufgefasst! Und jeder Teil des Bildrechtecks hat die gleiche Wichtigkeit, es gibt keine Hierarchien der Bildzonen mehr!
Das Ehepaar Hahnloser und mit ihnen auch Hedys Cousin Richard Bühler brannten für die damals revolutionäre Kunst. Sie pflegten Beziehungen zu Malern, die künstlerisches Neuland erschlossen: zuerst zu den Schweizern Ferdinand Hodler und Giovanni Giacometti, dann – meist vermittelt durch den in Paris wirkenden Winterthurer Maler Carl Montag – zur vibrierenden Pariser Kunstszene des frühen 20. Jahrhunderts mit Pierre Bonnard, Édouard Vuillard, Odilon Redon, Henri Charles Manguin, Henri Matisse und etlichen weiteren.
Von besonderer Bedeutung für die Hahnlosers war die Freundschaft mit Félix Vallotton. Er ist in ihrer Sammlung mit zahlreichen Spitzenwerken vertreten, und Hedy verfasste nicht nur ein Standardwerk über ihn, sondern setzte sich auch gegen vehemente Widerstände für die fachliche und öffentliche Anerkennung seiner Bilder ein.
In einer späteren Phase, als eine Erbschaft dem Ehepaar die Mittel in die Hand gab, auch die bereits teuer gewordene Avantgarde des späten 19. Jahrhunderts in die Sammlung einzubeziehen, gelangten Werke van Goghs, Cézannes, Manets, Monets und Toulouse-Lautrecs in die Flora. Es ging den Sammlern darum, auch die Wegbereiter der aktuellen französischen Moderne mit im Blick zu haben und sich intensiv mit den kunsthistorischen Bezügen zu beschäftigen.
Überhaupt waren sie nicht am blossen Genuss interessiert, es ging ihnen nicht um die ästhetische Ausstattung ihres Hauses. Hedy und Arthur Hahnloser wollten in die Öffentlichkeit hineinwirken. Bereits ab 1905 traf sich in der Flora jeden Dienstagnachmittag ein handverlesener Kreis, um beim «Revolutionskaffee» über die in der Öffentlichkeit übel beleumdete moderne Malerei zu diskutieren. Man verfolgte das Ziel, dieser Kunst zu Beachtung, Verständnis und Anerkennung zu verhelfen.
Schon bald wurden die kunstpolitischen Bestrebungen des verschworenen Kreises sehr konkret. Der angestrebten Öffnung des Kunstbetriebs stand der von einem Altherren-Vorstand in kulturpolitischen Tiefschlaf versetzte Winterthurer Kunstverein im Weg. Deshalb leiteten Hedy Hahnloser und Richard Bühler eine Palastrevolution in die Wege. 1907 gelang der Coup: Dank sechs Rücktritten und der Wahl von Richard Bühler und Arthur Hahnloser sowie vier weiteren jüngeren Männern hatten auf einen Schlag die Neuerer das Sagen.
Hedy, obwohl nebst ihrem Cousin die wichtigste Impulsgeberin, war nicht dabei. Frauen waren im Kunstverein nicht wählbar. Einmal mehr – sie hatte schon nicht studieren dürfen – wurde ihr ein Platz im Hintergrund zugewiesen. Um sich dagegen aufzulehnen, war sie zu sehr in ihrer grossbürgerlichen Welt gefangen. Doch auch so wusste sie sich Einfluss zu verschaffen. So wird sie von aussen dazu beigetragen haben, dass der Vorstand des Kunstvereins sich unverzüglich an die Planung eines Kunstmuseums machte.
Und in der Tat nahm das «Wunder von Winterthur» schon bald Gestalt an. Die damalige Kleinstadt mit ihren nur gerade 45’000 Einwohnern schaffte dank massiver mäzenatischer Engagements die Errichtung eines repräsentativen Museumsgebäudes, das in der Schweiz bis heute keinen Vergleich scheuen muss. 1916, mitten im grossen Krieg, wurde das Haus eröffnet, gewissermassen als eine Frucht der Villa Flora.
Arthur Hahnloser starb früh, Hedy lebte bis 1952. In den gemeinsamen Jahren hatte das Ehepaar weit über tausend Werke angekauft – eine Pionierleistung von erstaunlichem Ausmass und grösster Qualität. Die Nachkommen hüteten Villa und Sammlung und machten Interessierten beides zugänglich. 1980 entstand zur Sicherung der Sammlung die Hahnloser/Jaeggli Stiftung.
Ab 1995 ermöglichte ein Freundeskreis in der Villa Flora einen Museumsbetrieb. Dieser wurde 2014 eingestellt, da die Stadt Winterthur ihre Subventionen stoppte. Es fehlte ein Museumskonzept für die damals fünf städtisch unterstützten Kunsteinrichtungen. Die Flora wurde geschlossen, ihre Bilder gingen europaweit auf eine gefeierte Tournée.
Ein erster Schritt der Neuordnung des Winterthurer Museumswesens war die Überführung der Niederländerkollektion Briner und des Miniaturenkabinetts Kern ins Haus Reinhart am Stadtgarten. Bei den weiteren Diskussionen um das politisch geforderte Museumskonzept blieb lange umstritten, was mit der Villa Flora geschehen solle.
Schliesslich setzte sich das Drei-Häuser-Modell durch, welches das Kunstmuseum, das Reinhart-Museum am Stadtgarten und die Villa Flora institutionell und betrieblich zusammenführt. Nachdem diese Formel in der Zeit der Flora-Schliessung unter der Leitung von Direktor Konrad Bitterli im Zwei-Häuser-Betrieb erfolgreich erprobt wurde, kommt das beschlossene Konzept mit Erneuerung und Wiedereröffnung der Flora nun voll zum Tragen.
Ausstellungsmässig richtig losgehen wird es mit der integrierten Führung der drei Häuser aber erst nächstes Jahr. Bis dahin dauert in der Flora die Eröffnungsveranstaltung «Bienvenue! – Meisterwerke von Cézanne, van Gogh und Manet zurück in Winterthur», mit der die Wiedereröffnung des kleinsten der drei Häuser und die Heimkehr der Sammlung ausgiebig gefeiert wird.
Danach will Bitterli nicht nur die Bestände der Hahnloser/Jaeggli Stiftung in allen drei Häusern für deren Ausstellungsprojekte nutzen, sondern auch in der Villa Flora Begegnungen von deren «eigener» Kunst mit zeitgenössischen Positionen ermöglichen. Interessant dürfte auch der ambitionierte Einbezug digitaler Instrumentarien werden. Der Kurator David Schmidhauser hat nicht nur eine instruktive Website über die Villa Flora aufgebaut, er wagt in dem kleinen Museum auch erste Experimente mit Augmented Reality.
Mit dem jetzt realisierten Drei-Häuser-Konzept verfügt das Kunstmuseum Winterthur über Werke des niederländischen Golden Age des 17. Jahrhunderts, ferner eine breite Palette von Kunst aus der Schweiz und dem deutschsprachigen Raum vom 18. bis 20. Jahrhundert. Ausserdem sind da eine grossartige Sammlung französischer Malerei am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und nicht zuletzt Zeugnisse der italienischen Arte povera und der amerikanischen Minimal Art sowie ein breites Spektrum von Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.
Diese und etliche weitere Bestände bilden einen reichen Fundus an hochwertigem Material, aus dem das Kunstmuseum Winterthur in seinen nunmehr drei Häusern spannende Ausstellungen bestücken wird. Zudem kann das Kunstmuseum Winterthur dank Ausleihe an andere Institutionen im Gegenzug auch leichter deren Schätze für eigene Veranstaltungen akquirieren.
Die bei Kunstinteressierten seit jeher für ihre einzigartige Verbindung von familiärer Intimität und grosser Kunstwelt geliebte Atmosphäre der Villa Flora ist glücklicherweise erhalten geblieben. Die technischen und baulichen Eingriffe sind fast unsichtbar, die historische Ausstattung ist bis ins Detail weitgehend erhalten geblieben. Als manifeste Neuerung ist ein kleiner Pavillon angebaut worden, der auch den zur Seite verlegten Eingang aufnimmt. Die Architektin Anna Jessen vom Basler Büro Jessen Vollenweider hat die Villa samt ihrem zauberhaften Garten als Gesamtkunstwerk respektiert und behutsam für den Museumsbetrieb fit gemacht.
Was das mit der Flora vervollständigte Drei-Häuser-Konzept an Potenzialen birgt, veranschaulicht ein neuer Kunstband, den die Kuratorin Andrea Lutz betreut hat. Sie spricht augenzwinkernd von einem Coffeetable-Book, und in der Tat eignet sich der Wälzer zum neugierigen und genussvollen Blättern. Zugleich gibt er Auskunft über Entstehung und Eigenheiten der drei Häuser.
Kunstmuseum Winterthur: Bienvenue! Meisterwerke von Cézanne, van Gogh und Manet zurück in Winterthur
Villa Flora, bis 5. Januar 2025
kuratiert von Konrad Bitterli, Andrea Lutz, David Schmidhauser