Es muss aufregend gewesen sein, damals, vor 325 Jahren, als sich die feine Gesellschaft Leipzigs für den Abend herausputzte, denn es gab etwas zu feiern: Im Mai 1693 konnte Leipzig sein bürgerliches Opernhaus eröffnen. Das war zu jener Zeit etwas ganz Neues. Oper fürs normale Volk. Kein Adelshof, der dahinter stand, kein König oder Kaiser, der es sich zu seinem Privatvergnügen leistete. Stattdessen konnte sich jeder eine Eintrittskarte kaufen und in die verführerische neue Welt der Oper eintauchen.
Leipzig war weltweit der dritte Ort, an dem das möglich war. Das allererste öffentliche Opernhaus war 56 Jahre vorher in Venedig mit dem Teatro San Cassiano entstanden. Das hat sich natürlich in Musikkreisen herumgesprochen und 1678 wurde in Hamburg die zweite öffentlich zugängliche, bürgerliche Oper gegründet. Wiederum 15 Jahre später folgte die Oper Leipzig.
Italienischer Architekt
Als Architekten holte man sich Girolamo Sartorio, einen Venezianer. Sartorio errichtete den klassizistischen Bau am Brühl in der Rekordzeit von vier Monaten. Stilistisch war Sartorio vom grossen Vorbild Palladio geprägt und als Baumeister sehr gefragt.
Am Eröffnungsabend der Leipziger Oper stand «Alceste» auf dem Spielplan, ein Werk des Hofkapellmeisters Nicolaus Adam Strungk. Der Text stammte von Paul Thymich, der Lehrer an der Thomasschule war und damit ein Vorgänger von Johann Sebastian Bach. Praktischerweise sang Paul Thymichs Ehefrau gleich auch noch die Titelpartie der «Alceste».
Sartorio hatte damals auch von vornherein verschiedene Kulissen entworfen, also zum Beispiel einen Wald, eine Königshalle und einen Höllenrachen mit Flammen, die passend zum jeweiligen Stück eingesetzt werden konnten.
Telemann in Leipzig
Acht Jahre nach der Eröffnung erlebte die Oper Leipzig ihre erste Blütezeit. Georg Philipp Telemann, der damals als zwanzigjähriger Student an der Universität Leipzig Jura studierte, ging lieber seinen musikalischen Neigungen nach und übernahm die Leitung der Oper Leipzig. Er engagierte 40 Mitstudenten und gründete ein Orchester, das «collegium musicum», das auch in der Oper spielte. Telemann selbst wirkte ebenfalls mit, vor allem im Basso continuo, und trat als Sänger auf. Und vor allem: Telemann komponierte mehr als zwanzig Leipziger Opern, von denen allerdings nur «Germanicus» erhalten blieb.
Nach etwa vier Jahren verliess Telemann Leipzig, vermutlich auch wegen Spannungen zwischen ihm und dem städtischen Musikdirektor. Sein «collegium musicum» bestand allerdings weiter und trat später unter der Leitung von Johann Sebastian Bach als «Telemannisches collegium musicum“ auch im legendären Café Zimmermann auf.
Gespielt wurde in der Oper vor allem, wenn in Leipzig Messe war. Besonders gern hatte man auch Gastspiele italienischer Ensembles. Mit der Zeit kamen in Leipzig aber auch deutsche Singspiele in Mode.
Johann Sebastian Bach war 1723 nach Leipzig gekommen. Da gab es die Oper bereits nicht mehr. Die hastige Bauzeit hatte dazu geführt, dass immer wieder nachgebessert werden musste. Darüber hinaus gab es finanzielle Schwierigkeiten und Söhne und Töchter der Gründer-Väter der Oper gerieten sich mehr und mehr in die Haare. 1719 war der Zustand der Oper so schlecht, dass die Stadt den maroden Bau aus Sicherheitsgründen abriss.
Vom Provisorium zum Komödienhaus
Um nicht ganz opernlos zu werden, errichtete man ein Provisorium, einen Holzbau.
Die Oberaufsicht hatte vorübergehend der Dresdner Hof. Man setzte als Leiter einen «Hofkomödianten» ein und gewährte sogar einige Vergünstigungen, so eine Art Subventionen, um auch ausserhalb der Messe-Zeiten den Betrieb aufrechterhalten zu können.
Nicht alle freilich standen dem fröhlichen Treiben auf der Bühne positiv gegenüber. Johann Christoph Gottsched, Philosoph, Kämpfer für die deutsche Sprache und Rektor der Uni Leipzig nörgelte: «Ich sehe überdas die Opera so an, wie sie ist: nämlich als Beförderung der Wollust und Verderberin guter Sitten.»
Dessen ungeachtet wurde 1766 ein neues «Komödienhaus» eröffnet. Als erstes wurde die Tragödie «Hermann» von Johann Elias Schlegel gespielt, traditionsgemäss gefolgt von einem Ballett und einer Komödie. Einer der Zuschauer war der Student Johann Wolfgang von Goethe, der die Aufführung wenig begeistert als «sehr trocken» in Erinnerung behielt.
Aber auch Griesgrame waren wieder zur Stelle. Insbesondere die theologische Fakultät der Universität bekämpfte das Theater, «weil dieses von den Studenten mehr angefüllt sei als Kirchen und Hörsäle der besten Professoren. Der Schaden, der hieraus unserer Academie zuwächst, ist grösser als wir in der Kürze anzeigen können». Der studierenden Jugend «werde Gelegenheit gegeben, viel Zeit unnütz zu verderben». Dem Opernbetrieb konnte diese Kritik freilich nichts anhaben.
Mozart in Leipzig …
Bereits ein Jahr nach der der Uraufführung in Wien wurde Mozarts «Entführung aus dem Serail» durch die italienische Truppe von Pasquale Bondini in einer autorisierten Aufführung in Leipzig gezeigt. Bondini war es auch, der Mozart 1786 beauftragte, den «Don Giovanni» zu komponieren. Bondinis Nachfolger, Domenico Guardasoni, führte den «Don Giovanni» dann in Leipzig auf. Ebenso «Le Nozze di Figaro». Es waren von Mozart persönlich beaufsichtigte Einstudierungen. Später kam «Cosi fan tutte» hinzu und die «Zauberflöte» erschien mit 15 Wiederholungen im Leipziger Spielplan.
Als Mozart am 12. Mai 1789 im Gewandhaus ein Konzert gab, wurde er gewissermassen ein Opfer des eigenen Erfolges: weil sein «Figaro» am gleichen Abend im Theater aufgeführt wurde, hatte Mozart weniger Besucher im eigenen Konzert … Künstlerpech.
1831 kam Albert Lorzing als Sänger, Schauspieler und Dirigent ans Leipziger Theater und komponierte neun Opern, von denen sechs in Leipzig uraufgeführt wurden.
Wagner in Leipzig …
Einen Meilenstein bedeutete das Jahr 1840. Damals ging das als «Grosses Concert» gegründete Orchester an die Stadt Leipzig über und spielt seither und bis heute als «Gewandhausorchester» in Kirchen, Konzerten – und in der Oper. Ein weiterer Meilenstein: Richard Wagner. Operndirektor Bernhard Rudolph Wirsing erkannte damals das Talent des aus Leipzig gebürtigen Richard Wagners, und war einer der Ersten, die Wagners Opern «Tannhäuser», «Lohengrin» und den «Fliegenden Holländer» auf die Bühne brachten.
1868 wurde schliesslich ein repräsentatives Haus mit 2000 Plätzen gebaut, das «Neue Theater» auf dem Augustusplatz. Leipzig bekam ein festes Schauspiel- und Opernensemble und erstmals einen Profi-Opernchor. Und zum ersten Mal wurde ein Theaterunternehmer verpflichtet, allen Ensemblemitgliedern ein festes Gehalt zu zahlen. Chef war ein opernversessener Jurist, unter dessen Leitung das Theater Glanzzeiten erlebte. Zur Eröffnung gab es Carl Maria von Webers «Jubel-Ouvertüre» und Goethes «Iphigenie».
1876 kam mit Angelo Neumann ein Operndirektor nach Leipzig, der sich stark auf Wagner konzentrierte. Neumann war selbst Tenor und zuvor an der Wiener Hofoper angestellt. In Leipzig trat er mit einem ungekürzten «Lohengrin» an, den er selbst dirigierte. Zwei Jahre später startete er mit dem «Rheingold» den ersten «Ring»-Zyklus ausserhalb von Bayreuth. Wagner zeigte sich begeistert und telegrafierte «Heil Leipzig, meiner Vaterstadt, die eine so kühne Theaterdirektion hat».
… und Mahler in Leipzig
1882 trat mit Max Staegemann ein neuer Intendant seinen Dienst in Leipzig an. Ihm gelang es, den jungen Gustav Mahler als zweiten Opern-Kapellmeister nach Leipzig zu holen. Mahler debütierte mit Wagners «Lohengrin» in Leipzig und komponierte die Mehrzahl der «Wunderhorn»-Lieder und die Erste Sinfonie. Mahlers «Siegfried»-Interpretation wurde in einer damaligen Rezension als «Wundertat eines jungen Kapellmeisters» bejubelt. Und Mahler selbst schrieb seinen Eltern: «Die Presse ist mir bereits sehr freundlich gesinnt. Beim Publikum habe ich mir meine Position erobert. Durch ‘Siegfried’ wird der Schlussstein gesetzt.» Wegen Auseinandersetzungen mit dem Ersten Kapellmeister Arthur Nikisch verliess Mahler Leipzig allerdings nach zwei Jahren wieder.
Schlechte Zeiten
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dann von den aufstrebenden Nazis überschattet. Der Intendant Gustav Brecher wurde wegen seiner jüdischen Herkunft abgesetzt. Zuvor hatte er 1930 noch Bertold Brechts «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» in Leipzig zur Uraufführung gebracht. «Das Haus tobte derart, dass man während des gesamten Stückschlusses buchstäblich nichts mehr zu hören bekam», steht im Bericht des Korrepetitors über die Uraufführung, und er fährt fort: «Brecher dirigierte die Oper kalkbleich zu Ende.» Draussen auf dem Platz standen unterdessen Mitglieder der NSDAP mit Fahnen und Plakaten. Der Zweite Weltkrieg kündigte sich an.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurden alle Leipziger Theater bei einem Luftangriff zerstört. Am Nachmittag des 3. Dezembers war noch Wagners «Walküre» mit dem Feuerzauber am Ende aufgeführt worden …
Als neuerliches Provisorium über das Kriegsende hinaus diente das Variete-Theater «Dreilinden». 1960 schliesslich wurde das «Neue Leipziger Opernhaus» auf dem Augustplatz zu DDR-Zeiten eingeweiht. Das Gewandhausorchester spielte Beethovens «Fünfte», David Oistrach trat mit dem Violinkonzert von Brahms auf. Am nächsten Tag eröffneten Wagners «Meistersinger» den Reigen der vielen Opern, die seither auf dieser Bühne gespielt wurden und werden …
1990, nach der «Wende», der friedlichen Revolution, die zuvor in Leipzig ihren Ursprung hatte, bekam die Oper Leipzig mit dem Dresdner Komponisten Udo Zimmermann einen engagierten, neuen Intendanten, der die Oper Leipzig auch musikalisch aufmöbelte und ins 21. Jahrhundert führte.
325 Jahre Operngeschichte. 325 Jahre auf und ab. 325 Jahre Bürgertheater. Und heute? Ein Opernhaus, das seinen Platz unter den grossen internationalen Häusern gefunden hat und sich im Juni selbst feiert – und feiern lässt. Mit einem gewissen Stolz führt man Wagners «Ring» auf und weist darauf hin, dass die Oper Leipzig weltweit die einzige ist, die alle Werke Wagners im aktuellen Repertoire hat. Ulf Schirmer, Intendant und Dirigent des Hauses, präsentiert ausserdem eine Neuinszenierung von Alban Bergs «Lulu», einen Klassiker der Moderne, der für Tradition und Innovation stehen soll. So wie es schon in den vergangenen 325 Jahren in Leipzig war.