Und das kam so.
16 junge Musiker, alle so um die 27 Jahre alt, und 16 Leipziger Kaufleute hatten sich am 11. März 1743 in Leipzig am Brühl im Gasthaus «Zu den drey Schwanen» versammelt, um eine Gesellschaft für «grosse musicalische Concerte» zu gründen. Die Nicht-Musiker zahlten einen hohen Jahresbeitrag, um die Musiker zu honorieren, und sie rekrutierten aus ihren Kaufmanns-Kreisen ein aussermusikalisches Management für das «Leipziger Concert», so der Name des Unternehmens. Das war neu. So etwas gab es damals noch nicht. Kein Königshof und kein Fürstenhaus stand dahinter, sondern Bürger der Handels- und Universitätsstadt Leipzig.
Vorausgegangen waren lange Jahre zuvor drei «Kunstpfeifer», die 1479 offiziell in den städtischen Dienst aufgenommen worden waren, um im Rathaus, in den Kirchen und im Theater Musik zu machen. Aus dem Trio wurden sieben Musiker, aber erst 1743 entstand dank der Initiative der jungen Leute mit dem «Leipziger Concert» ein professionelles Orchester. Dieses spielte in Bürgerhäusern und weiterhin im Gasthaus «Zu den drey Schwanen». Regelmässig wurde nun unter der Bezeichnung «Grosses Concert» musiziert.
Die feine Gesellschaft traf sich hier und nach rund dreissig Jahren konnten die «Grossen Concerte» an einem neuen Ort stattfinden. Auf Initiative des Bürgermeisters wurde das Dachgeschoss des «Gewandhauses» ausgebaut, das die Tuchmacher zur Verfügung stellten. 1781 fand hier das erste «Gewandhauskonzert» statt. Das Orchester war mittlerweile auf 32 Mann erweitert worden und acht Jahre später trat auch Wolfgang Amadeus Mozart als Pianist im Gewandhaus auf und dirigierte eigene Werke.
Bach, Mendelssohn, Mahler…
Und nun stehen wir hier in Leipzig. 275 Jahre nach der Gründung dieses ganz speziellen Orchesters mit seiner bewegenden und bewegten Vergangenheit. Treffpunkt «Weinstock» am Marktplatz. Es ist eisig kalt mit einem zügigen Wind aus Sibirien. Aber der Himmel ist tiefblau, die Sonne strahlt. Eberhard Spree, Kontrabassist des Gewandhausorchesters, hat eine Handvoll internationale Journalisten um sich versammelt, darunter eine Frau vom Kulturradio Riga, ein Redaktor von El Pais, und die Journalistin vom Journal21. Wir ziehen die Mütze tief ins Gesicht und binden den Schal noch etwas enger um den Hals.
Das Gasthaus «Zu den drey Schwanen» gibt es heute nicht mehr, aber wir gehen durch «Höfe» und «Passagen», die für Leipzig typisch sind. Hier gab es einen Verlag für Noten, dort einen Instrumentenbauer, und dann stehen wir vor einem Bach-Denkmal. Nicht das bekannte, das überall abgebildet wird, sondern vor dem «echten», dem «ersten». Weil es immer noch Winter ist, steckt das Denkmal unter einem Holzverschlag. «Schade», sagt Eberhard Spree, aber wir alle haben Verständnis für die Schutzumhüllung. «Felix Mendelssohn Bartholdy, vielleicht der berühmteste der mittlerweile 21 Gewandhauskapellmeister, hat dieses erste Monument zu Ehren von Bach gestiftet», erzählt Eberhard Spree. «Um das Geld zusammenzubringen, veranstaltete Mendelssohn drei Benefizkonzerte mit dem Gewandhausorchester.»
Gleich daneben erinnert eine Gedenktafel an Gustav Mahler, der in diesem Haus gelebt hatte, als er 1887 als Zweiter Kapellmeister des Gewandhausorchesters nach Leipzig kam. Mahler war damals 27 Jahre alt und litt unter der Knute seines Vorgesetzten, des legendären Gewandhauskapellmeisters Arthur Nikisch. Trotzdem konnte Mahler in Leipzig seine erste Sinfonie komponieren und durfte verschiedene Werke von Carl Maria von Weber oder von Richard Wagner aufführen.
Dunkler Klang und sehr dynamisch
Inzwischen stehen wir vor einem nüchternen Gebäude, einem ehemaligen Handelshaus. Wir treten ein, gehen die Treppe hoch und stehen vor einer vermauerten Tür. «Da ging es hoch in den alten Gewandhaussaal», sagt Kontrabassist Speer. Und er macht gleich einen Ausflug in die historische Vergangenheit, indem er eine Art Gewandhaus-Stammbaum ausrollt. «Mein Lehrer ist von einem Musiker ausgebildet worden, dessen Vater schon im Gewandhausorchester gespielt hat, und dessen Grossvater war Schüler eines Studenten von Johann Sebastian Bach.» Vielleicht war die Reihenfolge auch ein bisschen anders. So ganz genau konnten wir uns das nicht merken … egal.
Wichtig ist das Prinzip der Kontinuität. «So entstand der ganz spezielle Klang des Gewandhausorchesters», erklärt dazu Tobias Haupt. Er spielt Violine im Gewandhausorchester und ist gleichzeitig Orchestervorstand. «Wir sind ein altes Orchester. Man spürt, wenn ein Orchester kontinuierlich arbeitet, Da entwickeln sich klangliche Elemente, die man aufnimmt und weitergibt, wenn man selbst im Orchester mitspielt. Der Klang wird sozusagen vererbt. Wir haben einen eher dunklen Klang, und sehr dynamisch. Man sieht es schon daran, wie sich die Musiker bewegen.»
Zu diesem ganz typischen Leipziger Klang beigetragen hat wohl auch der Umstand, dass Leipzig als Teil der DDR jahrzehntelang von internationalen Strömungen im Konzertbetrieb abgeschnitten war und den eigenen Sound pur und ohne Verfremdung weiterpflegen konnte.
Von Uraufführung zu Uraufführung
Um aber auf die Geschichte zurückzukommen: In diesem ersten «Gewandhaus», dem kulturellen Mittelpunkt Leipzigs, entwickelte sich das Orchester im 18. und 19. Jahrhundert prächtig. Beethovens neun Sinfonien wurde hier zum ersten Mal als Zyklus aufgeführt und ab 1835 leitete Felix Mendelssohn Bartholdy das Gewandhausorchester als Kapellmeister. Mendelssohn setzte sich mit voller Energie ein. Einerseits brachte er eigene Werke zur Uraufführung, so etwa die «Schottische Sinfonie», andererseits spielte er Uraufführungen von Schubert und Schumann, liess Richard Wagner – auch er übrigens ein Leipziger – das Vorspiel zu «Meistersinger» zum ersten Mal dirigieren und holte Johannes Brahms nach Leipzig, der hier Uraufführungen eigener Werke selbst leitete.
Leipzig war längst zu einer der führenden Musikstädte geworden. 1884 wurde schliesslich das «Neue Gewandhaus» eröffnet, das Martin Gropius entworfen hatte. Ein prächtiges Gebäude, das schliesslich sogar Vorbild für die Boston Symphony Hall wurde.
Erstes Auslands-Gastspiel: in Bern
1916, mitten im ersten Weltkrieg, entschloss sich das Gewandhausorchester zu seinem ersten Auslands-Auftritt. Vorher hatte man sich strikt gegen Gastspiele ausgesprochen, «weil zu fürchten ist, dass unser berühmtes Orchester, das bisher nur edlen Zwecken gedient hat, durch Concertreisen auf den Standpunkt eines philharmonischen Orchesters in Berlin und derartiger Gewerbsunternehmungen herabsinken könnte», so die Bedenken der Orchester-Leitung. Hinzu kam noch eine andere Befürchtung: «Haben die Orchestermitglieder das Herumreisen einmal angefangen, so werden sie Gefallen an der Abwechslung finden und Wiederholung verlangen.»
Dann aber kam 1916 die Einladung in die Schweiz und man beurteilte das Gastspiel anders. Stadtobere und Gewandhausdirektion befanden nun, «dass es sich hier um eine hoch bedeutsame künstlerisch-culturelle Mission handelt», und bewilligten die erste Auslandreise des Gewandhausorchesters. Vermutlich sah man den Auftritt zu jener Zeit auch als opportun an, um während des Krieges ein möglichst positives Bild im Ausland abzugeben. Der Auftritt hatte also durchaus einen propagandistischen Hintergrund.
Das Leipziger Gewandhausorchester trat also in Bern auf. Gespielt wurde unter anderem die erste Symphonie von Brahms. «Die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen», schrieb der Schweizer Veranstalter anschliessend. 1918 fanden im Gegenzug Schweizer Musikwochen in Leipzig statt und der «Nebelspalter» berichtete launig:
Uns’re Schweizer Musikanten
Professores und Scholaren
Die heut längst nicht mehr verkannten
Nach der Seestadt Leipzig fahren,
Um den Leutchen dort zu zeigen,
Wie wir selber flöten, geigen.
Drittes Gewandhaus
Kaum war der erste Weltkrieg vorüber, stand schon der zweite an. Mit verheerenden Folgen auch für das Gewandhaus. Im Februar 1944 wurde das Gewandhaus bombardiert. Das Orchester spielte nach dem Krieg jahrzehntelang zunächst in der Kongresshalle am Zoo. 1981 wurde endlich eine neue Spielstätte eingeweiht, die nun zum zweiten Mal wieder «Neues Gewandhaus» hiess, aber schon das dritte Gewandhaus war. Es war der erste und einzige Konzerthausneubau der DDR. Zu verdanken war dies Kurt Masur, der damals Gewandhauskapellmeister war.
Dort, am Augustusplatz, wird nun in diesen Tagen gefeiert. Es ist eine langjährige und ereignisreiche Geschichte, die hinter dem Orchester steht, bewegend und bewegt. Der neue Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, der erst seit zwei Wochen in seinem Amt ist, gibt aus diesem Anlass verschiedene «Grosse Concerte». Der altmodische Begriff und die Schreibweise wird im Gewandhaus auch heute noch verwendet.
Andris Nelsons ist nun der 21. «Gewandhauskapellmeister» und er sieht es als grosse Ehre an, diesen ebenfalls etwas altmodischen Titel zu tragen, wie vor ihm nicht nur Felix Mendelssohn Bartholdy, sondern auch so namhafte Dirigenten wie Bruno Walter, Herbert Blomstedt, Wilhelm Furtwängler, Kurt Masur (der sich auch tatkräftig für die Befreiungsbewegung in der DDR eingesetzt hatte) und zuletzt Riccardo Chailly. Sie alle haben dieses Gewandhausorchester geprägt. Heute ist es mit 185 Musikern eines der grössten Orchester und spielt nicht nur im Gewandhaus, sondern führt auch in der Thomaskirche Bach-Kantaten auf und fungiert in der Oper Leipzig als Opernorchester. Manchmal alles am gleichen Tag.
Am 11. März, dem grossen Festtag, wird Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons die Uraufführung eines Werkes von Jörg Widman dirigieren und damit die langjährige Uraufführungstradition des Orchesters fortsetzen. Nelsons wird aber auch Anton Bruckner die Reverenz erweisen mit der 7. Sinfonie, die 1884 ebenfalls in Leipzig vom Gewandhausorchester uraufgeführt wurde. Damals unter Nelsons Vorgänger Arthur Nikisch.