Es sind neuere und neueste Arbeiten, die Cécile Wick unter dem Motto «Canto oscuro» im Kunstzeughaus Rapperswil am oberen Zürichsee ausstellt. Die grosszügig präsentierte Schau umfasst Tuschezeichnungen, Videos und vor allem Fotografien. Ebenso wie als Malerin figuriert Cécile Wick in der Schweizer Kunstszene als anerkannte Fotografin. Die Künstlerin selbst spricht allerdings von fotografischen Bildern und nicht von Fotografien. Das ist in diesem Fall keine Spitzfindigkeit, denn das Fotografieren ist bei ihr stets nur eine Station im komplizierten Prozess der visuellen und technischen Kreation.
Unbeteiligt-beteiligtes Schauen
Zur Synchronisierung des aus dem geschäftigen Alltag eintretenden Betrachters mit Cécile Wicks langsamen Bildern eignen sich die Videos. Der grossformatig und tonlos projizierte Zehnminuten-Loop mit einer ereignisarmen Parkszene lässt mit seinem unverwandten Kamerablick Zeit und Raum, um über das unbeteiligt-beteiligte Schauen ins Sinnieren zu kommen.
Da brechen Mikro-Handlungen ab, bevor sie zu Geschichten werden. Da stellt sich der als Nicht-Ort gekennzeichnete Bildraum allen Bedeutungen in den Weg, indem er sich vor möglichen, aber meist verdeckten oder ausserhalb der Cadrage liegenden Geschehnissen breitmacht. Mit der nötigen Musse kann man sich als irritierter Betrachter selbst beobachten und sich beim Ausfüllen des semantischen Leerraums auf die Schliche kommen. Was nicht lediglich vorhanden, sondern augenscheinlich zum Betrachten da ist, können wir nicht anders als mit einer Bedeutungs- und Sinnerwartung sehen. Entsprechend tragen wir unwillkürlich «Inhalte» in die Wahrnehmung ein.
Subtiler als dieses in seiner Machart nicht ganz neuartige und etwas didaktische Stück ist ein Video auf kleinem Wandmonitor, das sich als Bild neben Bildern präsentiert. Die verregnete Szenerie eines Bergsees unterscheidet sich prima vista kaum von einer hinterleuchteten Fotografie – bis man die Einschläge der Tropfen auf dem Wasser, das fast unmerkliche Ziehen der Nebelschleier und das leise abgespielte Umgebungsgeräusch gewahr wird.
Hätte man auch auf einer Fotografie sogleich nach Menschen oder Spuren ihres Vorhandenseins gesucht? Bei der schwachen Kontur eines Wegs im Mittelgrund wird man fündig. Und auf dem grünen Bergrücken jenseits des Sees ist knapp die Stütze eines Skilifts auszumachen. Das ist alles; niemand da. So könnte die Welt nach dem Verschwinden der Menschen aussehen. Nur gäbe es dann keine Aufnahme und keine Betrachter. Gibt es Bilder, wenn kein Mensch sie sieht? Welchen Anteil hat der Betrachter an der Bedeutung, ja nur schon der Existenz von Bildern?
Ästhetische Valenzen des Materials
Mit Pinsel, Tusche und Japanpapier pflegt Cécile Wick eine von Kalligraphie und minimalistischer Malerei fernöstlich inspirierte persönliche Bild-Handschrift. Sind die Videos Erkundungen des Wahrnehmungsvorgangs, so sind die Tuschezeichnungen Etüden der malerischen Gesten und ihrer Materialisierungen. So entstehen Blätter mit mal abstrakten, mal an Landschaften oder Pflanzen angenäherten Formen, die einen harmonisch und ruhend, andere vibrierend vor Energie.
Die vom Pinsel fliessend aufgetragene, beim Versiegen gebürstete und an Rändern ausfasernde Tusche zeigt auf dem Blatt nicht nur die komponierten Formen, sondern auch den Malvorgang mit seiner Dynamik und seinem Zögern. Zudem bilden sich im Kleinen zufällige Strukturen von Fluss und Absorption der Farbe. Wo die Tusche aufs Papier tropfte, haben sich an den Rändern der Farbkleckse fraktale Formen gebildet. Man würde die Feinheiten gerne auch mit einer Lupe betrachten. Die Materialien wirken mit beim schöpferischen Prozess. Bildnerisches Werken entlockt ihnen ästhetische Valenzen, die den Blättern zusätzliche Dimensionen des Ausdrucks verleihen.
Experimente mit fotografischen Verfahren
Folgt man dem hier gewählten Gang durch die Ausstellung, so könnte es fast scheinen, als seien die grossformatigen fotografischen Bilder Synthesen, in denen die künstlerischen Ideen, die in den Videos und den Tuschezeichnungen stecken, zusammenfinden. Jedenfalls zeigt sich in diesen Arbeiten ein hoch reflektierter Umgang mit visueller Gestaltung und Wahrnehmung. Cécile Wick hat bei ihren fotografischen Arbeiten die technisch bedingte Ästhetik der gängigen Abbildungsverfahren – und damit die Bildsprache von Massenmedien und Konsumwelt – nie tel quel übernommen.
Sie hat ausgiebig experimentiert mit der Ur- oder Vorform der Fotografie, der Camera obscura. Ist schon die Momentaufnahme oder der «Schnappschuss» der menschlichen Wahrnehmung fremd, so erzeugen die extremen Belichtungszeiten der Camera obscura einen noch ungewohnteren Blick. Dieser filtert Rasches aus, löscht Einzelheiten, verschleiert Individuelles; ungekehrt hebt er Typisches hervor, unterstreicht den Bildaufbau, akzentuiert das Helldunkel.
Solche verfremdenden Merkmale prägen auch Cécile Wicks neue fotografische Bilder, die sie als Inkjetprints mit lichtechten Tinten auf Hahnemühlepapier (ein schweres, speziell für digitale Fotografie auf höchstem Anspruchsniveau entwickeltes Trägermaterial) als grossformatige Unikate zeigt.
Die fotografischen Bilder sind nach Sujets zu Serien gruppiert. Diese heissen dann lapidar «Stadt», «Wasser», «Berge», «Frost», «Weisse Blumen», «Rote Blumen». Landschaften und Städte sind nie verortet, die Bilder dokumentieren nichts. Oft sind sie unscharf, durch schmutzige Fenster fotografiert, von Staubwolken oder Nebelfetzen verschleiert, die Farben mit digitaler Bearbeitung ausgebleicht, die Kontraste gedämpft. Die grossen schweren Bogen hängen ungerahmt direkt auf der Wand, als ob sie mitten im Bearbeitungsprozess mal eben zur Probe da plaziert worden seien. Sie tragen eine Atelier-Atmosphäre ins Museum und geben Zeugnis von ausdauerndem Handwerk und anspruchsvoller Technik.
Bilder ohne betrachtendes Subjekt
Höhepunkte dieses ebenso intellektuellen wie sinnlichen Gestaltens bietet die Serie «Berge». Der Blick trifft auf steile verschneite Hänge und schroffe Felspartien, er findet weder Übersicht noch Halt. Da ist nichts touristisch Schönes, keine erhabene Bergwelt. Der Schnee scheint nass und schwer, rutscht da und dort gefährlich in die Tiefe. Waldpartien zeichnen Ornamente von Stämmen und Geäst ins Weisse. Eine neblige Luft trübt da und dort die Sicht und lässt dann doch den nassen Fels im Bild so plastisch hervortreten, als könnte man seine Härte ertasten.
Der Ort des Betrachters bleibt unbestimmt. Man kommt als schauendes Subjekt nicht vor in diesen Bildern. Es gibt keinen Vordergrund. Das Teleobjektiv hat den virtuellen Beobachterpunkt ins Leere hinaus verlegt, irgendwo in der Luft vor dem Steilhang, mit dem man ohne festen Stand konfrontiert ist. Nicht Berge sind zu sehen, sondern rechteckige Ausschnitte aus Hängen, die sich der Senkrechten nähern. Das Bild an der Wand zeigt Wand. Seine Zweidimensionalität kommt der dreidimensionalen Landschaft nahe, und so ist es fast unmöglich, die Berge-Bilder nicht räumlich zu sehen, obschon das diffuse Licht sie nicht modelliert.
Mit den grossen Formaten, der ortlosen Perspektive, aber auch mit dem delikaten Spiel von Weichheit und Härte auf dem pastosen Weiss des Hahnemühlepapiers erzeugt Cécile Wick eine flirrende Interferenz von Realismus und Irrealität. Das Objekt des Objektivs, die Landschaft aus Schnee und Fels und Wald, entzieht sich der gegenständlichen Sicht. Das Abgebildete abstrahiert sich zur Szene ohne betrachtendes Subjekt, zum Sinneseindruck einer schroffen kalten Welt und schliesslich zur Komposition aus Schwarz, Grau und Weiss. Ein Hang zur Entgegenständlichung ist diesen Bildern eingeschrieben durch das betonte Vorzeigen ihrer Materialität, ihres Gemachtseins. Am Ende sind sie Objekte an der Wand, die augenscheinlich zum Betrachten da sind und zum Sinnieren auffordern.
Die Ausstellung «Canto oscuro» ist im Kunstzeughaus Rapperswil noch bis zum 5. Januar 2014 zu sehen.
Auf Cécile Wicks Website sind mehrere ihrer Werke in guten Abbildungen zu sehen.
Zusätzliche Einblicke gibt der Katalogtext der Ausstellung im Kunstmuseum Bern 2006.