Er ist in Deutschland so beliebt wie in der Schweiz der um eine Generation jüngere Albert Anker. Beide haben sie herzerwärmende Bilder einer grundguten kleinbürgerlichen Welt gemalt. Ankers und Spitzwegs breite Popularität gründen zweifellos im Idyllischen und Harmonischen, aber auch in einer liebevollen Figurendarstellung. Die gängige Wahrnehmung beider Künstler ist mit solcherlei Klischees behaftet und wird ihrer wahren Bedeutung kaum gerecht.
Carl Spitzweg (1808–1885) war bis zu seinem 25. Lebensjahr Apotheker. Diese gesicherte und angesehene Position gab er für den freiberuflichen Weg als Maler auf. Als Autodidakt schloss er sich einem Kreis junger Künstler an, die in Opposition zum erstarrten Akademismus sich der im herrschenden Kanon gering geachteten Landschaftsmalerei widmeten.
Leblose Starre prägte nicht nur die offizielle Kunstdoktrin. Europa versank in einer reaktionären Welle, welche die zivilrechtlichen Errungenschaften des Code Napoléon hinwegfegte und mit Repression und Pressezensur den autoritären Obrigkeitsstaat zementierte.
Milde Satiren
Kritik an den politischen Verhältnissen war mit Gefahr für Leib und Leben verbunden. Künstler und Literaten übten sich in der Kunst des Andeutens und im Glossieren von nicht ganz so heiklen Themen. Spitzweg kannte die Bildsatiren Grandvilles und Daumiers und deren «ätzende Wahrheit», wie er das nannte. Er selbst arbeitete von 1844 bis 1852 bei den «Fliegenden Blättern» mit, wo er besonders im Revolutionsjahr 1848 mit präzisen Karikaturen und Glossen in Erscheinung trat – wenn auch im Vergleich zu den französischen Vorbildern sehr vorsichtig und zurückhaltend.
«Der arme Poet», Spitzwegs weitaus bekanntestes Gemälde (Bild ganz oben), verdankt seine bis heute anhaltende Breitenwirkung gewiss nicht zuletzt seiner gutmütig-harmlosen Karikierung eines Poeten- und Künstler-Stereotyps. Eine Version des Bildes ist jetzt im Reinhart-Museum in Winterthur ausgestellt – im gleichen Haus, das auch die zweite grosse Ikone der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts beherbergt, Caspar David Friedrichs «Kreidefelsen auf Rügen» (1818). Von der romantischen Sichtweise dieser Malerei, die zum Absoluten strebt und das Ewige auslotet, ist der gegenüber Friedrich eine Generation jüngere Spitzweg Welten entfernt. Er richtet den Blick auf das Episodische, hat eine Vorliebe für das Skurrile und eine Neigung zum Karikieren. Häufig macht er die Bildräume eng, und wenn er einmal eine offene Landschaft malt, so lenkt er die Aufmerksamkeit gern auf eine kleine Szene darin.
Das Bild «Der Institutsspaziergang» ist das schöne Beispiel für eine solche weite Öffnung, die den Blick gleich wieder auf eine Geschichte fokussiert. Hier ist es die kleine Figurenszene des streng beaufsichtigten Spaziergangs und die darin steckenden episodischen Valeurs. Die Landschaft hingegen, die Spitzweg da gemalt hat, braucht sich vor denjenigen der grossen Niederländer aus dem 17. Jahrhundert nicht zu verstecken. Doch es scheint fast, als hätte er sich die Weite versagt. Bezeichnend dafür ist das Format des Stückes: Es ist im Grunde für sein Bildthema viel zu klein und wirkt wie die Miniaturausgabe des eigentlich gemeinten Bildes.
Es lohnt sich, die von den zwei Nonnen spazieren geführte Kindergruppe genau zu betrachten. Eines der Mädchen pflückt Blumen am Wegrand und hat schon Blickkontakt mit den im Schatten lagernden Landleuten. Schlimmer noch gerät die Disziplin ins Wanken durch die Neugier, die das sich vom Weg entfernende Liebespaar bei einzelnen in der Gruppe auslöst. Nicht nur das Mädchen vorn mit dem Sonnenschirm, sondern auch zwei Kameradinnen in der hintersten Reihe haben sich von der verordneten frommen Kontemplation ablenken lassen. Das Thema der kontrollierenden Autorität taucht vielfach auf in Spitzwegs Malerei. Immer wieder karikiert er die allgegenwärtige Aufpasserei und Anpasserei.
Wegschauen und hinschauen
Spitzwegs Geburtsort München wurde in der Zeit der Regentschaft König Ludwigs I. von Bayern (1828–1845) zur prachtvollen Residenzstadt ausgebaut und erwarb sich den Ruf einer Kunstmetropole von Weltrang. Dieser grossstädtische Glanz kommt in Spitzwegs Stadtszenen nicht vor. Er malte mittelalterliche Szenerien mit engen Gassen und Menschen in Kostümen des vorangegangenen Jahrhunderts.
War Spitzweg ein Eskapist? Hat er vor staatlicher Repression, vor der Verarmung des Industrieproletariats und vor den deutschen Kriegen seiner Zeit einfach die Augen verschlossen und Bilder einer heilen Welt produziert? Ist er der Kleinmeister des Biedermeier, der Maler des Rückzugs aus dem Politischen und der grossen Welt, der Schöpfer putziger Szenen und Urheber gutmütiger Karikaturen?
Die Winterthurer Ausstellung zeigt ihn zwar auch so, macht aber zugleich deutlich, dass Spitzweg doch wesentlich mehr zu bieten hat als nette Harmlosigkeiten. Zum einen finden sich Bilder mit erstaunlich deutlichen Spitzen gegen Krieg und Obrigkeit. Da ist «Der Stelzfuss» mit dem allein auf weiter Flur sitzenden einbeinigen Soldaten, der sein Gewehr an eine Hütte gelehnt hat und strickt. Richtig giftig sodann «Der Besuch des Landesvaters» mit der an spärlich Spalier stehenden Untertanen vorbeifahrenden königlichen Kutsche, auf der wie ein Hampelmann hinten ein Uniformierter steht – ein kurzer Spuk, der das Leben in dem Städtchen kaum berührt.
Hinwendung zur Landschaft
Die mit über siebzig Arbeiten gut bestückte Ausstellung ist geeignet, manches Spitzweg-Klischee zu korrigieren. So zeigt sie ihn als bedeutenden Landschaftsmaler – und das ist vielleicht die eigentliche Entdeckung dieser Schau. Spitzweg war ein weitgereister Künstler und über die Entwicklungen der damaligen Malerei gut im Bild. Er stand persönlich in Verbindung mit der École de Barbizon, einer Gruppe französischer Maler, die aus den Zwängen der akademischen Kunst ausbrachen, mit Pleinair-Malerei experimentierten und durch ihre Paysages intimes zu den Wegbereitern des Impressionismus wurden.
Eine ähnliche Befreiung aus Konventionen der Malkunst stand auch am Ursprung von Spitzwegs künstlerischer Karriere, und sie hat sich sowohl in seiner generellen malerischen Behandlung des Landschaftlichen wie bei eigentlichen Landschaftsstücken stetig entwickelt. Mit dem Bild «Irrlichter» zeigt die Ausstellung ein Werk, das sich auf dem Niveau eines Corot oder eines Courbet bewegt. An solchen Stücken ist nichts Biedermeierliches mehr, da nimmt sich der Maler auch nicht zurück mit harmlosen Ironie-Signalen, sondern da ist Spitzweg ganz der die Möglichkeiten bildnerischen Darstellens auslotende Künstler.
Das überragende Gemälde in der Winterthurer Spitzweg-Schau – diese persönliche Wertung nimmt sich der Berichterstatter heraus – ist nicht dasjenige mit dem skurrilen Poeten in seiner undichten Dachkammer, sondern das Bild eines anderen mit einem Schirm bewehrten Kunstschaffenden: «Der Maler im Garten», eines der sich im Besitz des Reinhart-Museums befindenden Spitzweg-Werke.
Moderne Bildauffassung
Spitzweg führt mit dieser Bildanordnung eine komplexe Regie. Dass hier einer malt oder zeichnet, wissen wir nur vom Bildtitel. Eine Staffelei gibt es nicht, vielleicht ist ein Aquarell am Entstehen. Darauf wird zu sehen sein, was der Bildbetrachter auch sieht: eine Gartenszene. Spitzweg zeigt das, was auch er selbst tut, nämlich den Vorgang des Malens, mithin des Transformierens von Naturwahrnehmung in das Medium Gemälde. Dieses wiederum vermittelt dem Betrachter des Bildes eine Naturwahrnehmung, die allerdings überformt wird von der Wahrnehmung des Vermittlungsvorgangs, also der hier ausgeübten Kunst.
Spitzweg macht darauf aufmerksam, dass wir nicht einen Garten sehen, sondern einen gemalten Garten. Ein solches Kunstverständnis ist grundlegend modern. Er hat sich als Biedermeier-Künstler einerseits in den Begrenzungen seiner Epoche bewegt und andererseits dieselben hinter sich gelassen. – Genau dieses Paradox hat Kunst zu allen Zeiten ausgemacht.
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten: Carl Spitzweg, bis 2. August 2020; kuratiert von Andrea Lutz und David Schmidhauser; Katalog erschienen bei Hirmer