«Kenntnisreich». Mit diesem Attribut will Andris Nelsons das Leipziger Publikum bei seiner kleinen Rede ganz ehrfurchtsvoll beschreiben, scheitert aber kläglich an der Aussprache, trotz mehrerer Anläufe … Dieses Wort will ihm – auf Deutsch – partout nicht gelingen. Anlass ist seine Amtseinführung als «Gewandhauskapellmeister» in Leipzig. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hat, ist im Alten Rathaus versammelt. Andris Nelsons schaut in die Runde, lächelt verschämt und meint, es sei wohl besser, wenn er dirigiere, statt zu sprechen … spontaner Applaus und herzliches Lachen branden ihm entgegen.
Umarmung
Andris Nelsons, derzeit einer der international umworbensten jüngeren Dirigenten, ist nun der 21. Kapellmeister des ehrwürdigen Gewandhausorchesters, das demnächst 275 Jahre alt wird. Unter Nelsons’ Vorgängern finden sich so prominente Namen wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Arthur Nikisch, Kurt Masur, Herbert Blomstedt und zuletzt Riccardo Chailly. Selbst Gustav Mahler war hier eine Zeitlang «Zweiter Dirigent». Nelsons’ Freude über dieses Orchester und an seinem neuen Posten ist gross und echt. Und dies beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. Leipzig hat ihn längst familiär integriert: Überall in der Stadt ist Nelsons auf Plakaten präsent, mit offenen Armen und strahlender Miene. «Andris» steht drauf. Das genügt. Leipzig ist per du mit Andris. Und Andris umarmt die Stadt.
Das Antrittskonzert am Abend wird live vom Fernsehen übertragen und ist programmatisch. Es beginnt mit der Uraufführung eines Auftragswerkes des Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher. Es folgt ein Violinkonzert von Alban Berg und als Höhepunkt Felix Mendelssohns 3. Sinfonie, «die Schottische», die vor 175 Jahren ebenfalls im Gewandhaus uraufgeführt wurde. «Es ist auch symbolisch gemeint. Wir wollen musikalisch in die Zukunft schauen und werfen einen Blick zurück auf das Meisterwerk eines Genies», so Nelsons. «Mendelssohn wollte ich unbedingt in diesem Konzert haben.»
Wie ein «Kapellmeister» sieht Nelsons nicht aus, wenn er vor dem Orchester steht. Kein Frack, sondern etwas Lockeres in Schwarz, etwas, in dem er sich gut bewegen kann. Denn dies tut er mit weit ausholenden Gesten, vornübergebeugt, immer ganz nah bei seinem Orchester. Mit der Linken hält er sich manchmal an der Stange des Dirigentenpodests fest. Als Zuschauer ist man froh. So kann er wenigstens nicht vornüberkippen.
Die Chemie stimmte von Anfang an
Nelsons und das Gewandhausorchester kennen sich seit 2011. Richard Strauss und Jean Sibelius standen damals auf dem Programm. «Ich kann mich noch gut erinnern, dass die Chemie von Anfang an stimmte», sagt Nelsons. «Ich war so fasziniert von dem Klang des Orchesters. Und das Orchester hat eine grosse Arbeitsethik, ist nicht pedantisch, aber sehr ernsthaft und diszipliniert.» Der Klang des Gewandhausorchesters bringt Nelsons regelrecht ins Schwärmen. Man könne das nicht als «deutschen Klang» bezeichnen, das sei ein «Leipziger Klang», ein ganz besonderer «Gewandhaus-Klang», der sich stark von anderen deutschen Orchestern unterscheide, sagt Nelsons. Satt und tiefgründig für Brahms, Wagner oder Bruckner einerseits. Andererseits besitze das Gewandhausorchester eine ganz eigene Klangfarbe für sehr transparente und intime kammermusikalische Momente. «Ich denke, die rühren stark aus der Musik von Mendelssohn und Bach her.»
Nelsons spricht lebhaft und voller Begeisterung über sein neues Orchester, das doch schon so alt ist. Und vor allem gross, mit 183 Mitgliedern. Das Orchester spielt nicht nur Konzerte, sondern bedient auch die Oper Leipzig, gleich gegenüber am Augustusplatz. Regelmässige Auftritte in der Thomaskirche gehören ebenfalls dazu. Ob Nelsons auch Oper dirigieren wird, weiss er noch nicht, aber er ist schon mal in Kontakt mit dem Intendanten. «Oper ist etwas Wunderbares. Wenn Orchester, Solisten, Chor und Regie grossartig zusammenpassen, ist es doch die höchste Form von Kunst!» Aber speziell in Leipzig schwebt ihm noch etwas anderes vor: die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. «Ich habe sie als Trompetenstudent gespielt und auch gesungen, aber dirigiert nur ein einziges Mal. Die h-Moll-Messe als Gewandhauskapellmeister in der Thomaskirche aufzuführen ist mein persönlicher Traum.»
183 Orchestermitglieder – das ist für den neuen Chef auch eine Herausforderung in Sachen Namen … «Ich übe noch», sagt Nelsons. «Ich will auf jeden Fall die Namen der Musiker lernen, aber erst wenn ich alle Namen kenne, werde ich sie bei den Proben auch benutzen. Ich kann ja nicht gut sagen: ‘Herr Meier, das ist wunderbar, aber die dritte Flöte muss sich mehr Mühe geben …’ In Boston kenne ich praktisch jeden namentlich.»
Gemeinsamkeiten zwischen Leipzig und Boston
Boston, ja, dort hat Andris Nelsons ebenfalls ein Orchester. Seit 2014 ist er Chef des Boston Symphony Orchestra, eines der «Big Five», also der fünf besten amerikanischen Orchester. Andris Nelsons findet die Kombination geradezu ideal. «Beide Orchester haben eine lange Tradition und Geschichte», so Nelsons. «Und es gibt auch ganz spezielle Gemeinsamkeiten: Die Boston Symphony Hall ist quasi eine Kopie des Leipziger Gewandhauses, das im Krieg zerstört wurde und eines der besten Konzerthäuser der USA. Hinzu kommt, dass Arthur Nikisch ebenfalls schon Dirigent beider Orchester war. Ausserdem wurden in beiden Orchestern seit jeher viele Uraufführungen gespielt.» Die Programme in Boston und in Leipzig will Nelsons unterschiedlich gestalten. «Ein Grund dafür ist auch die Zusammenarbeit beider Orchester mit ‘Deutsche Grammophon’. In Leipzig nehmen wir Bruckner auf, Wagner, Brahms, Mendelssohn und Schumann. Mahler möchte ich dagegen mit den Bostonern einspielen. Beide Orchester sind grossartig, aber der Klang ist unterschiedlich.»
Der Klang. Immer wieder fällt dieses Stichwort. Als Chefdirigent zweier unterschiedlicher Klangkörper ist eines klar für Nelsons: «Ich denke, meine Aufgabe besteht nicht darin, den Klang eines Orchesters zu ändern, sondern eher die Stärken des jeweiligen Orchesters zu nutzen. Der Klang des Gewandhausorchesters beruht auf der Weitergabe des Wissens und Könnens über 275 Jahre von einem Musiker auf den anderen – da würde ich es schon gar nicht schaffen, den Klang zu verändern, selbst wenn ich wollte …! Die Aufgabe des Dirigenten besteht doch – neben dem Dirigieren natürlich – aus guter Vorbereitung und aus Kommunikation mit den Musikern, ebenso wie mit dem Publikum. Es ist wichtig, die Leute davon zu überzeugen, ins Konzert zu kommen. Ein Beispiel dafür war Leonard Bernstein, er war nicht nur ein grosser Dirigent und Komponist, sondern auch ein begnadeter Kommunikator. Das Publikum fühlte sich angesprochen.» Und Andris Nelsons? Ist er auch ein guter Kommunikator? «Oh, ich versuche es … eigentlich bin ich schüchtern, aber wenn ich dirigiere oder über Musik spreche, dann geniesse ich es.»
Trompete statt Yoga
Und noch etwas geniesst er: seine Trompete. «Seit 16 Jahren habe ich nicht mehr gespielt, aber dann schenkte mir Hakan Hardenberger eine Trompete, er ist nicht nur ein grossartiger Trompeter, sondern auch ein Freund und er gibt mir Unterricht. Wegen des Atmens ist das Trompetespielen für mich wie Yoga. Ich denke, es ist wichtig für einen Dirigenten, auch selbst wieder einmal direkt mit dem Instrumentalklang verbunden zu sein. Heute kommen die meisten Dirigenten von einem Streichinstrument oder vom Piano her, nicht von einem Blasinstrument. Aber es ist wichtig, zu wissen, wieviel Zeit man braucht, um erst einmal Luft zu holen. Manchmal muss man den Musikern einfach mehr Zeit geben …»
ANDRIS NELSONS, 1978 als Sohn einer musikalischen Familie in Riga/Lettland geboren. Klavier- und Trompetenunterricht als Kind. Als Teenager erste Erfahrungen im Orchester der Lettischen Nationaloper, dann als Dirigent unter der Anleitung von Mariss Jansons. Studium am Konservatorium Sankt Petersburg, mit 24 Jahren Chefdirigent der Lettischen Nationaloper. Seine internationale Karriere führte ihn schnell als Gastdirigent nach England, Deutschland, Wien und in die USA. Er wurde Chefdirigent beim Birmingham Symphony Orchestra. Anschliessend seit 2014 Chefdirigent beim Boston Symphony Orchestra und seit Februar 2018 zusätzlich Gewandhauskapellmeister in Leipzig.
Von der Trompete, die sozusagen sein Yoga-Ersatz ist, ist es nur ein Schritt zum Sport. Seine agile Wendigkeit vor dem Orchester lässt auch auf sportliche Tätigkeit schliessen. «Sport? Tja, das sollte ich wohl wieder machen …», sagt er und zieht den Bauch vielsagend ein … «Früher, im Alter so zwischen 11 und 22, da habe ich Kampfsport gemacht, Taekwondo. Man lernt dabei, sich zu konzentrieren und mit schwierigen Situationen umzugehen.» Heute verfolgt Nelsons stattdessen als Zuschauer Fussball und ist schon bestens vertraut mit dem RB Leipzig, der leider gerade gegen Neapel verloren hat. «Als ich in Boston anfing, bin ich auch zum football gegangen und habe überhaupt nicht kapiert, was die da spielen, es war American football, die Leute rings um mich haben applaudiert oder buh gerufen und ich hatte keine Ahnung warum. Bei Basketball kenne ich wenigstens die Regeln, und Boston ist momentan das beste Team in der Liga. In Leipzig will ich auch Fussball ansehen. Leipzig ist so gut!»
An erster Stelle steht für ihn allerdings jetzt erst einmal ein anderes Team, jenes des Gewandhausorchesters. Nelsons möchte die menschlichen und musikalischen Beziehungen festigen und schon im April und Mai geht er mit dem Gewandhausorchester auf Europatournee. Die Schweiz steht allerdings nicht auf dem Tourplan. «Wir kommen nächstes Jahr nach Luzern», sagt Nelsons. Diesen Sommer wird er zunächst mit dem Boston Symphony Orchestra am Lucerne Festival auftreten.
Bedauert er, dass aus der Beziehung zum Lucerne Festival Orchestra keine feste Bindung geworden ist? «Naja, drei Orchester wären ja zu viel», wehrt er ab. Trotzdem: lange Zeit galt Nelsons als Favorit und alle rechneten mit ihm als Nachfolger Claudio Abbados. Er selbst wohl auch...? «Hmmm, well …», meint er nur wortkarg und lacht.
Statt Nelsons folgte Riccardo Chailly auf Claudio Abbado. Und Nelsons ist Nachfolger von Riccardo Chailly in Leipzig …
Wenn Andris Nelsons von nun an als Kapellmeister im Gewandhaus auftritt, ist es für ihn jedes Mal ein Glücksmoment. Das sieht man ihm auch an, wenn er strahlend und voller Energie aufs Podest springt. Vor sich hat er eines der besten Orchester der Welt. Hinter sich ein «kenntnisreiches» Publikum – wie er schon bei seinem Amtsantritt zu betonen versucht hat – das ihn längst ins Herz geschlossen hat.