Auch vier Monate später ist die Frage nicht beantwortet: War der Bundesrat aus verfassungsrechtlicher Sicht überhaupt ermächtigt, die laufenden Verhandlungen mit der EU zu einem wünschbaren Rahmenabkommen einfach so aufzukündigen? War dies eine «planlose Kapitulation», wie eine «erschütterte» Tiana Moser (GLP) im «Tages-Anzeiger» meinte? Wie ist so etwas in der direktdemokratischen Schweiz ohne Mitbestimmung des Parlaments/Volks überhaupt möglich?
Ein grosser Fehler
Wie immer – seit dem 6. Dezember 1992 – ist die Schweiz zweigeteilt. Damals ging es um den EWR-Beitritt der Schweiz (hauchdünn abgelehnt mit 50,2% der Stimmen). Während die SVP heute wie damals frohlockt (heute über den abrupten Übungsabbruch), reagiert die SP jetzt völlig übertrieben mit der Forderung nach dem Beitritt der Schweiz zur EU.
Wer mit Höhenfeuern in allen 26 Kantonen die Beerdigung des Rahmenabkommens zelebriert (in Morschach waren Christoph Blocher, Marco Chiesa und Roger Köppel die Redner), hat die zukünftige Rolle der Schweiz im 21. Jahrhundert nicht begriffen. Wie gewohnt wurden die ewig gleichen Fabelreden gehalten, etwa vom «sich fremden Richtern unterwerfen» oder vom Souveränitätsverlust. Und wie schon gehabt, liess sich Blocher von über hundert Treichlern und Fahnenschwingern begleiten.
Die linken Genossen sehen das natürlich ganz anders und zünden gleich den EU-Turbo. Sie wollen jetzt den Bundesrat zu EU-Beitrittsverhandlungen zwingen, was wohl noch weniger Begeisterung im Volk auslösen dürfte.
Beide Parteien fokussieren bereits auf die nächsten Wahlen und haben zuletzt bei eidgenössischen Abstimmungen nicht immer brilliert. Sie erhoffen sich dringend nötigen Zulauf durch parteipolitisch motiviertes «Zünseln». Einer Lösungsfindung – von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen – im Sinne der «Zukunft der Schweiz in Kooperation mit Europa» dienen solche Störmanöver nicht. Sie sind vielmehr Teil des Scherbenhaufens.
«Durchwursteln»
Thomas Maissen, Professor, Historiker, bekannt für seine Standardwerke zur Geschichte der Schweiz, nimmt im «Tages-Anzeiger» kein Blatt vor den Mund. Als «feig, mutlos und grossen Fehler» bezeichnet er den Abbruch der Rahmenabkommen-Verhandlungen. Dass sich der Bundesrat durch die innenpolitischen Widerstände entmutigen liess und die Flucht nach hinten antrat, ist wahrlich kein Renommierstück. Wir werden wohl nie wissen, was wirklich der Grund war. Angst? Das wäre fatal. Verzagtheit? Schon eher. Verunsicherung? Wäre bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Strategie? Eine solche ist nicht sichtbar.
Es gehört wohl zum Inventar der eidgenössischen Reform-Baustellen, dass wir auch in dieser Frage einfach nicht weiterkommen. «Im Zweifelsfall weiter wie bisher» scheint eine stärkere Motivation, als «in einer globalisierten Welt Kooperation mit seinen Freunden» zu wagen. Und so wurstelt man halt weiter. Nachdem die EU begonnen hat, diesen Entscheid mit Sticheleien zu quittieren (darauf komme ich weiter unten zurück), werden bereits Stimmen aus dem Lager der Gegner laut, die von Erpressung reden. Die Stimmen, die beim Rahmenvertrag permanent vor einem Souveränitätsverlust warnen (als wären unsere Nachbarn keine rechtsstaatlich organisierten Länder), unterschätzen das Schweizer Stimmvolk gewaltig. Strategische Kooperationen einzugehen ist im 21. Jahrhundert in der Wirtschaft ein Schlüssel zum Erfolg – in diese Richtung muss sich auch die politische Schweiz bewegen. Bürgerinnen und Bürger dürften mehrheitlich für eine solche Strategie zu haben sein. Die Rolle des fünften Rads am Wagen gefällt uns nicht.
Unser konservatives Verständnis von Souveränität
«In der Schweiz hat man ein sehr konservatives, nationales Verständnis von Souveränität, das auf Selbstbestimmung, Autonomie und teilweise gar Autarkie gerichtet ist. Jede internationale Verpflichtung wird als Verlust von Souveränität betrachtet …» Solchermassen äussern sich der Europa- und Wirtschaftsvölkerrechtler Thomas Cottier und der Historiker André Holenstein in der NZZ. Sie vergleichen die grossartige Erfahrung in kooperativer Souveränität im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. Und folgerichtig fragen sie, inwiefern diese Multi-Level-Governance angesichts der grossen geopolitischen Herausforderungen schrittweise auf die europäische Ebene ausgedehnt werden sollte.
Beide ausgewiesenen Schweiz- und Europa-Kenner zeigen mit einleuchtenden Beispielen den bisherigen Weg der Schweiz in Europa auf. Am Wiener Kongress 1815 haben zum Beispiel die Grossmächte darüber entschieden, wie es mit unserem Land weitergehen sollte. Wir erhielten damals bekanntlich neue Landesgrenzen und die Neutralität zugesichert. An jene Kreise, die heute mit dem Souveränitätsverlust der Schweiz argumentieren, richten sie folgende Botschaft: «Wenn eure Vorfahren auf diesem Standpunkt beharrt hätten, wäre die Schweiz, die ihr bewahren wollt, gar nie entstanden.»
Schweizerisches Souveränitätsmanko
Volkssouveränität wird oft wissentlich falsch interpretiert. Wir verstehen eigentlich darunter, dass eine Nation ihr Zusammenleben autonom bestimmen kann. Doch Hand aufs Herz: Ist das Unvermögen unseres National- und Ständerats, längst überfällige Reformen zu realisieren (was zugegebenermassen durch eidgenössische Abstimmungen nicht erleichtert wird), etwas anderes als ein Schwächezeichen, ein helvetischer Souveränitätsverlust? Der Politologe Michael Hermann schreibt dazu im «Tages-Anzeiger»: «In entscheidenden Momenten fehlt uns heute die Handlungsfähigkeit.»
Zum besseren Verständnis: Wer ab und zu über unsere Grenzen guckt (statt aufs Rütli), realisiert, dass zum Beispiel Dänemark und Schweden sehr individuelle und eigenständige, nationale Corona-Strategien entwickelt haben. Mit anderen Worten: Beide Länder handelten sehr souverän – beide Länder sind EU-Vollmitglieder.
«Nadelstiche» und Strafaktionen der EU
Offensichtlich ist man in Brüssel auch nicht glücklich über die Verhandlungsentwicklung. Doch wenn der Bundesrat in der Unnachgiebigkeit der EU den Hauptgrund des Scheiterns der Verhandlungen sieht, ist das ein Ablenkungsmanöver. Wie anders als stur kann man die Forderungen der Schweiz denn nennen? Vergessen wir nicht, dass die Schweiz auf gute Beziehungen zur EU angewiesen ist, denn unser Export geht zu knapp 50 Prozent dorthin. Wir möchten dazugehören, aber wir wollen die dortigen Regeln nicht akzeptieren. Übrigens wurde der Nutzen dieses Binnenmarktes von der Bertelsmann-Stiftung untersucht: Diese kam zum Schluss, dass «in keiner Region in Europa die Einwohner pro Kopf so stark von dem grossen Markt profitieren wie in – Zürich» (NZZ).
Nun hat Mitte Juli die EU-Kommission die Schweiz vom wichtigen Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen. Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats, kommentiert die Entwicklung als beunruhigend und beklagt den Kollateralschaden dieser politischen Kaltfront. «Die Innovationskraft des gesamten Schweizer Forschungsplatzes hängt wesentlich vom Zugang zum Horizon-Programm ab. Die Attraktivität der ETH Zürich ist gefährdet» («Tages-Anzeiger»). Das sollte uns zu denken geben.
Auch Martin Vetterli, Präsident der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) schlägt Alarm. Als Folge der Kündigung des Rahmenabkommens durch den Bundesrat hat also die EU die Schweiz aus «Horizon» ausgeschlossen. «Die Schweizer Wirtschaft und damit unser Wohlergehen sind direkt bedroht», warnt er. Nicht nur verliert die EPFL die Koordination von sechs europäischen Projekten, auch die Gründung von Start-ups und Spinoffs (500 Stellen an der EPFL werden durch europäische Projekte finanziert) ist betroffen – «Ziel der Forschung ist es, Innovationen hervorzubringen und Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung zu schaffen», erklärt er im «Blick».
Anfang August 2021 hat die EU noch einen draufgesetzt: Nicht nur der Zugang zu Stipendien wurde der Schweiz gekappt, jetzt wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Grossprojekten entmachtet. Domenico Giardini, Seismologe an der ETH Zürich, ist beunruhigt. Er ist, zusammen mit seinen ausländischen Kollegen, an der Entwicklung eines präzisen digitalen Modells für die Erdbebengefahr in Europa. Er befürchtet eine schleichende Erosion des Schweizer Forschungsplatzes. Auch Stefano Maffei, ein Physiker an der ETH Zürich, «hat langsam genug davon»: «Es tut mir weh, zu sehen, wie unsere Entscheide in Richtung Isolation führen», meint er im «Tages-Anzeiger». Nicht gesagt hat er, wen er mit «unsere Entscheide» meinte: den Bundesrat.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die EU die Schweiz inzwischen auch von anderen Kooperationsprojekten ausgeschlossen hat respektive auszuschliessen droht: Börsenäquivalenz (Anerkennungsverweigerung der Schweizer Börse als gleichwertiger Handelsplatz), Eudamed (Nutzungsverweigerung der EU-Datenbank für Problemmeldungen mit Medtech-Produkten), Swissgrid (die EU droht, die Schweiz von der Nutzung europäischer Stromhandelspattformen auszuschliessen) («NZZ am Sonntag»).
Nochmals: Die EU ist nicht glücklich über den Verhandlungsabbruch. Viele Schweizerinnen und Schweizer sind es auch nicht. Wenn jetzt erste Konsequenzen sichtbar werden, wen überraschts? Jene Stimmen, die lautstark verkündeten, die EU würde sich hüten, uns zu «bestrafen», sind bereits sehr kleinlaut geworden.
Schon zeichnet sich ab: Schweizer Exporteure können ihre Produkte nur noch mit grösserem Aufwand in die EU liefern. Bereits ist von Jobverlagerungen die Rede. Aus der EU kommen Stimmen, die den besten Wissenschaftlern an unseren Hochschulen nahelegen, den Arbeitsort zu wechseln. Das oben besprochene Horizon-Programm ist der bisherige Höhepunkt der Negativspirale. Müssen wir mit einer schleichenden Erosion des Forschungsplatzes Schweiz rechnen?
Wie weiter?
Es wäre wohl keine schlechte Idee, wenn die Schweiz schon mal – zum Zeichen der Entspannung – die längst zugesagte Kohäsionsmilliarde überweisen würde. Dazu müsste das Parlament über den eigenen Schatten springen. Es würde sich damit aber nicht unglaubwürdig machen, wie ein SVP-Vertreter im Nationalrat warnte. Es würde ein Versprechen einlösen und demonstrieren, dass es die Zukunft in Verhandlungen und Kooperationen sieht und nicht im Kampf gegen Andersdenkende.
Die Schweiz hat offensichtlich noch keinen Plan B (oder besser: Plan C, Plan D, Plan E). Was der Bundesrat dazu verlauten liess, bewertet der oben erwähnte Thomas Cottier als «kolossales Eigentor». Er bezeichnet die Idee, die institutionelle Zusammenarbeit abzulehnen mit dem Resultat, dass noch mehr EU-Recht ohne Mitsprache übernommen würde als bisher – ohne damit den Marktzugang in die EU sichern zu können», als «Regierungsversagen» («Tages-Anzeiger»).
Auch die EU ist gespalten
Wer dafür plädiert, weiter mit der EU zu verhandeln und dabei ernsthaft Kooperationsmodelle anstrebt, ist noch lange kein Befürworter eines EU-Beitritts der Schweiz («Euro-Turbo»). Denn auch unter den EU-Mitgliedsländern tobt seit Jahren ein Kampf der «Vertiefer» gegen die «Skeptiker». Erstere wollen EU-Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht immer weiter ausbauen und so nationales Recht marginalisieren. Wem das nicht passt, kann ja gehen, scheinen Brüssels Theoretiker zu denken. Also gingen die Briten …
Daneben gibt es die EU-Mitgliedsländer, die sich über EU-Beschlüsse schlicht hinwegsetzen, weil sie damit nicht einverstanden sind. Diese Länder an die Kandare zu nehmen, scheint schwierig, wie das Beispiel Ungarn zeigt. Die Androhung eines Stopps der Euro-Gelder-Überweisung von Brüssel nach Budapest – würde dieses Mittel dereinst angewendet – könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben.
Unser Parlament ist im Zugzwang. Eine Lösung für die Schweiz zu finden ist schwierig. Dessen ungeachtet schliesst ein Übungsabbruch eine Lösung aus. Statt des Vorprellens jeder Partei mit eigenen Ideen ist ein kooperatives Zusammengehen aller Befürworter eines Abkommens mit der EU gefragter denn je. Wir wollen nicht zur Insel in Europa werden, in Zeiten, da immer mehr Inseln infolge steigender Meeresspiegel unterzugehen drohen.